Kapitel 4
Ich glaubte noch immer zu träumen als ich wie von einer Tarantel gestochen von meiner Couch sprang. Direkt vor mir, mitten in meinem kleinen Zimmer stand ein Kerl mit weißen Haaren und grinste mich rotzfrech an.
Verdammt, wie um alles in der Welt war der denn hier rein gekommen? Eine Terrasse oder einen Balkon gab es ja nicht und ein schneller unauffälliger Blick zu meiner Haustür bestätigte mir, dass diese zumindest immer noch geschlossen und auf den ersten Blick unversehrt war.
Wer war der Kerl und was wollte er in meiner Wohnung? Mein erster Impuls war, an mein Telefon zu sprinten und die Polizei anzurufen, bis mir auffiel, dass der weißhaarige Typ genau genommen gar nicht in meinem Zimmer stand. Beim zweiten Mal hingucken berührten seine Füße in keinster Weise meinen Boden. Ich klappte den Mund auf, aber es kamen keine Laute heraus. Er schwebte…
Jetzt hatte ich den Beweis: das Ganze musste einfach ein Traum sein! Und dann bemerkte ich die leicht schimmernde mystische Aura, die ihn umgab und dazu die exotische Kleidung mit ihren knallbunten Farben und dem glänzenden Schmuck.
„Wer bist du?", fragte ich ihn misstrauisch, konnte aber meine faszinierten Blicke nicht verbergen.
Ein kurzes tiefes Lachen erfüllte den winzigen Raum und jagte mir einen Schauer über meinen Rücken.
„So misstrauisch", antwortete er bloß und in seiner Stimme schwang leichter Spott mit. Aber seine Augen blitzten, als hätte er etwas Unbezahlbares entdeckt.
„Ist das ein Traum?", fragte ich ziemlich geistreich und kam mir dabei total dämlich vor. Das Grinsen meines Gegenübers hatte etwas raubtierhaft Gefährliches an sich.
„Aber nicht doch, meine Heldin. Ich bin gekommen, um dir deinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen" Seine tiefe Stimme streichelte wie Samt über mich hinweg. Er war ja wirklich eine erstaunliche Erscheinung, das musste man ihm schon lassen.
„Meinen sehnlichsten Wunsch", wiederholte ich wie ein hypnotisiertes Schaf.
„Ich bin der Zauberer, der armen verlorenen Seelen ihre Herzenswünsche erfüllt", erklärte er betont heroisch.
Halluzinierte ich? Wow, ich sollte dringend mal zum Arzt. Vielleicht war mir ja der ganze Stress zu Kopf gestiegen, den ich in letzter Zeit gehabt hatte. Ein Zauberer, der Wünsche erfüllte? Magie? War ich etwa die heimliche Prinzessin eines verloren geglaubten Märchens? Und hatte er mich nicht „meine Heldin" genannt? Ich schüttelte langsam den Kopf, um meine Verwirrung loszuwerden, bis ganz plötzlich dieser sogenannte Zauberer direkt vor mir schwebend aufragte und mein Kinn mit seinen Fingern nach oben zwang. Dort begegnete ich seinem bohrenden Blick und ich hörte auf zu Blinzeln.
„Du siehst verwirrt aus", stellte er fest. Ich konnte Belustigung in seiner Stimme hören. „Warum erzählst du mir nicht deinen innigsten Wunsch?", flüsterte er leise und eindringlich.
Ich schauderte unter seinem Blick, unter seinen warmen Fingern auf meiner Haut und unter dieser gleichzeitig angenehmen und gefährlich anmutenden Stimme. Irgendwie traute ich der ganzen Sache nicht. Ich traute ihm nicht. Er war ja nicht mal menschlich, so wie ich das verstanden hatte. Warum sollte er also seine Magie aufwenden, um in der Welt umher zu reisen und armen, verzweifelten Leuten ihre Träume zu erfüllen? Einfach so aus reiner Nächstenliebe und Mitleid? Da hatte ich ja wirklich so meine Zweifel dran.
Ein weiteres leises Lachen drang aus seiner Kehle und er ließ aufreizend langsam mein Kinn wieder los. Ich stieß hörbar die Luft aus. Ich hatte nicht mal bemerkt, dass ich sie angehalten hatte.
„Du traust mir also nicht" Es war keine Frage. Konnte er etwa auch meine Gedanken lesen? „Nun, ich kann es dir nicht verübeln nicht wahr. Immerhin kennst du mich nicht" Der Zauberer schenkte mir eine Art überlegenen Blick, als wäre dieses Unwissen einseitig. „Ich muss dir wohl insofern Recht geben, dass ich einen Preis verlangen muss", räumte er schließlich theatralisch seufzend ein.
Na also, da hatten wir es doch mal wieder. „Du erfüllst Wünsche gegen Bezahlung?" Meine Stimme klang gekonnt neutral. Es lag kein Vorwurf darin, irgendwie war mir das ja schon klar gewesen.
Das schelmische Grinsen des Zauberers verschwand. Seine Miene wurde sehr ernst. „Wenn ich keinen Preis verlangen würde, könnte ich die Wünsche nicht erfüllen, so ist das mit meiner Magie"
Hörte sich ziemlich nach einem Teufelskreis an, aber das fand ich merkwürdig. War das für ihn denn kein Gewinn, wenn er für seine „Dienste" auch auf irgendeine Art belohnt wurde?
„Was verlangst du denn für einen Wunsch?", fragte ich ihn mit ehrlicher Neugierde. Ob man sich das überhaupt leisten konnte, sich seine Träume zu erfüllen?
Der Zauberer legte seinen Kopf schief und kam mir wieder etwas näher. Ein kleiner Teil seines neckischen Ausdrucks im Gesicht kehrte zurück.
„Jedenfalls nichts Materielles", antwortete er spielerisch.
Merkwürdigerweise musste ich an das Märchen von der kleinen Meerjungfrau denken, die ihre Stimme hingab, um ein Mensch werden zu können. Ich hatte immer noch Schwierigkeiten damit zu glauben, dass ich nicht bald aus einem tiefen Schlaf aufwachen würde. Es hörte sich einfach alles viel zu verlockend an. Man äußerte einen Wunsch und ein anderer kümmerte sich dann darum, ohne dass man selbst etwas dazu beitrug. Das war einfach nicht, wie das Leben funktionieren sollte.
„Um dir deinen Traum zu erfüllen, werde ich dir einen Teil deiner Erinnerungen nehmen", erklärte er so beiläufig, als ob es selbstverständlich wäre.
„Was?" Ich konnte mir den entsetzten Aufschrei einfach nicht verkneifen. „Das ist grausam!"
Seine Erinnerungen zu verlieren musste ganz furchtbar sein. Ich dachte an all die armen Menschen, die an Amnesie oder an Alzheimer litten und ihre Leben wohlmöglich in irgendwelchen Pflegeheimen fristen mussten.
„Erinnerungen bedeuten Emotionen", gab der Zauberer bemüht sachlich zurück, obwohl ich an seinem verkniffenen Ausdruck erkennen konnte, dass es ihm schwer fiel. „Aus einverleibten Emotionen beziehe ich meine Kraft. Ohne sie kann meine Magie nicht existieren"
Ich entspannte mich ein wenig. Also erfüllte er einen Wunsch, bekam dafür Erinnerungen und wandelte diese in neue Energie um, mit der er wieder Wünsche erfüllen konnte. Eine komische Form des Daseins. Und weniger profitabel für ihn selbst, als ich gedacht hatte. Er tat mir fast etwas leid.
„Also meine Liebe, was ist?" Herausfordernd blickte er auf mich herab, so siegessicher, als hätte ich gar keine Wahl.
Wie schon erwähnt, es klang verlockend und wie er schon hatte durchblicken lassen, nahmen wohl alle, die er besuchte sein Angebot auch an. Aber…
„Nein!", entschied ich streng. Trotzig verschränkte ich die Arme vor der Brust und schob das Kinn vor. „Wenn ich was will, dann bekomme ich das auch hin und zwar aus eigener Kraft! Ganz sicher werde ich nicht hier hocken und darauf warten, dass irgendein dahergelaufener Magier hier aufkreuzt und mir alles vor die Füße schmeißt. Und ganz sicher werde ich weder dir noch sonst jemandem meine Erinnerungen überlassen. Mein Herzenswunsch, meine Erinnerungen, meine Gefühle, das alles geht dich gar nichts an. Ich brauche deine Hilfe nicht. Und ich brauche dich nicht!"
Nach diesem Vortrag musste ich erstmal ordentlich nach Luft schnappen, baute mich aber trotzdem weiterhin selbstbewusst vor dem Zauberer auf. Der sah seinerseits aus, als hätte ich ihn geschlagen. Und dann fing er an sein tiefes, weiches Lachen zu lachen.
„Dann möchtest du lieber weiterhin leiden und mich noch etwas mehr belustigen?" Eine warme Hand strich zart über meine Wange und ich zuckte zum ersten Mal vor ihm zurück, als hätte die Berührung mich verbrannt.
„Ich leide nicht!", kam es wie aus der Pistole geschossen. Und kleinen Moment mal, ihn belustigen? Was bitte meinte er genau damit? Meine Empörung verwandelte sich wieder in die anfängliche Unsicherheit.
„Natürlich nicht, meine Heldin", lächelte der Zauberer. „Weißt du, ich beobachte dich schon seit einer langen Zeit. Zum ersten Mal bist du mir aufgefallen, da waren deine Eltern noch verheiratet. Aber genau in diesem Moment denke ich, hast du mir noch niemals besser gefallen."
