Kapitel 8. Der Sternendrache
Das erste Gebrüll war genau in dem Moment aufgezogen, als Lucy nur noch wenige Zeilen zu rezitieren gehabt hatte. Gleichzeitig mit einer Ahnung von etwas, dass sich hinter ihren geschlossenen Augenlidern auf sie zu bewegte.
Beim zweiten Mal hatte sie Levy schreien gehört und sich Sorgen um ihre Freundin gemacht, bis sie erkannt hatte, was der Laut zu bedeuten hatte. Eine Antwort. Und kaum eine Sekunde später hatte sie vor ihrem geistigen Auge eine schemenhafte riesige Gestalt wahrgenommen.
Lucy hatte gespürt, wie ihr Körper federleicht geworden war, hatte aber keine Erklärung dafür gefunden, denn war die Anstrengung vorher für sie noch einigermaßen erträglich gewesen, so fühlte es sich jetzt an, als würde ihr Körper von einer fremden Macht innerlich auseinander gerissen. Eiskalter Schweiß brach ihr auf der Stirn aus und sie konnte ein schmerzerfülltes Stöhnen nicht mehr unterdrücken, als diese machtvolle Energie durch sie hindurch fegte.
Die Blondine versuchte sich bewusst nur auf die immer noch undeutliche Gestalt zu konzentrieren und den Schmerz dabei auszublenden. Ganz langsam schien es zu funktionieren. Hoch wie ein Berg türmte sich vor ihr der massige Körper eines Drachen. Mit langen Krallen an den riesigen Pranken und scharfen Zähnen in seinem länglichen Maul. Seine Schuppen schillerten in einem wunderschönen Goldton und fingen das Licht der Sterne ein. Lucy wusste instinktiv, wen sie vor sich hatte.
„Phönix", flüsterte sie ehrfurchtsvoll und gleichzeitig erstaunt darüber, dass sie zu einem so prachtvollen und mächtigen Geschöpf eine Verbindung spüren konnte. Aber sie war da, ohne jeden Zweifel. Warm, gütig und vertraut, wie ihre eigene Magie.
„Du hast ein großes Risiko auf dich genommen, Priesterin", sprach das hoheitsvolle Tier mit einer tiefen grollenden Stimme und musterte sie von oben herab ganz genau mit seinen eisig blauen Augen. Seine angelegten Schwingen raschelten geräuschvoll bei jeder Bewegung.
Lucy musste einfach den Blick abwenden. Sie schämte sich. „Ich bin eigentlich gar keine Priesterin", gestand sie kleinlaut, nachdem sie sich mehrmals hatte räuspern müssen. „Niemand hat mich hierfür ausgewählt" Sie senkte den Kopf ein Stück, wie um entschuldigend zu wirken.
„Und dennoch hast du dich dazu entschieden einen so gefährlichen Zauber durchzuführen" Der Ton des Sternendrachen klang nachdenklich, sein Blick war weich, nicht tadelnd. „Es ist erstaunlich, dass du in der Lage dazu warst, nur sage mir Mädchen, warum hast du das getan? Wir weilen nicht länger auf Erden, die Nacht der Drachen ist von allen vergessen"
Die Stellargeistmagierin fasste neues Vertrauen und sah zu Phönix empor. Dieser ließ sich langsam auf allen Vieren in eine tiefere, mehr liegende Position sinken, um sie besser sehen zu können.
„Eben deshalb", antwortete Lucy nun etwas kräftiger. „Ich wollte herausfinden, was mit euch passiert ist, warum ihr so plötzlich verschwunden seid und ob man euch vielleicht helfen kann. Wir wissen ja nichts über euer Verschwinden und ob ihr in Gefahr schwebt" Kurz überlegte sie und rief sich in Erinnerung, was der Drache zu ihr gesagt hatte. „Ich dachte auch nicht, dass die Zeremonie derart gefährlich wäre. Ich habe durch ein Buch von ihr erfahren und ich dachte, wenn diese Art von Zeremonie regelmäßig durchgeführt wurde…" Unbeendet wie er war, ließ die Blondine den Satz in der Luft hängen. Sie kam sich plötzlich sehr naiv vor.
Ein Schnauben drang durch die Nüstern des leuchtenden Drachen. „Die Nacht der Drachen ist dazu gedacht, dass sie die Seelen derjenigen, die sich auf Erden befinden mit den Stellargeistern und ihrem König verbinden. Symbolisch für die Menschen steht die Priesterin, die den Zauber spricht. Aber die Drachen, die an dieser Nacht teilnehmen sind alle am selben Ort versammelt wie sie", erklärte Phönix geduldig. „Du allerdings, junge Dame, bist über dich selbst hinausgewachsen in dem du deine eigene Seele auf die Reise geschickt hast, um nach uns zu suchen. Wir, die nun nicht am selben Ort weilen können. Ich habe größten Respekt davor, dass meine Antwort dich nicht zerrissen hat, ich fürchtete schon dir ein Leid zugefügt zu haben"
Völlig perplex starrte Lucy den Sternendrachen an. Sie wäre beinahe gestorben. Und der Schmerz, der immer noch in ihren Gliedern und Muskeln brannte wie Feuer, rührte daher, dass ihre Seele sich mit der von Phönix irgendwo weit weg getroffen und verbunden hatte. Es schien schier unmöglich. Alleine diese Vorstellung ließ die junge Magierin vergessen, wie man atmete.
„Es erstaunt mich, dass du eine so selbstlose Tat vollbringst, nicht viele von euch Menschen haben diese Größe", ergänzte der Drache in einem Ton, der darauf schließen ließ, was er davon hielt. „Sage mir, junges Fräulein, was hast du dir davon versprochen uns helfen zu wollen?"
Abermals musste Lucy sich räuspern ehe sie sprach. Der dicke Kloß, der in ihrem Hals saß und ihr kontinuierlich die Luft abschnürte ließ sich einfach nicht vertreiben.
„Eigentlich wollte ich meinen Freunden helfen", gab sie zu. „Ich persönlich kenne gar keine Drachen. Aber Natsu, Wendy und Gajeel aus meiner Gilde sind Dragonslayer und haben ihre Eltern verloren. Sie suchen schon so lange nach irgendwelchen Hinweisen, ich dachte dieses Mal könnte ich vielleicht eine Hilfe dabei sein. Außerdem haben wir noch einen Dragonslayer bei uns. Laxus trägt zwar nur eins eurer Lacrima, aber trotzdem…" Sie stockte für einen kurzen Moment, wie sollte sie ihre Gedanken bloß so in Worte fassen, dass der Drache sie nachvollziehen konnte? „Die Gilde Sabertooth hat auch zwei Dragonslayer. Sting und Rogues Drachen sind zwar schon gestorben, aber ich habe so viele Leute in meinem Umfeld, die einen Bezug zu euch haben, dass ich es für eine gute Sache hielt das Ritual durchzuführen"
„Ich verstehe", brummte der große Drache gutmütig. „Du hast also einige unserer Kinder kennengelernt und sie suchen nach uns" Sein Ton klang seltsam gerührt und sehnsuchtsvoll, falls das bei seinem tiefen Grollen überhaupt möglich war. Aber hatte Loki nicht gesagt, Phönix hätte nie einen Dragonslayer ausgebildet? Freute er sich so sehr für seine Kameraden? Lucys Augen brannten und sie wischte schnell mit dem Handrücken darüber. Es bestand ohne Zweifel eine sehr starke Verbindung zwischen ihren Freunden und deren Drachen. Kein Wunder, dass Natsu immer „Papa" sagte, wenn er von Igneel sprach.
„Du hast ein großes Herz, Mädchen", meinte Phönix. „Und Mut hast du auch, das muss man dir lassen. Nicht jeder wäre dazu bereit sich für seine Freunde aufzuopfern. Ich erkenne große Stärke in dir. Nun wundert es mich auch nicht mehr, dass du dazu in der Lage warst, mich zu erreichen"
Verlegen wendete Lucy kurz den Blick ab, damit es nicht so auffiel, dass sie rot geworden war. Wann hatte man auch schon mal die Gelegenheit, von einem Sternendrachen Komplimente zu bekommen? Trotzdem musste sie kurz die Augen zusammenkneifen, als eine weitere Woge des Schmerzes über sie hinweg rollte. Er kam jetzt immer öfter und sie hatte große Mühe, nicht gequält die Verbindung abzubrechen. Ihre Kräfte waren schon längst über jede Grenze hinaus ausgeschöpft und Schweiß rann über ihre Schultern den Rücken herunter. Sie konnte spüren, dass Levy sich längst als Hilfe eingeklinkt hatte und ihr Energie von sich selbst abgab, sonst wäre sie wahrscheinlich schon ohnmächtig zusammengebrochen. Lucy hoffte nur, dass es ihrer Freundin nicht auch so schlecht ging.
„Nun, dann will ich es jetzt offiziell machen, mein Kind" Die Blondine konnte spüren, wie Phönix tief Luft holte. Der Sog war stark und zerrte an ihr und plötzlich war er wieder verschwunden. Vermutlich hielt der Drache kurz die Luft an. Dann blies er ihr etwas entgegen, das für Lucy wie funkelnder Sternenstaub aussah. Er hüllte sie in eine glitzernde Wolke von winzigen Partikeln, die sich auf ihrer Haut absetzten. Sie konnte ein leichtes Brennen wahrnehmen, als die schimmernden Flocken in ihre Haut eindrangen und schließlich darunter verschwanden. Geschockt stieß sie einen kleinen Laut aus, als ihr Körper für einige Sekunden hell aufleuchtete.
„Somit habe ich, Phönix, dieses Kind zu unserem Kind ernannt. Sie wird fortan den Titel unserer Priesterin mit Würde tragen und ihn in Ehren halten. Sage mir deinen Namen, Drachenpriesterin"
„L – Lucy Heartfilia", stammelte sie, immer noch zu aufgewühlt, um zu begreifen, was gerade passierte.
„Lucy Heartfilia", wiederholte der Drache. „Von diesem Augenblick an seiest du bekannt als Sternenmagierin, Verbündete der Stellargeister, Priesterin der Drachen und Verbinderin der Seelen aus deiner Welt und allen anderen Welten. Mögen die Sterne dir auf ewig gewogen sein" Ein weiteres Mal blies der Sternendrache die Luft aus, wieder glitzerte es und Lucy musste sich die Augen reiben, als sie etwas von dem Staub abbekamen.
Plötzlich riss die Stellargeistmagierin erstaunt die Augen wieder auf, als sie neue Kraft durch ihre Adern pulsieren fühlen konnte. Es war wie damals, als ihr Second Origin aktiviert worden war, nur dieses Mal bereitete es keine Schmerzen, es vertrieb sie. Erleichtert atmete Lucy aus und entspannte ihren Körper etwas mehr. Ihre brennenden Glieder lockerten sich dankbar, ihre ganze Verspannung löste sich, als sie bemerkte, dass keine Schmerzen mehr drohten sie zu überwältigen.
„Nun höre mich an, Priesterin", verlangte Phönix, noch immer in diesem formellen Tonfall. „Ich will dir erklären, wozu du mich gerufen hast"
