Kapitel 10. Lucy und Levy in der Klemme

Levy wusste nicht mehr, wie lange sie schon in der völligen Stille am Rand des Runenkreises kniete, eine Hand auf eine besondere Rune gelegt, damit sie ihre magische Energie an Lucy weiterreichte. Mittlerweile schwitzte und fror sie zugleich, die freie Hand hatte sie zur Faust geballt, weil sie zu zittern begonnen hatte. Ihr Atem kam in schnellen, abgehackten Stößen, aber sie weigerte sich einfach aufzugeben und die immer noch sanft dahinschwebende Lucy alleine zu lassen. Und irgendwie spürte die junge Magierin, dass ihre Freundin die zusätzliche Kraft gut vertragen konnte.

Irgendwann brach der Kontakt ganz unvermittelt ab. Alle Runen, die Levy so akkurat aufgetragen hatte verschwanden, lösten sich einfach auf und hinterließen nichts als kleine verbrannte Flecken im Gras. Wankend kam die Schriftmagierin auf die Beine, gerade rechtzeitig um zu sehen, wie ihre beste Freundin wie ein Stein einfach aus der Luft fiel.

Die Blauhaarige rannte los, obwohl ihr Körper total ausgelaugt war und sie sich so vorkam, als würde sie sich in Zeitlupe bewegen. Mit den allerletzten Kraftreserven und mit viel mehr Willenskraft und Glück als mit echter, noch vorhandener Magie ließ sie ein großes Kissen in der Form des Wortes „Pillow" entstehen, auf das Lucy ungebremst aufschlug. Federn flogen wie nach einer Kissenschlacht durch die Gegend. Das letzte Aufkeimen von einem Zauber war wieder verschwunden, Lucy lag unversehrt im silbernen Gras.

Erleichtert und komplett erledig ließ sich Levy neben ihrer regungslosen Freundin auf die Knie fallen. Es war überstanden. Und Lucy atmete noch. Zwar schwer und keuchend, aber sie gab Lebenszeichen von sich. Wahrscheinlich war sie noch viel schlimmer dran was den Magieentzug anging, als Levy selbst. Hoffentlich nicht so schlimm, dass sie Schmerzen bekam, dachte sie sorgenvoll und blickte auf die Blondine herab.

Sie war leichenblass, ihre Lippen waren spröde und rissig. Schweißtropfen glänzten auf ihrem Gesicht im Mondschein, ihre blonden Haare klebten an ihr und sie hatte die Augen fest zugekniffen. Als ein gepresstes Stöhnen über ihre Lippen kam, zuckte Levy zusammen.

„Lu-chan?", fragte sie vorsichtig und berührte die Wange ihrer Freundin. Noch ein merkwürdig verzerrter Laut. „Lu-chan hörst du mich?" Ganz leicht rüttelte Levy an Lucys Schulter, ließ es aber sofort wieder sein, als diese zuckte und hörbar die Luft einzog. Oh Gott, sie hatte Schmerzen. Und so schnell würde sie wahrscheinlich nicht aufwachen.

Noch ein weiteres Mal kämpfte Levy sich auf ihre Füße zurück. Sie war auf den schlimmsten Fall vorbereitet. Es war zwar abgemacht gewesen, den anderen von Fairy Tail erst mal nichts von ihrem kleinen nächtlichen Ausflug zu berichten, aber bestimmt nicht, wenn Lucys Leben wohlmöglich immer noch in Gefahr schwebte. Lucy hatte ihren Freunden nicht unnötig Hoffnung machen wollen, als sie noch gar nicht wussten, ob das Ritual überhaupt etwas bringen würde, aber nun konnten sie ja zumindest schon mal behaupten, es wenigstens versucht zu haben.

Mit immer noch wackeligen Knien kämpfte Levy sich Schritt für Schritt vorwärts, bis sie am Waldrand an ihrer kleinen Tasche angelangt war, die sie achtlos von sich geworfen hatte, als sie die Lichtung erreicht hatten.

Ihr Ziel war das runde glänzende Kommunikationslacrima, das sie für Notfälle eingepackt hatte. Mit zittrigen Fingern fummelte sie es aus der Handtasche und versuche die ersten beiden Male vergeblich es zu aktivieren. Beim dritten Mal bekam sie dann endliche ein Signal, um bis zur Gilde durchstoßen zu können.

„Hallo?", krächzte sie heiser. „Master? Mira-san? Kann mich irgendjemand hören? Hier ist Levy" Hoffnungsvoll blickte sie in die kleine Kugel, bekam aber erst nur Rauschen zu hören. War das Ding etwa kaputt? Oder waren vielleicht alle schon nach Hause gegangen? Immerhin war es weit nach Mitternacht. Wie weit genau konnte Levy zwar nicht sagen, weil sie jegliches Zeitgefühl bei der Zeremonie verloren hatte, aber der Mond hatte sich seit sie hier waren ein beträchtliches Stück bewegt.

„Oh Gott, bitte", flehte die kleine Magierin. „Kann mich jemand hören? Hier ist Levy McGarden. Lucy und ich benötigen ganz dringend Hilfe" Sie hasste es, wie weinerlich und verzweifelt sich ihre Stimme anhörte, aber sie konnte nichts dagegen tun.

Fast hätte Levy ein erleichtertes Seufzen von sich gegeben, als endlich das Bild in der Kugel klar wurde und sie Mirajanes liebes Gesicht erkennen konnte.

„Levy, um Himmels Willen, wo seid ihr denn? Was ist passiert?" Mira klang angespannt und voller Sorge und plötzlich tat es Levy unglaublich leid, einfach die Party ohne ein Wort verlassen zu haben. Aber Lucy und sie hatten Angst vor neugierigen Fragen gehabt. „Als wir gemerkt haben, dass ihr nicht mehr auf der Feier seid, sind einige von uns ins Wohnheim und zu Lucy nach Hause um nachzusehen, ob euch plötzlich schlecht geworden ist oder ob ihr einfach nur müde ward, aber dann kamen die Anderen zurück und haben berichtet, dass ihr nirgendwo zu finden seid. Auch im näheren Umfeld nicht. Natsu ist beinahe durchgedreht"

„Tut uns leid", murmelte Levy. Ganz sicher hatten sie der armen Wendy damit total die schöne Geburtstagsfeier ruiniert. „Aber wir haben etwas Wichtiges herausgefunden und sind dem zu zweit nachgegangen. Allerdings ist es nicht ganz so gelaufen, wie erwartet…"

Levy konnte sich plötzlich nicht mehr auf den Beinen halten und sackte wieder in eine kniende Position. Sie musste die Augen zusammenkneifen, um das Schwindelgefühl zu besiegen, das sie befallen hatte und stieß einen erstickten Seufzer aus.

„Levy!" Mirajanes Stimme aus dem Lacrima klang viel zu laut an ihre Ohren.

„W-wir sind im Wald auf einer großen Lichtung, nicht weit weg, gut zu Fuß erreichbar. Aber sie ist versteckt, schwer zu finden, wenn man nicht weiß, wo man suchen soll", stotterte die Blauhaarige unsicher. Immer wieder musste sie blinzeln, aber dann liefen doch die Tränen. „L-Lu-chan ist… sie hat… Sie hat ihre gesamte Energie aufgebraucht und ist zusammengebrochen. Ich glaube, sie hat Schmerzen. Sie stöhnt und…" Levy brach mitten im Satz ab und hielt sich eine Hand an die Schläfe. Ihr ging es überhaupt nicht gut. Alles drehte sich, in ihrem Kopf pochte es und sie fühlte sich mittlerweile selbst zum Sprechen zu schwach.

„Levy, ganz ruhig. Ich hab verstanden. Ich werde euch sofort jemanden vorbei schicken" Miras Stimme klang schon sehr weit entfernt. Wieder blinzelte Levy. Ihr Sichtfeld wurde schon kleiner, die schwarzen Ränder krochen immer weiter Richtung Nase.

„Levy? Hast du gehört? Haltet durch, es kommt gleich jemand, ihr müsst…" Den Rest bekam sie schon nicht mehr mit. Ihre Sicht war vollkommen schwarz geworden. Levy hatte das Lacrima einfach ins Gras fallen lassen und war dann selbst völlig entkräftet zur Seite gesackt. Das Letzte, was sie mitbekam, war Mirajanes undeutlich gewordene Stimme, die immer noch auf sie einzureden versuchte und das feuchte kühle Gras an ihrer Wange.