Sakura wachte am nächsten Morgen mit dem Gefühl auf, bei weitem nicht so viel Schlaf bekommen zu haben, wie sie eigentlich benötigt hätte. Während sie weiterhin in ihrem Bett lag und die Decke anstarrte kam sie u dem Entschluss, dass Arbeiten und sich anschließend zu betrinken keine gute Kombination war. Mit etwas Mühe raffte sie sich auf.
In ihrem Schlafzimmer sah es aus, als wäre ihr Kleiderschrank explodiert. ‚Und das alles nur, weil ich gestern Morgen noch schnell dieses verdammte rote Kleid suchen musste.' Dieses Kleid hatte am gestrigen Abend für wahrlich mehr Ärger gesorgt, als sie sich hatte träumen lassen. Sakura quälte sich aus dem Bett und fand eben jenes Kleid direkt zu ihren Füßen wieder. Missmutig hob sie es auf, blickte sich im Zimmer kurz um und warf es schlussendlich, ohne irgendwelche Gewissensbisse, in den Papierkorb.
‚Genau da gehört es hin', raunte die Stimme in ihrem Kopf.
Nach einer ausgiebigen Dusche schlich Sakura in die Küche und setzte Wasser auf. Ein heißer Tee, eine Kopfschmerztablette und eine Kleinigkeit zu Essen sollten Wunder bewirken. Während das Wasser langsam erhitzte griff sie nach ihrem Smartphone und blickte einen Moment lang perplex darauf. Zehn unbeantwortete Anrufe und zwei Dutzend Nachrichten – und alle von Tsunade-sama. Innerlich schrie sie auf. Es war ihr freier Tag. Auf den hatte sie schon hin gefiebert. Es konnte kaum sein, dass sie - als Assistenzärztin - so dringend im Krankenhaus benötigt wurde. Es sei denn es hätte eine große Katastrophe mit dutzenden Verletzten gegeben...
Allerdings kannte Sakura ihre Mentorin nun schon seit einer Weile und hätte vielmehr ihre Hände dafür ins Feuer gelegt, dass es etwas gänzlich Unsinniges war, womit sie sie belästigte. ‚Wehe ich muss wieder ihre Wäsche aus der Reinigung holen', rumorte es in ihrem Inneren, ‚das war bei den ersten drei Malen schon eine Zumutung. Und dieses Mal werde ich auf jeden Fall ‚nein' sagen.'
Widerwillig wählte sie Tsunades Nummer. „Wo um alles in der Welt bist du gewesen?", war das erste was sie hörte.
„Ich habe mein Telefon im Auto einer Freundin vergessen", log sie, denn sie wusste, die Wahrheit würde ihr nur noch mehr Ärger einbringen.
„Ich brauche dich dringend hier im Krankenhaus", raunte Tsunade, „komm so schnell wie du kannst."
„Aber...", für einen Augenblick wollte Sakura tatsächlich protestieren, doch sie wusste, dass dies nichts nützte. „Schön, ich komme so schnell ich kann." Stöhnend legte Sakura daraufhin auf und bereute zugleich, dass sie nicht direkt nach einer weiteren Erklärung gefragt hatte. Gewiss Tsunade war ihre Chefin und Mentorin. Sie musste tun, was sie sagte. Doch - und zu dieser Erkenntnis gelang Sakura allmählich auch - musste sie nicht alles tun, was sie im Laufe der Zeit von ihr verlangt hatte.
Tenten hatte Recht. Sie sollte sich mehr gegen Tsunade zur Wehr setzen. Diese Runde hatte sie aber anscheinend schon verloren.
Sakura zog sich in aller Eile an und machte sich auf den Weg zu der Bushaltestellte, die am Ende der Straße lag. Sie kannte Tsunade-sama zu gut, um zu wissen, dass sie sie trotz alledem einen Kopf kürzer machen würde. Je schneller sie im Krankenhaus wäre, desto sanfter wäre sie vielleicht noch.
Immerhin hatte Sakura noch die Hoffnung, dass es sich wirklich um einen medizinischen Notfall handelte. Die Ereignisse des gestrigen Tages kamen ihr wieder in den Sinn. ‚Ob es etwas mit dem einflussreichen und berühmten Patienten zu tun hat?', ging es ihr durch den Kopf. Es wäre zumindest etwas, dass sie versöhnlich stimmen würde.
Als sie rund eine halbe Stunde später am Krankenhaus eintraf wartete bereits Shizune auf sie. Die schwarzhaarige Ärztin, leitete Sakura direkt zum Aufzug, ohne großartig ein Wort zu verlieren.
„Zieh dich um und geh sofort in Tsunades Büro", sagte sie zu ihr
Shizunes Auftreten und diese Worte beunruhigten Sakura. Hatte sie sich etwa wirklich Ärger eingehandelt? War ihr ein Fehler bei einem Patienten unterlaufen? Verdammt, sie hoffte wirklich, dass dem nicht so war.
„Was ist los? Ist etwas passiert?" Shizune runzelte nur die Stirn.
„Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Sie hat mir nicht gesagt, worum es geht. Doch wenn ich eine Vermutung aufstellen sollte, dann hat es etwas mit dem Patienten von gestern zu tun... Tsunade war bis nach Mitternacht mit im OP und dir wird auch sicherlich auffallen, dass überall im Krankenhaus externe Sicherheitskräfte herumlaufen. Irgendetwas geht hier vor sich." Sakura nickte, aber innerlich stöhnte sie auf. Wenn Shizune bereits ihre Bedenken äußerte und bisher hatte sie immer damit Recht gehabt, dann erwartete sie wahrlich nichts Gutes. Nur ungern erinnerte sich Sakura daran, welches Chaos entstanden war, als sie zwei Häftlinge betreuen mussten.
Ohne Umwege marschierte Sakura aus dem Fahrstuhl heraus in die Umkleide und tauschte ihre Alltagskleidung gegen die des Krankenhauses. Sie nahm ihren Kittel in die Hand und machte sich unweigerlich auf den Weg zu Tsunade-samas Büro. Bevor sie anklopfte, atmete sie noch einmal tief durch.
„Herein", erklang es genervt.
Sakura öffnete vorsichtig die Tür, als würde sie erwarten, dass ihr jemand jeden Moment ins Gesicht springen könnte. Tsunade saß hinter ihrem Schreibtisch, mit einem Becher in der Hand und hing über einer Akte. Sie blickte nur kurz auf und wandte sich dann wieder ihrer Akte zu. Sakura kannte dies bereits. Das war nicht das erste Mal, dass es so ablief. Sie würde sich gedulden müssen, bis Tsunade ihren Gedanken abgeschlossen hatte und das konnte manchmal dauern. Nach gut einer Minute, in der Sakura wie angewurzelt mitten im Büro gestanden hatte, genehmigte Tsunade sich einen Schluck aus dem Becher und sah sie an.
„Das hat lange gedauert", sagte sie zu ihr.
„Tut mir Leid", antwortete Sakura, „ich kam gerade unter der Dusche hervor, als ich die Nachrichten sah."
„Ich dachte, du hättest dein Telefon bei einem Freund im Wagen vergessen?", hakte Tsunade nach, während Sakura innerlich fluchte.
„Stimmt auch, meine Freundin kam da gerade vorbei und brachte es mir. Es war ihr auch nur dadurch aufgefallen, dass es ständig vibriert hat."
„Wie auch immer", Tsunade warf einen weiteren Blick auf die Akte. „Wir haben einen neuen Patienten bekommen, gestern Abend. Ich gehe davon aus, du hast von der Uchiha Cooperation gehört?"
„Ja, eine der größten Firmen des Landes", antwortete Sakura, „geleitet von der Familie Uchiha."
„Genau. Im Moment hat den Vorsitz noch Fugaku Uchiha, doch es sind bereits seit längerem Gerüchte im Umlauf, dass auf kurze oder lange Sicht sein Sohn Itachi die Geschäfte übernehmen soll. Uchiha Itachi ist ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft, bisher durch nichts negativ aufgefallen. Immer öfter hat man ihn in der letzten Zeit bei öffentlichen Veranstaltungen gesehen, wo er seinen Vater vertreten hat – deshalb auch die Gerüchte. Am gestrigen Tag hat man Itachi in seinem Wochenendhaus schwerverletzt aufgefunden. Zwei seiner Sicherheitsmänner waren bereits tot. Man brachte ihn hierher und ich habe alles in meiner Macht stehende getan, um sein Leben zu retten. Die nächsten 24 Stunden werden darüber entscheiden, ob er diesen ganzen Vorfall überlebt, oder nicht." Tsunade verstummte fürs erste und warf erneut einen Blick auf die Akte, die vor ihr lag. Sie seufzte und Sakura begann sich zu fragen, was sie mit der ganzen Sache zu tun hätte.
„Wieso bin ich hier?"
„Weil ich Unterstützung brauche", antwortete Tsunade, „ich brauche Jemanden an meiner Seite, der mich in seiner Behandlung unterstützt und dem ich vertraue."
„Wieso mich? Wieso habe Sie nicht Shizune gefragt?"
„Ich habe Shizune in Betracht gezogen. Doch dachte ich mir letztlich, dass es eine lehrreiche Situation für dich wäre. Es wird immer wieder vorkommen, dass du Patienten behandeln musst, die Einfluss besitzen. Zudem bin ich auch noch da, um dich anzuleiten." Tsunade lehnte sich zurück und betrachtete Sakura. „Fangen wir am besten gleich an. Deine Haare sind zerzaust; richte sie bevor wir gleich das Krankenzimmer aufsuchen und achte stets darauf, dass deine Kleidung ordentlich und sauber ist. Mehr noch, als du es sonst tun sollst. Leute wie die Uchiha, achten ganz genau darauf, wie eine Person auftritt. Gerade Körperhaltung, spreche deutlich und achte auf deine Wortwahl. Die Schwierigkeit im Fall Uchiha besteht darin, dass die Familie über die zukünftige Situation des Krankenhauses entscheiden wird. Bauen wir Mist, werden wir wahrscheinlich von den besten Anwälten des Landes verklagt. Machen wir unsere Sache jedoch gut... Nun in den letzten Jahren haben sie uns auch schon sehr großzügige Spenden zukommen lassen, die sehr zum Ausbau des Krankenhauses beigetragen haben. Dennoch, sollte man sich nicht alles von diesen Leuten bieten lassen. Manchmal sind die Forderungen von solchen Leuten nämlich einfach nur absurd. Die Uchihas möchten beispielsweise Itachi sofort nach Hause verlegen lassen, sowie sein Zustand stabil ist." Das letzte murmelte sie nur aufgebracht vor sich hin.
„Verstehe", antwortete Sakura und fuhr sich durch die Haare.
„Ich muss als Leiterin dieser Station auch noch andere Aufgaben erfüllen, daher kann ich mich nicht rund um die Uhr um Uchiha Itachi kümmern. Deine einzige Aufgabe wird es sein, solange er hier ist, alles in deiner Macht stehende zu tun, dass sein Zustand sich schnell wieder verbessert."
Sakura schluckte. Einerseits fühlte sie sich geehrt, dass Tsunade ihr solch eine Aufgabe übertrug, auf der anderen Seite jedoch, machte sich das ungute Gefühl in ihr breit, dass der kleinste Fehler, große Konsequenzen für sie haben könnte. Doch für einen Moment schob sie diese Bedenken beiseite. ‚Sieh es als Chance', rief ihre innere Stimme, ‚Tsunade und diesen dämlichen Uchichas zu zeigen was in dir steckt. Vielleicht wirkt es sich positiv auf deine Karriere aus.' Sakura schnaufte fast unmerklich.
„In Ordnung, wann fange ich an?", fragte sie Tsunade.
„Jetzt sofort", antwortete diese, „ich brauche nämlich mal eine Pause. Folge mir." Tsunade stand auf und verließ ihr Büro. Sie führte Sakura den Gang entlang und das erste merkwürdige, das Sakura wahrnahm war, das man eine der Feuerschutztüren verschlossen hatte. Zudem hatte sich ein stämmiger Mann im schwarzen Anzug direkt neben der Tür positioniert. Er versuchte noch nicht einmal zu verheimlichen, dass er Tsunade und besonders Sakura ganz genau musterte. Shizune hatte sie ja bereits vor externen Sicherheitskräften gewarnt.
„Ausweis", raunte er nur. Tsunade hielt ihm ihren Krankenhausweis hin und Sakura tat es ihr gleich. Der Mann nickte Tsunade zu und öffnete die Tür. Sakura wollte folge, wurde jedoch von dem Mann zurückgehalten.
„Sie ist meine Assistentin", sagte Tsunade bissig, „sie wird mir ab sofort helfen. Ich habe ihren Sicherheitschef bereits darüber informiert."
Der Mann zögerte einen Moment, dann lies er Sakura jedoch hindurch. Als die Tür sich wieder schloss, konnte Sakura noch im Augenwinkel sehen, wie der Mann nach einem Smartphone griff. „Höchste Sicherheitsstufe. In diesen Trakt kommt im Moment nur, wer dem Sicherheitspersonal bekannt ist. Trage immer deinen Ausweis bei dir und achte darauf, dass du diesen nicht verlierst", erklärte ihr Tsunade. „Wir haben sämtliche anderen Patienten verlegt, so dass nur Itachi in diesem Trakt ist. Die Polizei befürchtet, dass man erneut versuchen könnte ihn umzubringen und wir wollen kein Risiko eingehen. Solltest du verdächtige Personen im oder um das Krankenhaus beobachten so melde dies bitte der Polizei oder dem Sicherheitspersonal der Familie Uchiha."
Tsunade führte sie den Gang hinunter und Sakura kam nicht ohnehin einen Blick in die leeren Krankenzimmer zu werfen, deren Türen verwunderlicher Weise alle offen standen. Gerne hätte sie gewusst, wie man dies den Patienten und Angestellten erklärt hatte. Normal war dies nämlich ganz und gar nicht. Am Ende des Ganges befand sich wie in allen anderen Stationen ein Tresen, an dem sich normalerweise die Krankenschwestern aufhielten und den Papierkram erledigten. Heute saß hier aber allein Ayumi, die Sakura freudig anlächelte.
„Wie geht es ihm?", fragte Tsunade sie.
„Sein Zustand hat sich minimal gebessert", antwortete Ayumi, „aber er war bisher noch nicht wieder bei Bewusstsein."
„Das ist bedauerlich", antwortete Tsunade lediglich. Sie ging hinüber zum Krankenzimmer und sah durch die Scheibe hindurch auf den bewusstlosen Itachi. Sakura konnte nicht leugnen, dass die unzähligen Schläuche und Kabel bei Patienten sie jedes Mal aufs Neue erschreckten. Es dauerte einen Moment bis Sakura bemerkte, dass auch noch Jemand mit bei ihm im Zimmer saß.
„Es wird auch immer Jemand bei ihm sein", Tsunade war Sakuras Reaktion nicht entgangen. „Du hast dich bereits um schwere Fälle gekümmert, nicht wahr? Du wirst vorgehen, so wie du es gelernt hast – nur noch intensiver. Du kontrollierst öfters, notierst alles haargenau und jede Veränderung an seinem Zustand wird sofort gemeldet, verstanden?"
„Ja, Tsunade-sama", antwortete Sakura und nickte.
„In Ordnung", antwortete diese, „fürs erste war es das. Ich lasse es dich wissen, wenn ich noch etwas anderes von dir verlange." Mit diesen Worten wandte sie sich ab und verschwand wieder. Sakura wandte sich von dem Fenster ab und öffnete die Tür zum Krankenzimmer. Sofort stand der Sicherheitsbeamte auf und sie zeigte ihm, wenn auch etwas zögerlich, ihren Ausweis.
„Ich bin Tsunade-samas Assistentin", sagte sie, „solange Tsunade-sama nicht hier ist, werde ich Uchiha-sama beaufsichtigen." Der Sicherheitsbeamte, warf einen Blick auf eine Liste, nickte und setzte sich dann wortlos wieder. Sakura trat näher an das Bett heran und betrachtete Uchiha Itachi. Sie glaubte in dem Moment, dass sie ihn schon einmal auf einem Foto gesehen hatte; konnte sich aber nicht mehr daran erinnern, wo dies gewesen war. Seine Haut war fast schneeweiß und seinen langen, schwarzen Haare zusammengebunden, so dass sie nicht störten. Im Gegensatz zu den meisten anderen Patienten, war sein Gesicht nicht entspannt. Man sah ihm an, dass er Schmerzen hatte. Sakura griff nach seiner Akte und begann zu lesen. Mittlerweile verstand sie, was Tsunade meinte, als sie davon sprach, dass es haarscharf gewesen sei. ‚Da schützt einen auch nicht alles Geld oder Einfluss auf der Welt', dachte Sakura sich und begann mit ihrer Kontrolle. Zehn Minuten später war sie fertig und legte die Krankenakte zurück. Sie sah den Sicherheitsmann an und sagte leise, „wenn etwas sein sollte, ich bin draußen bei der Schwester." Daraufhin verließ sie das Zimmer und ließ sich neben Ayumi auf einen Stuhl fallen.
„Ich stelle die Uhr", sagte diese und zog eine Eieruhr vor sich auf 30 Minuten auf.
„Wie lange bist du hier?", fragte Sakura sie.
„Seit heute Nacht um fünf", antwortete sie, „Tsunade hat mit mitten in der Nacht wach geklingelt. Meinem Mann hat das überhaupt nicht gefallen und mir auch nicht..." Das letzte flüsterte sie leise, als hätte sie die Befürchtung, dass Jemand die beiden belauschen könnte.
„Ist außer dem Sicherheitspersonal niemand hier?"
„Nein, im Moment nicht", antwortete Ayumi und senkte ihre Stimme wieder, „als ich heute Morgen ankam, war die Familie Uchiha gerade dabei zu gehen. Tsunade hatte sie nach Hause geschickt. Ich denke, ein oder zwei Stunden haben wir noch Ruhe, bevor sie wieder hier auftauchen."
„Wie sind Sie so?"
„Schwer einzuschätzen", antwortete Ayumi und zuckte mit den Schultern, „es waren nur seine Eltern hier. Der Vater hat die ganze Zeit ziemlich ernst drein geblickt und die Mutter sah aus, als hätte sie stundenlang geweint. Ich habe mit keinen von beiden ein Wort gewechselt, aber ich denke, wenn wir uns gedulden, werden wir es noch herausfinden."
Die nächste Stunde verlief relativ ruhig. Sakura kontrollierte zweimal noch den Zustand von Itachi und berichtete Tsunade von seinem Zustand; ansonsten saß sie neben Ayumi und unterhielt sich ein bisschen mit ihr. Die größten Sorgen machte ihr mittlerweile ihr Magen, denn sie hatte seit dem vorigen Abend nichts mehr gegessen. Ayumi versicherte ihr, die Stellung zu halten und nach einigem Zögern verließ Sakura die Station, um sich in der Krankenhauscafeteria etwas zu Essen zu besorgen. Sie kehrte zurück und musste mit Überraschung feststellen, dass Ayumi und sie nun nicht mehr alleine waren. Ein junger Mann mit schwarzen Haaren stand vor dem Fenster von Itachis Zimmer und starrte diesen an. Sakura deutete Ayumi gegenüber auf den Mann, worauf diese ihr kurz etwas auf ein Papier kritzelte: Uchiha Sasuke – Bruder.
Im gleichen Moment begann die Eieruhr zu klingeln. Sasuke zuckte kurz zusammen, drehte sich jedoch nicht um. Sakura legte ihr Sandwich zur Seite und ging auf ihn zu. ‚Sei nett und höflich, stelle dich kurz vor und beantworte alle Fragen die er hat", dachte sie, „mach einfach das, was Tsunade dir gesagt hat.' Sie zwischen ihm und der Tür stehen und verbeugte sich kurz. Er drehte seinen Kopf leicht zur Seite.
„Mein Name ist Haruno Sakura, ich bin Tsunade-samas Assistenzärztin und wurde damit beauftragt ihren Bruder zu überwachen", sagte Sakura und blickte ihn etwas erwartungsvoll an. Er kam ihr ziemlich vertraut vor – als hätten die beiden sich bereits einmal gesehen. ‚Wahrscheinlich ein Deja vu', schlussfolgerte sie, ‚vielleicht habe ich ihn mal auf einem Bild in der Zeitung oder einer Zeitschrift gesehen'. Sie erhielt lediglich ein „hm" als Antwort.
„Möchten Sie mit herein kommen? Sie brauchen nicht auf dem Flur stehen bleiben", bot Sakura ihm an, nachdem Sie die Tür zum Krankenzimmer geöffnet hatte. Wieder gab er ihr keine Antwort. In Ordnung, sie hatte verstanden. Er hatte keinerlei Interesse sich irgendwie mit ihr zu unterhalten. Sakura kontrollierte in den folgenden Minuten alle Punkte auf ihrer Liste, wie bereits bei den vorherigen Malen. Als sie das Krankenzimmer wieder verließ blieb sie neben Sasuke stehen und sagte leise zu ihm, „der Zustand ihres Bruders hat sich leicht verbessert, aber er ist noch nicht außer Lebensgefahr."
Ein weiteres Mal bekam Sakura ein „hm" zu hören und während sie zurück an ihren Platz ging, verdrehte sie, für Sasuke nicht sichtbar, die Augen. Ayumi konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen und zuckte mit den Schultern. ‚Glaubt dieser Typ, er sei zu gut, um mit mir zu reden?', dachte Sakura und schüttelte den Kopf, während sie genüsslich in ihr Sandwich biss. Sie betrachtete ihn für einen Augenblick. ‚Man könnte meinen, er sei einfach irgendein Typ von der Straße. Ganz normal gekleidet, mit seiner Jeans und seiner... Er...', die Erkenntnis traf sie hart. ‚Er ist der Perversling von gestern. Der Typ der mir in den Ausschnitt gestarrt hat...'
Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und fluchte innerlich mehrmals. Den Vorfall hatte sie nicht vergessen und da wäre ihr dieser betrunkene Lee tatsächlich noch lieber gewesen. Ein Teil von ihr wäre ihm am liebsten in diesem Moment an den Hals gesprungen, doch das wäre sicherlich beruflicher Selbstmord. Es war ja so, wie Tsunade es gesagt hatte; die Uchihas hatten Geld und sehr viel Einfluss. Es wurde von ihr erwartet, dass sie nett und höflich zu ihnen sei. Sakura schnaufte kurz. ‚Dämlicher Uchiha, glaubt wohl er könnte sich alles erlauben!'
Sakura beobachtete ihn für eine Weile. Auch wenn sie ihn nicht sofort erkannt hatte, er sie wahrscheinlich schon – spätestens auf Grund ihrer markanten Haarfarbe. Sie wunderte sich, dass er zur ihr nichts weiter gesagt hatte, doch letztlich fragte sie sich selbst, was sie dann erwarten würde: Das sie beide den Streit vom Vortag weiterführen würden? Sakura überlegte, ob seine Antworten deshalb so kurz ausgefallen waren. Oder ob er vielleicht dachte, dass sie ihn nicht wieder erkennen würde. Letztlich musste sie sich selber zwingen, aufzuhören ihn anzustarren. ‚Hinterher glaubt er noch, dass du auf ihn stehst!'
Nach zehn Minuten wandte er sich dann von dem Fenster ab, während Ayumi gerade in dem Krankenzimmer nach den Infusionen sah. Er setzte sich wieder die Kapuze seiner Sweatshirtjacke auf. Anscheinend sollte ihn niemand erkennen. Sakura ging nicht davon aus, dass er an einer höflichen Konversation mit ihr interessiert war und wandte sie wieder der Akte zu, die vor ihr lag. Dennoch beobachtete sie ihn weiterhin im Augenwinkel. Zu ihrer Überraschung blieb er direkt vor ihr stehen und sah auf sie hinab.
„Es freut mich, dass Sie meinen Ratschlag befolgt haben und nun etwas tragen, das ihnen steht", sagte er leise. Dann ging er weiter, als wäre nie etwas gewesen.
Irritiert sah Sakura an sich herunter. Sie trug das gleiche Outfit wie die meisten hier im Krankenhaus: ein viel zu weites hellblaues T-Shirt mit passender Hose. Unter Kollegen wurde gescherzt, dass selbst ein Kartoffelsack mehr Stil hätte.
‚Was?', fuhr es ihr lediglich durch den Kopf. Wie von einer Tarantel gestochen sprang sie auf und lief ihm hinterher. ‚Oh, das wird jetzt lustig', schrie die innere Sakura auf. Um ehrlich zu sein, dachte sie nicht darüber nach, welche Konsequenzen dies letztendlich für sie haben könnte. Sie war so sehr in Rage, fühlte sich so gedemütigt – von einem reichen, arroganten Schnösel, dass sie ihn nur noch zur Rede stellen wollte. ‚Dämlicher Uchiha, dämlicher, dämlicher Uchiha', ertönte es immer wieder in ihrem Kopf.
Mit einem letzten Satz schaffte sie es zu ihm in den Fahrstuhl. Er sah sie interessiert an, sagte jedoch kein Wort. Auch Sakura stand einen Moment lang da und starrte ihn einfach nur an, bis die Türen des Fahrstuhls sich schlossen und sie sich in Bewegung setzten. „Ich erwarte eine Entschuldigung von Ihnen", sagte sie leise und so freundlich wie es ihr in diesem Moment möglich war.
„Eine Entschuldigung? Von mir?", fragte er und wirkte Recht belustigt. „Wieso sollte ich mich bei Ihnen entschuldigen?"
Sakura atmete tief ein, „ich weiß nicht, vielleicht weil sie mir gestern in den Ausschnitt gestarrt haben. Oder vielleicht auch wegen ihrer Beleidigung, von vor einer Minute..."
„Tss", gab er von sich, „manche von uns müssen arbeiten und haben für solche Albernheiten einfach keine Zeit."
Ein heißer Schauer lief Sakura den Rücken herunter. Wie konnte Jemand so gut aussehen und gleichzeitig so ein verdammter Arsch sein. ‚Seien wir ehrlich, nachdem was Tsunade dir zu Beginn gesagt hatte, darfst du eigentlich nichts anderes erwarten... Uchiha stehen halt über allem', kam ihr der Gedanke, doch Sakura war dafür zu impulsiv, ‚Moment. Habe ich gerade zugegeben, dass er gut aussieht?' Ohne großartig zu zögern, drückte sie den Hebel an der Seite des Fahrstuhles herunter und die ganze Maschinerie kam zum Erliegen.
„Was...", er sah sie leicht irritiert an, „was haben sie getan?"
„Sie haben sich gestern und heute sehr unangemessen mir gegenüber verhalten", fuhr sie bedacht fort, „insofern erwarte ich zumindest ein Entschuldigung von Ihnen." Für einen Augenblick herrschte in dem Fahrstuhl beängstigende Stille. Sakura kam nicht ohnehin sich zu fragen, was wohl als nächstes geschehen würde. Als sie den Ausdruck auf seinem Gesicht sah, waren ihre Hoffnungen auf eine Entschuldigung seinerseits dann doch sehr gering.
„Ich sehe es nicht ein, mich bei Ihnen zu entschuldigen", sagte er verbittert, „und nun sorgen Sie dafür, dass wir weiterfahren."
„Nein, das werde ich nicht tun. Glauben Sie wirklich, dass sie sich alles erlauben können, nur weil sie viel Geld haben...?" Sakura musste diese Sache nun durchziehen. Wenn sie einen Rückzieher machen würde, käme dies einem Gesichtsverlust gleich.
„Nicht nur viel Geld, sondern auch viel Einfluss", raunte er und beugte sich zu ihr herunter, so dass beide auf gleicher Augenhöhe waren. Erst in diesem Moment fiel Sakura auf, dass er gut einen halben Kopf größer war, als sie. „Die Uchiha-Cooperation hat diesem Krankenhaus bereits sehr viel Geld gespendet. Wir sind hier sehr gern gesehene Gäste – was wird wohl passieren, wenn wir uns über eine kleine, lausige Assistenzärztin beschweren? Na, wollen wir raten?"
Sakura antwortete nicht, denn sie erkannte genau in diesem Moment, dass sie mit dem Feuer gespielt und sich zugleich auch verbrannt hatte. Sie betätigte den Hebel erneut und der Fahrstuhl setzte sich wieder in Gang. „Sie wissen, dass ich Recht habe", sagte sie leise zu ihm, „lassen sie mich feuern, es wird an der Wahrheit aber nichts ändern."
Diese Worte waren Taktik. Sakura wollte ihm ein schlechtes Gewissen machen und darüber auch davon abhalten, sich bei der Krankenhausleitung über sie zu beschweren. Ob ihr Versucht von Erfolg gekrönt war, würde sich erst mit der Zeit zeigen.
Er antwortete nicht darauf und es wunderte sie überhaupt nicht. Ohne ein weiteres Wort verließ Sakura den Fahrstuhl auf der nächsten Station und als sie endlich wieder alleine war, entfuhr ihr ein Seufzer. ‚Was habe ich nur getan? Verdammt, ich habe mich wahrscheinlich gerade in große Schwierigkeiten gebracht', stöhnte sie innerlich auf, ‚ich bin wirklich ein vollkommener Idiot.'
„Sakura, was tust du hier?", ertönte es hinter ihr, während Sakura noch damit beschäftigt war, sich innerlich in den Hintern zu treten. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken herunter. Sie wandte sich um und sah Tsunade direkt vor sich stehen.
„Ich... ich war auf der Suche nach Ihnen, Tsunade-sama", plapperte sie und lächelte diese gezwungenermaßen an.
„Du solltest doch bei", Tsunade verstummte, „du weißt schon... sein." Sie sah nicht sonderlich erfreut aus, Sakura hier zu treffen und Sakura war sich dessen auch bewusst. ‚Lass dir schnell was einfallen, bevor du wirklich am Ende des Tages noch ohne Job dar stehst'.
„Sie wollten doch, dass ich Ihnen über den Zustand berichte", antwortete Sakura und nickte ein paar Mal.
„Ah", antwortete Tsunade überrascht und wirkte plötzlich positiver, „gibt es gute Neuigkeiten?"
„Minimale Besserung", antwortete Sakura.
„Immerhin etwas", Tsunade seufzte, „sind Familienmitglieder da?"
„Sein Bruder war kurz hier. Aber er ist wieder gegangen", entgegnete sie ihrer Mentorin und hoffte, dass die beiden nicht in der nächsten Zeit – oder gar jemals – miteinander sprechen würden. Das letzte was sie aktuell gebrauchen konnte, war das er sich bei Tsunade über sie beschwerte. „Sicherlich kommen die Eltern später noch einmal vorbei."
„Gut, gib mir Bescheid, wenn die Eltern da sind. Zudem wird der Neurologe auch gleich zu euch kommen", erklärte Tsunade und stemmte die Hände in die Hüften, „das nächste Mal sende mir gefälligst eine Nachricht per Mail oder auf meinen Pager. Du kannst nun gehen."
„Ja, Tsunade-sama", antwortete Sakura und ging zurück zum Fahrstuhl.
‚Das ist ja noch einmal gut gegangen', raunte es in ihrem Kopf. ‚Ich bin eine verdammte Idiotin!'
