Kapitel 9: Ema & Juli – Gefühlschaos & eine gelungene Mission
Ich saß draußen in unserem Hof unter dem schönen hohen Baum direkt in der Mitte. Mein bester Freund Juli saß neben mir im weichen Gras und blinzelte mit seinen dunklen Knopfaugen zu mir nach oben.
Gleichzeitig war ich überglücklich und ein stürmisches Gefühlschaos wütete in mir. In den letzten Wochen war wieder einiges vorgefallen und ich begann immer mehr, auf meine eigene kleine innere Stimme zu hören. Meine selbstauferlegte Mission, meine Brüder glücklich zu machen war ein voller Erfolg gewesen, allerdings hatte das auch einige Folgen gehabt. Damit hatte ich natürlich gerechnet, aber einiges steckte ich nun mal besser weg, als andere Dinge.
Subaru und Iori hatten angekündigt, in den Semesterferien nach Hause zu kommen und hielten stetigen Mail und Telefonkontakt mit der Familie. Mit Kaname tauschte ich weiterhin Briefe aus, Masaomi begegnete ich regelmäßig im Krankenhaus und brachte ihm ab und zu Mittagessen mit. Außerdem unterhielten wir uns öfter über Fuuto. Genau wie Wataru und ich, mit dem ich mehr Zeit verbrachte und der mich sogar auf das Fest seiner Schule einlud, damit er mich seinen Klassenkameraden als Schwester vorstellen konnte. Ukyo hatte damit begonnen, mich noch etwas mehr in die Hausarbeit zu integrieren und sich auf mich zu verlassen, Hikaru betrachtete mich immer noch als interessantes Studienobjekt, von dem man Romanideen ableiten konnte und Rui machte mir öfter die Haare und stand mir mit Rat und Tat zur Seite.
Was Yusuke anging, verbrachte ich mit ihm eigentlich die meiste Zeit von allen. Wir klebten quasi aneinander, was teilweise den Klausuren und Hausaufgaben geschuldet war und teilweise der Tatsache, dass wir beide nicht sehr gut darin waren, Freundschaften zu knüpfen. Wir hielten uns auf der Uni aneinander, was niemand komisch fand, weil mittlerweile alle wussten, dass wir Stiefgeschwister waren und weil wir die meisten Kurse zusammen belegten. Zu Hause oder in der Bücherei erledigten wir unsere Hausarbeiten oder lernten, wenn Prüfungen anstanden. Dabei entwickelten wir ein ziemlich gutes Verhältnis zueinander und Yusuke schien mir gegenüber immer mehr aufzutauen. Er scheute sich nicht mehr, mich um Hilfe zu fragen und sein Ton war nicht mehr so bemüht freundlich, sondern locker und freundschaftlich.
So weit zu den Konsequenzen, über die ich nicht groß nachdachte und die mich eigentlich einfach bloß freuten. Bei den Drillingen und Fuuto waren die Reaktionen etwas heftiger ausgefallen, als gedacht. Zumindest als ich es mir gedacht hätte, aber das bewies ja nur, dass ich immer noch nicht über meine Naivität hinweg kam.
Tsubaki und Azusa banden mich immer mehr in ihre Proben mit ein, was natürlich auch zur Folge hatte, dass ich öfter mit einem von ihnen allein war. Während der Weißhaarige versuchte, sich kleine Momente mit mir zu stehlen, in denen er mich in verzwickte Situationen bringen konnte, indem er versuchte mir nahe zu sein, entschied sich sein Zwilling dafür, mich in ein schickes Restaurant auszuführen und ein ernstes Gespräch mit mir zu führen. Um mir zu danken und um mir seine Zuneigung zu zeigen, schenkte er mir ein wunderschönes silbernes Armband mit vielen kleinen Anhängern. Ruhig und gefasst erklärte er mir, dass er mir dafür sehr dankbar war, wie ich mir über die ganze Situation Gedanken machte und dass die gemeinsame Zeit mit mir ihm sehr viel bedeutete. Wie schon zuvor auf dem Dach des Krankenhauses, in dem er gelegen hatte, gestand er mir erneut seine Gefühle und gab mir dieses Mal einen leichten Kuss auf die Lippen. Genau wie sein Bruder wusste er, dass etwas im Begriff war sich zu verändern und ebenso wie Tsubaki bat er mich, darüber nachzudenken, ob nicht vielleicht er derjenige sein könnte, der mich auf meinem neu eingeschlagenen Weg begleitete. Es verschlug mir beinahe die Sprache, wie erwachsen Azusa eigentlich war. Er war ein Ruhepol, beinahe wie Masaomi. Obwohl ihm das Gespräch sicher nicht leicht gefallen war, hatte ich kaum etwas von seiner Nervosität gespürt.
Bei dem Orangehaarigen sah das etwas anders aus, als er mich an einem Samstag in seiner Wohnung erwartet hatte. Es war ein freier Samstag für ihn gewesen, was ich nicht gewusst hatte und ihm wie immer sein Essen vorbeibringen wollte. Ich war erschrocken, als er mich plötzlich in der Küche überrascht hatte, aber Natsume hatte ich an seiner Mimik ablesen können, dass er sich genauso unwohl gefühlt haben musste. Eine Weile hatte betretene Stille geherrscht, bis es ihm scheinbar unangenehm geworden war und er sich geräuschvoll geräuspert hatte. Wir hatten uns über ein paar Spiele und über Subaru unterhalten, bis er endlich auf den Punkt gekommen war. Auch der Orangehaarige hatte sich bei mir dafür entschuldigt, dass er ein `schlechter´ großer Bruder war, weil er mir gegenüber mehr empfand. Irgendwie verstand ich einfach nicht, warum jeder das dringende Bedürfnis hatte, sich bei mir zu entschuldigen und genau das hatte ich auch ihm gesagt. Eigentlich war ich ja diejenige, die ebenfalls ein tierisch schlechtes Gewissen hatte. Dieses Gespräch hatte dann im weiteren Verlauf dazu geführt, dass Natsume mich in den Arm genommen hatte. Ursprünglich eigentlich um mich zu trösten und mir zu erklären, dass ich in letzter Zeit alles so toll hinbekam, aber dann küsste er mich ziemlich leidenschaftlich und alles war mal wieder aus dem Ruder gelaufen.
Als dann Fuuto von seiner Tour endlich zurückgekommen war, war schließlich das Chaos perfekt gewesen. Ständig war er um mich herum, was auch unseren Brüdern nicht verborgen blieb. Und er war streitlustiger als sonst. Er legte sich scheinbar absichtlich mit jedem außer mir an. Dann tauchte er abends in meinem Zimmer auf oder platzte generell dazwischen, wenn ich mit Yusuke am Lernen war. Sein gesamtes Verhalten war offensiv, ja beinahe aggressiv und anhänglich geworden. Mir hatte er in einer freien Minute bloß erklärt, er habe mir schließlich versprochen mehr er selbst zu sein, aber das hatte ich damit ganz sicher nicht gemeint. Fuuto hatte mir gesagt, er würde mich nicht hergeben, egal an wen und damit hatte er mich einfach stehen lassen.
Und dann war die große Bombe geplatzt. Der Superstar hatte über seinen Manager ein Jobangebot bekommen, das sein Leben verändern sollte. Eine Agentur in den USA hatte angefragt, ob er eine größere Filmrolle annehmen würde. Es war nicht die Hauptrolle, aber ein bekannter und beliebter Regisseur und die anderen Schauspieler waren allesamt schon international berühmt.
Der Braunhaarige hatte erst mit mir darüber sprechen wollen, bevor er es auch der Familie verkündete. Ich hatte ihn ermutigt, genau wie Subaru damals, als er nicht ans College wechseln wollte, um mich nicht zurückzulassen. Ich hatte ihm gesagt, dass er seine Träume auf keinen Fall für mich aufgeben sollte, dass ich mir wünschte, dass er glücklich wurde und alles erreichte, was er im Leben erreichen wollte und dass er meine vollste Unterstützung hatte. Aber mein Herz hatte mir dabei unwahrscheinlich wehgetan und ich hatte nicht verstanden, warum. Bei Subaru war es mir nicht so furchtbar schwer gefallen diese Worte zu sagen, aber bei Fuuto drohten sie mir die Kehle zuzuschnüren. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass er nicht nur die Stadt, sondern gleich das Land, ja sogar den Kontinent wechseln würde. Aber auch Iori hatte nichts anderes getan und ich war nicht so niedergeschlagen gewesen. Ich vermisste alle, die aus dem Haus waren, da gab es keine Ausnahme. Also warum hatte ich mich nicht für das Idol freuen können, wie meine Brüder? Wir hatten sogar eine kleine Familienfeier nach dieser Nachricht organisiert. Und ich hatte mich schlecht gefühlt, weil ich so deprimiert war und es mir selbst nicht erklären konnte.
Wahrscheinlich war das der Moment gewesen, in dem ich begonnen hatte mich zurückzuziehen, um mir über meine eigenen Gefühle klar zu werden. Weil ich endgültig realisiert hatte, dass sie bei einigen von meinen Brüdern weder besonders geschwisterlich waren noch waren sie irgendwie vergleichbar mit etwas anderem, das ich bisher gefühlt hatte. Ich liebte sie alle. Aber mir war schlagartig klar geworden, wie viele unterschiedliche Arten von Liebe es eigentlich gab. Sie alle auf einmal zu fühlen war überwältigend.
Masaomi und Ukyo waren für mich ein bisschen so, wie mein Dad. Sie waren die Erwachsenen in unserem Haus. Man konnte mit Problemen jeder Art zu ihnen kommen. Sie waren vernünftig und ruhig und sie gaben einem das Gefühl von Sicherheit. Man fühlte sich bei ihnen gut aufgehoben und verstanden und natürlich konnte man viel von ihnen lernen. Sie waren der Schutz, den die Familie brauchte und sie waren diejenigen, die alles am Laufen hielten. Durch sie konnte die Familie so gut zusammenhalten und funktionieren. Die beiden gaben allen das Gefühl, dass sie immer ein zu Hause haben würden, in das man zurückkehren konnte und das war gut und wichtig.
Auf Hikaru und Kaname konnte man sich immer verlassen. Sie gaben mir ihren Rat, wenn ich ihn am dringendsten benötigte, aber sie waren auf ihre Art und Weise auch speziell und undurchsichtig. Während Kaname gern flirtete und einen auf Playboy machte und man nur selten einen Blick hinter die Fassade werfen konnte, wirkte Hikaru so, als ob er alles wüsste, was in der Familie vorging und es mit größtem Interesse beobachtete, ohne sich wirklich einzumischen. Trotzdem war Kaname freundlich und sanftmütig und Hikaru half einem beinahe ohne dass man es wirklich merkte.
Auch Rui, Azusa und Iori waren ruhig, besonnen, ernst und ein bisschen zurückgezogen, wobei man das bei Azusa am wenigsten bemerkte, weil er immer seinen aufgedrehten Zwilling dabei hatte. Aber wenn man sie erst etwas näher kennenlernte und sich die Mühe machte, mit ihnen ins Gespräch zu kommen bemerkte man, wie verständnisvoll und liebevoll sie sein konnten. Sie waren gute Zuhörer und hatten immer eine Schulter zum Anlehnen und Ausweinen. Sie machten mir mit ihren eigenen Worten und Gefühlen immer neuen Mut und gaben mir ein warmes Gefühl der Geborgenheit. Natürlich konnte man nicht nur völlig ernste Gespräche mit ihnen führen, sondern auch Spaß mit ihnen haben. Und am meisten beeindruckte mich, wie sehr sie für das lebten, was sie taten. Rui liebte seinen Salon und freute sich, wann immer ein Familienmitglied seine Hilfe mit den Haaren benötigte. Azusa kniete sich sehr in seinen Job als Synchronsprecher hinein und nicht nur, weil er mit Tsubaki mithalten wollte, sondern weil er es gerne machte. Er überanstrengte sich sogar um seinen Rollen gerecht zu werden und manchmal musste man ihn in seinem Eifer bremsen. Und Iori liebte Blumen und arbeitete hart für sein Studium im Ausland. Sie waren gewissenhaft und engagiert und immer mit vollem Herzen dabei.
Natsume arbeitete auch sehr viel und verbrachte viel Zeit in der Firma. Er war ebenfalls einer derjenigen, die recht erwachsen und vernünftig wirkten, aber er hatte auch eine aufbrausende und leidenschaftliche Seite, ebenso wie Subaru, der sonst eher schüchtern wirkte. Die beiden liebten den Sport, aber während sich Natsume schließlich für einen Bürojob entschieden und darin sein Glück gefunden hatte, lebte Subaru seinen Traum, ein Profibasketballer zu werden. Die beiden hatten einen gewissen Ehrgeiz, aber man bekam auch das Gefühl, sich ein bisschen um sie kümmern zu müssen. Während Natsume über seine Arbeit das Essen vergaß, hatte Subaru verloren gewirkt, als er sich nicht hatte entscheiden können, ob er wirklich die Sunrise Residenz und mich für das College verlassen sollte. Aber alle beide hatten auch einen starken Beschützerinstinkt und vertraten ihre Gefühle mir gegenüber eisern und aufrichtig. Der Orangehaarige war es gewesen, der mich im Regen gesucht, gefunden und bei sich aufgenommen hatte, als ich von zu Hause weggelaufen war und der Basketballstar hatte sich sogar mit seinem älteren Bruder geprügelt, als er mich mit ihm zusammen gesehen hatte. Außerdem hatte Subaru immer wieder betont, dass er mir beweisen wolle, wie gut er werden könnte. Ich war nur froh gewesen, dass die beiden sich wieder vertragen hatten. Noch so eine schöne Eigenschaft. Die zwei machten Fehler in ihren heißblütigsten Momenten. Aber sie konnten sie zugeben und wiedergutmachen.
Wataru war vielleicht der einzige in der Familie, für den ich tatsächlich wie für einen kleinen Bruder empfand. Er war zwar etwas verwöhnt und es gewohnt, seinen Willen zu bekommen, also quengelte er auch mal, obwohl er schon in die Schule ging. Aber eigentlich war er sehr geradeheraus und ein wirklich lieber und netter Junge, der gut auf Masaomi hörte, Fuuto wie eine Gottheit verehrte und einfach sehr stolz auf seine älteren Geschwister und seine große Familie war. Er liebte seine Mutter und seine Geschwister und er hatte meinen Vater und mich von Anfang an vorbehaltlos in der Familie akzeptiert und sich gefreut, eine große Schwester zu bekommen. Der Rosahaarige war niedlich und anhänglich und stand genauso auf Videospiele, wie ich. Ich verbrachte gerne Zeit mit ihm, obwohl er so viel jünger war und er ging mir nicht eine Sekunde lang auf die Nerven.
Der rothaarige Yusuke war in unserer Familie derjenige, der als einziger in meinem Alter war. Er war für mich mittlerweile eher sowas wie ein bester Freund und Klassenkamerad geworden. Wir hingen in der Schule zusammen rum, machten Hausaufgaben und lernten zusammen. Eigentlich war er ziemlich scheu und wurde schnell verlegen, aber das versuchte er zu überspielen, in dem er laut wurde und herumpöbelte oder sich mit Fuuto anlegte, wenn der zu Hause war. Er war lustig und zwar schulisch nicht sehr begabt, aber dafür verbissen und stur. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, schaffte er es auch. Mit viel harter Arbeit. Ich hatte ihn endlich so weit, dass er auch Hilfe von mir annahm. Manchmal hatte Yusuke richtige Depriphasen, in denen er den Kopf hängen ließ. Dann versetzte ich ihm einen Schubs und er kam genauso schnell wieder auf die Füße. Wie ein Stehaufmännchen. Ihn würde wohl so schnell nichts aus seiner Bahn werfen.
Azusas und Natsumes Drillingsbruder Tsubaki war laut, frech und sarkastisch, hatte immer einen blöden Spruch auf den Lippen und grinste sein Koboldgrinsen. Er war ebenso leidenschaftlich wie Natsume es sein konnte und wurde schnell aufdringlich mir gegenüber. Aber er war auch sensibel, leicht verletzlich und nachdenklich. Und genau wie sein Zwilling Azusa hatte er eine ehrgeizige und gewissenhafte Seite, wenn es um seinen Job als Synchronsprecher ging. Beinahe war er schon perfektionistisch, wenn es um seine Rollen ging. All das machte ihn zu einem komplizierten, aber auch liebenswürdigen Charakter. Es war beinahe unmöglich, ihn nicht zu mögen, so sehr zog sein besonderer Charme einen in seinen Bann.
Der Komplizierteste aus unserer Familie war allerdings immer noch Fuuto. Das Superidol war der Zweitjüngste und war seinem Alter in manchen Dingen weit voraus. Er war selbständig, hatte ein ziemlich großes Selbstbewusstsein und wusste genau, was er von sich selbst erwartete. Sein Traum war es, Schauspieler zu werden und das hatte höchste Priorität, egal was er dafür tun musste. Dadurch, dass er so entschlossen und auf sich selbst gestellt wirkte, bemerkte man oft nicht, dass er eine Schutzmauer um sich herum aufgebaut hatte. Fuuto reagierte genervt, wenn man ihm zu nahe trat oder brach sinnlose Streitereien mit seinen Brüdern vom Zaun. Er erweckte den Eindruck, dass er nichts und niemanden in seinem Leben brauchte und wirkte dadurch oft arrogant und viel zu sehr von sich selbst überzeugt. Ich dagegen glaubte, dass es anders war. Alles bloß Fassade, um nicht zu zeigen, was für einen großen Preis er für sein Dasein als Popstar bezahlte. Das Leben als Idol konnte einsam sein. Ich war davon überzeugt, dass er nach Anerkennung suchte. Klar, er hatte seine Fans und so. Aber eigentlich wollte er bloß wahrgenommen und wertgeschätzt werden. Als Zweitjüngster arbeitete er genauso hart, wenn nicht auf seine Weise noch härter, als die anderen. Und kein Mensch war vor Selbstzweifeln sicher, so sehr man es auch zu verbergen versuchte. Wenn er nicht zu Hause war, fehlte einfach irgendetwas. Es war nicht dasselbe ohne ihn, obwohl er nur so selten da war. Und ich hatte erlebt, dass er auch ehrlich sein und Gefühle zeigen konnte. Vielleicht etwas zu stürmisch, da gab er sich allerdings mit Tsubaki nicht viel. Fuuto war genauso furchtbar aufdringlich. Aber bald hätte sich das ja wohl erledigt. Bald würde er nach Amerika gehen und die Familie verlassen. Ich würde ihn noch viel seltener zu Gesicht bekommen. Wieder spürte ich schmerzhafte Stiche in meiner Brust.
„Chii!", rief Juli aufgebracht und runzelte sorgenvoll die Stirn. Ich schreckte aus meinen tiefen Gedanken auf und sah zu ihm herab. Scheinbar hatte er mich schon mehrmals gerufen und ich hatte es gar nicht bemerkt. „Was ist los, Chii? Du siehst plötzlich so traurig aus"
Ich lehnte mich gegen den dicken Stamm des großen Baumes, unter dem wir saßen und seufzte. „Ich habe über viele Dinge nachgedacht. Was alles passiert ist in den letzten Wochen und wie es meine Gefühle beeinflusst hat"
Dem weiß grauen Eichhörnchen blieb vor Erstaunen der kleine Mund offen stehen. „Chii, du willst mir doch nicht wirklich erklären, dass du für diese Wüstlinge tatsächlich Gefühle entwickelt hast?" Juli wirkte empört. Ich stöhnte bloß.
„Juli, ehrlich. Wann hörst du endlich auf damit? Ich hatte von Anfang an Gefühle für sie und das weißt du auch. Nur sehe ich jetzt eben einige Dinge etwas anders als vorher", bemühte ich mich zu erklären. „Sie sind nicht so schlecht, wie du behauptest. Tatsächlich sind sie mir alle sehr wichtig. Und du bist das auch. Du bist mein bester Freund. Es wäre wirklich schön, wenn du sie mir zuliebe wenigstens akzeptieren könntest"
„Chii…" Juli wirkte bestürzt. Es war die erste Ansage, die er von mir in all den Jahren bekam, wurde mir klar. Er ließ die Ohren hängen. „Ich will dich doch nur beschützen"
„Ich weiß und das machst du schon immer großartig" Ich nahm ihn auf den Arm und drückte ihn an mich. „Aber weißt du, wir sind jetzt nicht mehr allein. Auch du könntest richtig zur Familie gehören und Freunde unter ihnen finden. Wie Rui zum Beispiel. Du musst sie bloß nehmen, wie sie sind. Alle haben ihre Macken, keiner ist perfekt und du musst ja auch nicht alle mögen. Aber vielleicht ein paar. Und vielleicht überrascht dich ja sogar der ein oder andere von ihnen positiv"
Juli sah weder besonders überzeugt noch besonders begeistert aus. Ich seufzte. Das würde wohl noch einige Überredungskunst meinerseits erfordern.
„Fuuto geht bald nach Amerika", sprach ich endlich aus, was mir schon seit seiner Verkündung durch den Kopf spukte. „Dann hast du noch ein Problem weniger" Wieso versuchte ich es bloß mit Galgenhumor?
„Mh", machte mein Freund missmutig. „Zugegeben, ich mag den kleinen Angeber nicht, aber es ist doch für ihn eine gute Chance. Soweit ich weiß entstehen die besten Filme doch dort oder nicht? Freust du dich für ihn?"
„Das sollte ich", sagte ich. „Aber ich kann nicht. Ich meine, nicht richtig. Klar ist es fantastisch, dass er jetzt eine echte Rolle als Schauspieler kriegen kann, aber…" Ich stockte. Wann genau hatte ich eigentlich erkannt, was das Ziehen in meiner Brust bedeutete? „… ich will nicht, dass er geht. Nicht endgültig. Nicht ohne dass er zwischendurch nach Hause kommt oder man ihn besuchen kann, wie die anderen", gestand ich.
Juli horchte auf und wand sich unbehaglich in meinem Arm. „Chii, hast du ihm das so gesagt?"
„Natürlich nicht. Ich habe ihm gesagt, er soll seine Träume leben und dass ich hinter ihm stehe, egal was passiert. Eigentlich meine ich das ja auch so. Aber es tut so weh" Eine einzelne Träne bahnte sich einen Weg über meine Wange und ich wischte sie fort. „Ich wusste nicht, dass ich so furchtbar egoistisch sein kann. Es ist komisch, dass ich mich wegen etwas so schlecht fühle, das eigentlich eine gute Nachricht ist"
„Ich wusste, dass dieser Tag kommen würde", seufzte mein kleiner Freund plötzlich theatralisch. „Und ich habe versucht es so lange zu vermeiden, wie möglich. Ich wusste, es würde dir wehtun. Chii, ich sage das wirklich nicht gern, aber du hast dich in diesen kleinen Perversling verliebt" Juli bemühte sich, nicht total angewidert das Gesicht zu verziehen, aber es kam bloß eine verkrampfte Grimasse dabei heraus.
Beinahe hätte ich protestiert, aber ich ließ es bleiben. Verliebt. Das Wort fühlte sich komisch an, war aber gleichzeitig die einzige Erklärung für mein irrationales Verhalten und für den Schmerz, den ich bei dem Gedanken empfand, dass das Idol die Familie verlassen würde. Wann war das bloß passiert? Ich konnte es nicht einmal sagen.
Von einer plötzlichen Intuition getrieben sprang ich auf und rannte zurück ins Haus, wobei ich einen verdutzten Juli zurückließ, der hinter mir herrief, was ich vorhätte.
Drinnen angekommen suchte ich nach Ukyo und fand ihn in seinem Arbeitszimmer. Als ich leise anklopfte, sah er auf und bat mich herein. „Ema, was kann ich für dich tun?" Seine freundlichen blauen Augen blickten interessiert.
„Ich wollte dich nach einem Auslandsstudium fragen. Meinst du mit meinem Studiengang wäre das möglich?", fragte ich vorsichtig.
Ukyo blinzelte überrascht. „Hast du dich von Iori inspirieren lassen? Nun es freut mich zu hören, dass du über deine berufliche Zukunft nachdenkst. In der Regel sollte das kein Problem sein. Der Papierkram ist recht aufwändig, aber da könnte ich dir weiterhelfen, ich kenne mich ein bisschen aus"
Etwas schuldbewusst ließ ich seine Aussage einfach mal so im Raum stehen. „Ich hätte nicht erwartet, dass ein Wechsel so einfach möglich wäre", gab ich stattdessen zu. Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte, ich hätte mit mehr Widerstand gerechnet.
Der Blonde lachte leise und sah mich belustigt an. „Nun ja, man sollte so einen Schritt natürlich gut überdenken und sich sehr sicher sein, worauf man sich einlässt. Auf keinen Fall sollte man überstürzt handeln. Aber man sollte sich auch nicht zu viele Sorgen machen, sonst legt man sich selbst Steine in den Weg. Ein Auslandsstudium ist meiner Meinung nach eine wirklich schöne Erfahrung, wenn man bereit ist, sein Nest dafür zu verlassen. Und vergiss nicht, dass du immer ein zu Hause hast, in das du zurückkehren kannst. Du verlierst nichts und bist abgesichert. Du könntest jederzeit abbrechen und zurückkommen"
Ich nickte wie in Trance. „Danke, Ukyo. Du hast mir wirklich geholfen"
Der Anwalt lächelte. „Immer wieder gern. Lass mich wissen, wenn es aktuell wird, dann helfe ich dir mit der Bürokratie und dabei, deinen Vater zu überzeugen" Er zwinkerte mir zu und ich lächelte freudig zurück, bevor ich sein Büro wieder verließ.
An diesem Abend lag ich lange auf meinem Bett und war tief in Gedanken versunken, bis mich ganz langsam der Schlaf überkam. Aber ich war nicht mehr traurig, sondern ein bisschen nervös.
