Kapitel 7. Die Nacht der Drachen

Levy hatte einen wirklich hübschen Ort für das ausgesucht, was sie beide vorhatten, fand Lucy, als sie sich einmal um die eigene Achse drehte und über die Lichtung blickte, auf der sie gerade standen. Der Vollmond stand hoch am nachtschwarzen Himmel, keine einzige Wolke verdeckte ihn oder die abertausenden von funkelnden Sternen. Durch sein Licht schimmerte jeder einzelne Grashalm auf der großen Wiese und der laue Wind sorgte für Wellen in dem beschienen Gras, sodass es wie flüssiges Silber wirkte. Die hohen Laubbäume, die die Lichtung von allen Seiten her einrahmten, raschelten ganz leise bei der nächtlichen Brise und warfen ihre langgezogenen Schatten auf die Ränder der Graslandschaft.

Die Schriftmagierin hatte diesen Ort ausgewählt, weil er zwar außerhalb der Stadt, aber nicht allzu weit weg von Magnolia lag, sodass man ihn zu Fuß noch gut erreichen konnte. Trotzdem lag er tiefer im Wald als zunächst vermutet und war von außen sehr schwer einzusehen, was ihn zum perfekten Ziel für die beiden Mädchen machte. Mitten in der Nacht würde hier bestimmt niemand vorbeikommen, auch nicht zufällig.

„Ziehst du dich um, dann kann ich schon mal mit dem Kreis anfangen?", fragte die Blauhaarige immer noch etwas verunsichert. Lucy konnte bloß nicken. Selbst wenn sie gewollt hätte, sie hätte im Moment keinen Ton hervorgebracht.

Irgendwo war Levy auf den Hinweis gestoßen, dass die Priesterin immer in einer Art weißer Robe oder weißem Gewand das Ritual durchgeführt hatte. Wahrscheinlich hatte ihre Kleidung nicht viel mit dem Effekt zu tun, aber Lucy war dennoch losgezogen und hatte sich ein traditionelles weißes Gewand für magische Rituale besorgt, das sie dann vorsorglich schon am Abend vorher in einer Tasche hier im Wald deponiert hatte.

Der Stoff war hauchdünn und als Lucy in die langen Ärmel schlüpfte, spürte sie ihn kaum auf ihrer Haut. Locker fiel das Kleid ab der Taille bis zu ihren Knöcheln herab. Am Oberkörper saß es eng, aber auch das bemerkte sie kaum, obwohl sie es an den beiden Seiten noch mit seidigen Bändern zuschnüren musste. Lucy blickte an sich herab. Der weiße durchscheinende Stoff des Gewandes schien die Strahlen des Mondlichts zu absorbieren und dann in einem Schimmern wieder abzugeben.

Sie schlüpfte aus ihren Schuhen und löste alle Bänder aus ihren Haaren. Mit nichts als der rituellen Robe bekleidet trat sie wieder weiter auf die Lichtung hinaus und begrüßte die warme Sommerbrise. Zum Glück lag die Nacht der Drachen nicht auch noch in den Wintermonaten.

Unterdessen war Levy damit beschäftigt, alte magische Runen in einem genau vorgeschriebenen Kreis auf dem Boden zu ziehen, in dessen Mitte sich Lucy nachher würde stellen müssen. Sie war unglaublich schnell und geschickt mit dem magischen Stift und die leuchtenden Male verließen wie selbstverständlich die Spitze des Werkzeugs und sprangen schon beinahe freiwillig auf den exakt richtigen Platz.

Als auch Levy endlich ihr Werk vollendet hatte, packte sie ihren Stift und die Brille wieder weg und gesellte sich zu ihrer Freundin, die sie erst mal lange erstaunt und mit offenem Mund musterte.

„Du siehst wahnsinnig hübsch aus" Ihr Flüstern klang wie von Ehrfurcht erfüllt.

Lucy wurde vor Verlegenheit rot. „Danke" Es war das erste Wort, das sie seit ihrer Ankunft auf der Lichtung gesprochen hatte und es fühlte sich merkwürdig an, dieses Schweigen gebrochen zu haben.

„Also dann", setzte Levy erneut an und musterte den Runenkreis erneut, wie um ihn zu überprüfen. „Bereit?"

Es war kurz vor Mitternacht. Theoretisch wusste Lucy, was sie zu tun hatte, aber „bereit" fühlte sich ganz sicher ganz anders an. Weniger panisch. Trotzdem nickte sie entschlossen und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Sie hatte sich extra mit Levy hingesetzt und alles auswendig gelernt, was sie rezitieren sollte. Die fremde Sprache zu lernen und zu übersetzen war schwierig gewesen, aber Lucy hatte sich vehement geweigert, das Buch mit zu der Zeremonie zu schleppen, wie eine Amateurin und einfach daraus vorzulesen.

Mittlerweile fragte sie sich allerdings, ob das so schlau gewesen war. Falls sie vor lauter Aufregung eine Zeile vergessen würde, hätte sie keine Chance das Ritual irgendwie zu vervollständigen. Sie hätte das Buch wenigstens einpacken sollen, aber jetzt war es zu spät.

Mit weichen Knien und am ganzen Körper zitternd lief sie schließlich los, zielstrebig die Mitte des Kreises im Blick. Lucy blickte nicht zurück, denn hätte sie es getan, wäre ihr neu gewonnener Mut sicher wieder geschwunden. So setzte sie nur starrköpfig einen Fuß vor den anderen. Kurz bevor sie die erste Linie des Kreises übertrat, zögerte sie ein paar Sekunden, schüttelte dann aber brüsk den Kopf und machte den nächsten Schritt.

Die äußere Runenlinie des Kreises begann ein helles weißes Licht abzustrahlen, genau wie die zweite und die beiden folgenden, als Lucy sie überquerte. Sie spürte, wie ein leichter Fluss von Magie durch ihren Körper entstand und schauderte merklich, als sich die Härchen auf ihren Armen aufrichteten.

Genau in der Mitte des Kreises angekommen, richtete sich die Stellargeistmagierin nach dem Vollmond aus, der nun in seinem Zenit stand und hob mit stolz vorgerecktem Kinn den Kopf. Weit breitete sie die Arme zu beiden Seiten nach vorne aus, sodass es aussah, als wollte sie ein Geschenk vom Mond persönlich entgegen nehmen.

Eine stärkere Böe kam auf und kündigte die starke magische Kraft an, die hier bald vorherrschen würde. Lucys weißes Kleid bauschte sich um ihre Knöchel und flatterte im stärker werdenden Wind. Tief atmete sie noch einmal durch, dann begann sie langsam und auf ihre Aussprache bedacht die heiligen Worte der Sternenmagie zu sprechen. Unsicher erst und sachte stockend, um ja keine Fehler zu machen, mit der Zeit aber immer kraftvoller, lauter und mit einem ganz leichten Hauch von Singsang, der das Ganze mystisch und wunderschön klingen ließ.

Die Blondine wusste nicht, wie ihr geschah, als sie wie von selbst die Augen schloss und die Laute mal schneller und mal langsamer in einer sehnsuchtsvollen Melodie ihre Lippen verließen. Wie in einer Art Trance setzte sie ihren Sternengesang an die Drachen gerichtet fort und spürte dabei, wie ihre eigene Magie langsam aber stetig ihren Körper verließ und auf eine weite Reise geschickt wurde.

Levy beobachtete die Zeremonie von nicht sehr weit weg und staunte dabei nicht schlecht, als der gesamte Körper ihrer besten Freundin plötzlich glänzte, dann heller strahlte und dann zusammen mit dem Runenkreis ein wahres Leuchtfeuer abgab. Selbst aus der leichten Entfernung, die sie zu dem Ritual hielt, konnte sie die Unmengen von Magie spüren, die freigesetzt wurden und gen Himmel schossen.

„Oh Lu-chan", flüsterte sie voller Sorge und hielt ihren Blick wachsam auf ihre immer noch singende Freundin gerichtet, bereit jederzeit einzugreifen, falls etwas schief gehen sollte. Levy konnte sich gar nicht vorstellen, wie es sich anfühlen musste, so viel Energie so plötzlich entzogen zu bekommen, oder ja vielmehr freiwillig herzugeben. Eine wahnsinnige Anstrengung und körperliche Beanspruchung musste das sein, von der notwendigen Konzentration und Willensstärke nicht zu schweigen. Aber das alles war ihnen beiden ja von Anfang an klar gewesen. Nur hätte die Blauhaarige nicht erwartet, dass es so einen atemberaubenden Anblick bieten würde.

Unterdessen beschleunigte sich Lucys Herzschlag und auch ihre Atmung wurde zunehmend schneller und flacher, während sie immer noch magische Worte in den nächtlichen Sternenhimmel sang. Sie hatte schon erwartet, dass es sehr anstrengend für sie werden würde und biss deshalb sinnbildlich die Zähne fest zusammen. Das Frustrierende daran war, dass sie nicht spüren konnte, ob ihre Nachricht an die Drachen irgendwo hinter dem Horizont ankam, oder ob alles umsonst gewesen war. Deshalb musste sie dringend bis zum Ende des Rituals durchhalten und danach sehen, ob etwas passierte, ob eine Antwort kam. Dabei spürte sie jetzt schon, wie sie immer schwächer wurde, ihr Körper schon anfing zu protestieren. Und sie hatte gerademal ein Drittel hinter sich gebracht.

Während die Zeremonie immer weiter voranschritt, wurde auch der Wind auf der Lichtung immer stärker, zerrte am Laub der Bäume und an den funkelnden Grashalmen. Levy hatte schon einen Arm schützend erhoben. Und auch das grelle Licht wurde mit jeder Minute heller und wie es schien auch lebendiger. Es wogte in dem Runenkreis, als wäre es leuchtendes Wasser und die Schriftmagierin hatte Probleme, Lucy überhaupt noch zu erkennen. Ihre Augen tränten schon, aber sie blinzelte gegen den brennenden Schmerz an, um weiterhin auf alles gefasst zu sein.

Sie hatte Lucy versprochen, dass – wenn ihre Magie zur Neige gehen sollte – Levy einspringen und ihr von außen einen Teil ihrer eigenen Kraft geben würde, um die Zeremonie am Laufen zu halten. Auch darüber hatte sie nämlich mal etwas gelesen. Es gab einen Weg, wie ein Magier einem anderen von sich selbst Energie spenden konnte. Und sollte das nötig werden, würde Levy ihre Freundin sofort unterstützen, bevor das Ritual zu gefährlich für sie wurde.

Plötzlich zerriss ein markerschütterndes Brüllen, das eindeutig nicht mehr vom Wind kam, die sternenklare Nacht. Levy zuckte zusammen, schaute sich aber gleich wieder zu ihrer Freundin um. Erst da bemerkte sie, dass Lucys zeremonieller Gesang abrupt geendet hatte.

Ein zweites, wahrscheinlich noch lauteres Brüllen donnerte über die Lichtung, plötzlich war es windstill, aber die Luft vibrierte trotzdem, sodass Levy es in ihrem ganzen Körper kribbeln fühlen konnte. Panisch machte sie ein paar Schritte auf den Kreis zu und schrie Lucys Namen, wurde aber jäh von einer mächtigen Druckwelle, die von dessen Zentrum ausging, wieder zurückgeworfen und landete unsanft auf dem taunassen Boden.

Der Ball aus lebendigem Licht, der die Stellargeistmagierin eingehüllt hatte, war zerplatzt. Glitzernde Funken stoben überall auf die Lichtung und in den Nachthimmel hinaus. Levy keuchte vor Schreck auf, als sie sah, dass Lucy waagrecht mitten in der Luft über der Mitte des Runenkreises schwebte. Die Schriftzeichen glommen nur noch schwächlich vor sich hin, dafür ging von Lucys Körper immer noch ein helles Strahlen aus, als wäre sie selbst zu einem Stern geworden, der nun am schwarzen Himmel stand.

Die kleine Blauhaarige wagte nicht sich zu rühren. Immer noch halb auf dem Boden liegend starrte sie atemlos auf die Szene vor ihr, wartete, lauschte. Aber es geschah nichts weiter. Es war beängstigend still geworden auf der großen Wiese.