Kapitel 11

- Ein paar Jahre später -

Wie immer, wenn es für mich mal so richtig gut lief, ließ der neuerliche große Absturz allerdings nicht besonders lange auf sich warten. So perfekt sollte mein Leben vielleicht einfach nicht sein. Das war in meinem Schicksal wohl nicht vorgesehen.

Ich hatte gerade vor knapp eineinhalb Jahren mein Kunststudium mit Bestnoten abgeschlossen und befand mich als junge Künstlerin auf dem aufsteigenden Ast. In ein paar Wochen sollte ich mein Debüt mit meiner ersten Soloausstellung in einer mittelprächtigen, aber hübschen kleinen Galerie feiern und ich arbeitete wie eine Verrückte. Ich war so nervös, dass ich selbst bei meinen immer noch regelmäßig stattfindenden Dates mit Toya von nichts anderem mehr sprach.

Mittlerweile konnte ich mir auch eine eigene kleine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche und Bad leisten, in die er mir natürlich auch gefolgt war. Mao, Yui und Ran, die in der Zwischenzeit zu meinen drei besten Freundinnen geworden waren, würden ebenfalls auf meiner Ausstellung anwesend sein und danach würden wir meinen (hoffentlich) großen Erfolg zusammen feiern.

Ich saß also mit Toya im Park und freute mich so sehr, dass er natürlich sofort wieder seine merkwürdigen Kommentare über menschliche Emotionen losließ. Eigentlich hatte er sich längst daran gewöhnt und es hatte mich wirklich sehr viele Stunden des Erklärens gekostet, ihm beizubringen, dass man sich über negative Gefühle anderer Personen nicht freuen sollte, besonders dann nicht, wenn man besagte Person auch noch mochte. Aber er ärgerte mich immer noch gern, also machte ich brav mit und sah ihn gespielt ärgerlich an, worüber wir dann beide lachen mussten.

„Weiß du", setzte ich verträumt an. „Jetzt da du mir ganz offiziell nicht mehr so oft auf die Nerven gehst, denke ich kann ich es dir ja mal verraten…"

Toya blinzelte. „Du hast also doch Geheimnisse vor mir" Er grinste sein typisches Zauberer-Grinsen, das mein Herz schneller schlagen ließ. Ich kicherte verlegen, wurde aber sofort wieder ernst.

„Als du damals zu mir kamst, war ich ganz alleine. Ich hab mir eingeredet niemanden zu brauchen und mich zu einer starken Persönlichkeit zu entwickeln. Mein einziges Ziel war, es meiner Mutter so richtig zu zeigen, damit sie sich dafür schämt, wie sie all die Jahre mit mir umgegangen ist", erzählte ich weiter. „Dabei habe ich gar nicht bemerkt, dass ich trotzdem genauso weiter gelebt habe, als hätte ich sie nie verlassen. Ich hätte es mir selbst niemals eingestanden, aber ich war gestresst, unsicher und totunglücklich"

Toya begann neben mir auf seinem Platz nervös hin und her zu rutschen. War es ihm jetzt plötzlich unangenehm sich meine ehrlichen Gefühle anzuhören? Ich lächelte traurig. „Jetzt, wo ich mein Ziel endlich erreicht habe und fertig bin mit meinem Studium, habe ich gar keinen Gedanken mehr daran verschwendet, meine Mutter überhaupt zu informieren. Meine frühere Einstellung kommt mir ganz plötzlich so kindisch und ziemlich peinlich vor"

Erstaunt sah Toya mich an. „Du hast es ihr nicht gesagt?" Ich schüttelte nur den Kopf und starrte auf meine Hände. „Warum? Ist es nicht genau das, was du wolltest?"

Mein Blick heftete sich auf meinen Schoß. „Es war mein ursprüngliches Ziel, ja, aber ich denke du hast mir recht erfolgreich die Augen geöffnet. Deinetwegen habe ich gelernt lieber mein Leben zu genießen und nach vorne zu sehen, statt an der Vergangenheit festzuhalten. Ich bin jetzt offener und fröhlicher geworden und ich habe es auch dir zu verdanken, dass ich zum ersten Mal ein paar Freunde gefunden habe, die mich so mögen, wie ich bin. Dafür wollte ich mich ehrlich bei dir bedanken"

„So solltest du das nicht sehen", flüsterte Toya. Es klang gepresst. Nanu, seit wann war er denn plötzlich bescheiden?

„Aber es ist so", versicherte ich ihm. „Ich hätte Mao, Yui und Ran niemals kennengelernt, wenn ich nicht auf deinen Rat gehört hätte. Und weißt du was?" Ich holte tief Luft, um den nächsten schmerzvollen Satz über die Lippen zu bringen. „Ich schätze meiner Mutter wäre es egal. Selbst wenn ich Millionärin und die angesehenste Künstlerin der Welt werden würde, wäre ich ihr vermutlich egal. Weil Künstlerin für sie kein angesehener Beruf von gesellschaftlichem Wert ist. Und weil ich für sie immer nur eine Versagerin war. Wahrscheinlich würde sie meinen Erfolg belächeln und mit mehr Glück als Verstand rechtfertigen und mir sagen, ich hätte mal lieber Jura studieren und Anwältin werden sollen" Merkwürdigerweise fühlte ich mich deshalb aber nicht mehr schlecht. Ich lebte jetzt mein eigenes Leben, ohne meine Mutter. Und mittlerweile mochte ich dieses Leben sogar.

„Aika…" Toyas Stimme klang furchtbar gequält.

„Oh nein, es macht mir nichts mehr aus, ehrlich", entgegnete ich schnell, um ihn zu beruhigen, aber sein Gesichtsausdruck war wie versteinert. „Aika…", wiederholte er diesmal noch eindringlicher.

Ich nahm seine Hand und drückte sie. „Wirklich, du brauchst dir um mich überhaupt keine Sorgen mehr zu machen. Alles ist gut" Toya umklammerte meine Hand beinahe schmerzhaft fest, als wäre sie für ihn überlebensnotwendig. „Möchtest du meinen Herzenswunsch jetzt erfahren?", fragte ich leise und sah ihn mit einem Lächeln an. Toya schüttelte verkrampft den Kopf und quetschte meine Hand immer fester zusammen. „Keine Sorge, ich werde dich nicht darum bitten ihn mir zu erfüllen. Das brauche ich nämlich nicht mehr! Er hat sich schon längst erfüllt!"

Toya zuckte zusammen. „Aika, bitte…", brachte er schließlich hervor. Was war bloß los mit ihm? Er war kreidebleich. Wie könnte ich ihn bloß beruhigen und ihm beibringen, dass er für mein ganzes Glück im Leben verantwortlich war?

„Ich wollte geliebt werden", murmelte ich unter ein paar Tränen und schniefte, als die Erinnerungen wieder in mir aufstiegen. Endlich konnte ich laut aussprechen, was sich so lange Zeit in mir angestaut hatte. „Ich wollte jemanden, der mich um meiner selbst Willen liebt und für den nicht nur meine Leistungen wichtig sind, sondern auch meine Gefühle. Ich habe mich so einsam gefühlt ohne eine richtige Familie und ohne auch nur einen einzigen guten Freund" Mit meiner Hand wischte ich die Tränen ab, die langsam meine Wangen herunterliefen. „Und jetzt habe ich dich! Du hast mich von Anfang an geliebt, nicht wahr? Vielleicht nicht wie ein Mensch Liebe empfinden würde, aber dennoch auf deine eigene Art und Weise, auch wenn es einige Zeit gedauert hat sich daran zu gewöhnen. Und dank dir habe ich auch Freundinnen gefunden, die mich ebenfalls lieben. Du kannst stolz auf dich sein!"

Aufmunternd lächelte ich Toya an. „Du hast mir meinen sehnlichsten Wunsch erfüllt, ohne meine Erinnerungen dafür zu bekommen, ganz ohne Magie, nur weil du bei mir bist und wahre Gefühle für mich hast. Das ist dir in deiner gesamten Karriere bestimmt noch nicht passiert"

Erneut schüttelte Toya verzweifelt seinen Kopf. „Verdammt, Aika! Hör auf, bitte! Weißt du denn noch immer nicht, was du da sagst? Und was das bedeutet?"

Wollte er wirklich so sehr, dass ich es laut und deutlich aussprach? Er dachte bestimmt immer noch, dass ich ein Problem damit hätte es endlich zuzugeben. „Natürlich weiß ich, was das bedeutet", strahlte ich stolz. „Es bedeutet, dass ich dich liebe!"

Aufgeregt und mit geröteten Wangen wartete ich auf seine Reaktion. Aber es kam keine. Er starrte mich einfach nur total entsetzt an. Er sah eher aus, als hätte er eine Faust in die Magengrube bekommen. So hatte ich mir das irgendwie nicht vorgestellt…

„Toya?", fragte ich vorsichtig und plötzlich total verunsichert. Empfand er am Ende doch nicht dasselbe für mich? Hatte ich mich so geirrt? „Hast du nicht gehört, was ich gerade gesagt habe?" Stille. „Ich liebe dich, Toya!"

Und ganz plötzlich, ohne die geringste Vorwarnung war er einfach verschwunden.