Jahr 4

Kapitel 3 - Der Irrwicht

Die ersten Unterrichtstage des neuen Schuljahres verliefen ohne weitere Vorkommnisse. Als Amina am Mittwochnachmittag das Lehrkräftezimmer betrat, waren dort nur ein gut gelaunter Remus Lupin und ein ebenso gut gelaunter Filius. Amina grüßte beide mit einem Kopfnicken und setzte sich auf ihren üblichen Platz.

„Amina, sagen Sie, hatten sie schon das Vergnügen, Miss Granger bei sich im Unterricht zu haben? Sie belegt dieses Jahr alle Fächer.", begann Filius ein Gespräch. Amina sah ihn aus ruhigem Auge an. „Ja, hatte ich. Gleich in der ersten Stunde am Montag. Sie ist zwar eine Besserwisserin, aber definitiv nicht unfähig.", antwortete sie ihm. Filius lachte. „Ja, da stimme ich Ihnen zu, aber alle Fächer sind schon viel für ein so junges Mädchen." „Ich denke dieses Jahr wird sie es noch meistern. Für das nächste Jahr wird sie bestimmt zwei bis drei Fächer abwählen.", überlegte Amina. Filius nickte zustimmend.

„Wie kommen Sie darauf?", fragte Lupin interessiert. „Miss Granger ist muggelgeboren und schlau. Muggelkunde dürfte also für sie reine Zeitverschwendung sein. Wie sich in den letzten zwei Jahren herausgestellt hat, ist sie auch ein sehr logisch denkender Mensch, der sich gerne auf Fakten verlässt. Wahrsagen ist dementsprechend das genaue Gegenteil von ihr. Da wären wir also schon bei zwei Fächer. Das dritte ist die Variable, dass ihr eines der noch übrigen Fächer aus anderen Gründen nicht gefällt. Da ich sie selbst erst seit wenigen Tagen in meinem Unterricht sitzen habe, kann ich dazu noch nichts Genaues sagen." Amina stand auf und ging zu einem der Schränke, in dem leere Bögen Pergament lagen, während sie redete. Diesen öffnete sie und wurde sogleich von einem Schrei empfangen. Sie ging einige Schritte zurück und sah ein steinernes dreieckiges Gebäude. Sie ließ ihren Zauberstab aus der Tasche schießen und richtete ihn auf dieses. Es drangen immer wieder Schreie daraus hervor. Sie fing an zu zittern.

„Nicht…bitte.", flüsterte es an ihrer Seite. Remus war neben sie getreten und das Gebäude verwandelte sich zu einem silbernen Ball. Es sollte wohl den Mond darstellen. „Wenn Sie erlauben…?", sprach Lupin und verfrachtete den Ball zurück in den Schrank. Aminas Herz schlug schnell. Mit einem Irrwicht hatte sie nicht gerechnet. Es kam immer mal wieder vor, dass sich ein solches Wesen in Hogwarts einnistete, aber noch nie im Lehrkräftezimmer. „Alles in Ordnung?", fragte der Werwolf sie besorgt. Amina nickte. „Ich hatte nur nicht damit gerechnet. Wollen Sie ihn für den Unterricht?", fragte sie ihn gleichmütig und lief wieder zu ihrem Platz. Dann bekam sie eben kein Pergament. „Genau. Die Klasse aus dem dritten Jahrgang wird bestimmt um einiges mehr Spaß an einem echten Irrwicht als an langweiliger Theorie.", lächelte der schäbig aussehende Lehrer sie an.

„Das ist eine gute Idee, Remus. Sie haben die Klasse morgen, nicht wahr?", fragte Filius mit glänzenden Augen. „Genau. Das wird bestimmt eine tolle Stunde.", sprach dieser begeistert. Amina schnaubte abfällig. „Potter ist in dieser Klasse. Sie sollten ihm kein Irrwicht vor die Nase setzen." „Ich denke, das lässt sich regeln. Wollen Sie nicht zusehen? Sie haben meines Wissens nach zu der Zeit eine Freistunde.", bot er ihr lächelnd an. Sie merkte, dass er es nicht wirklich ernst meinte, doch sie nickte. „Gerne." Sie sah seine Überraschung. Filius quiekte entzückt.

„Amina, Sie kennen sich doch mit Verteidigungszaubern aus, was denken Sie, kann man einen Irrwicht auch passiv abwehren. Ganz ohne sich darauf konzentrieren zu müssen?", fragte der kleine Lehrer interessiert. Amina nickte. „Ein Ahlekela könnte es. Aber er würde ihn nur fernhalten. Nicht, wie der Riddikulus verändern oder gar vernichten." Lupin setzte sich interessiert. „Was ist das für ein Zauber? Ich habe noch nichts von ihm gehört." „Eine Art Lach-Zauber. Er stammt aus Afrika und erzeugt eine Aura, die dafür sorgt, dass, sobald sich eine ungebetene Gestalt nähert, ein für sie unangenehmes Lachen zu hören ist. Eigentlich braucht man diesen Zauber nicht wirklich. Er wird vor allem in Afrika gerne benutzt, um andere bloßzustellen, aber da Irrwichte nicht mit Gelächter umgehen können, verschreckt es sie.", erklärte sie mit ruhiger Stimme. Der Verteidigungslehrer nickte bedächtig.

„Warum unterrichten Sie dieses Fach nicht? Sie scheinen einiges darüber zu wissen.", fragte er schließlich. „Weil ich es nicht will. Ich bin mit Arithmantik und Alchemie sehr zufrieden. Zudem hat schon lange keine Lehrkraft mehr als ein Jahr dieses Fach unterrichtet. Ich hatte eigentlich vor länger in Hogwarts zu bleiben." Sie stand auf und sammelte ihre Materialien zusammen. „Verstehe. Darf ich Sie fragen, was das vorhin für ein Gebäude war?", wechselte Lupin abrupt das Thema. Amina verzog das Gesicht, als sie daran dachte. Eigentlich sollte man meinen, Lupin kenne dieses Gebäude. Schließlich kannte jeder Zauberer und jede Hexe zumindest dessen Namen. „Es war Askaban.", antwortete sie dann und verließ den Raum. Ihre nächste Stunde würde demnächst beginnen.

Am Vormittag des folgenden Tages betrat Amina nach ihrer Alchemie-Stunde das Lehrkräftezimmer. Severus saß auf einem der Sessel und studierte ein Dokument. Sonst war keiner in dem Raum. Also lief Amina auf ihn zu und küsste ihn zur Begrüßung. Dann setzte sie sich in den Sessel, neben seinem. Severus schmunzelte. „An so eine Begrüßung könnte ich mich gewöhnen." „Die bekommst du doch immer, wenn wir allein sind.", antwortete sie ihm. „Das schon, aber ich habe sie noch nie hier bekommen.", sagte er. „Nah wenn das so ist…", sprach Amina und beugte sich rüber, um ihn nochmals zu küssen. Er erwiderte ihn zärtlich. Sie ließ von ihm ab, als sie merkte, dass sich Lupin mit seiner Klasse dem Büro näherte.

„Lupin kommt mit Mr. Potters Klasse.", erklärte sie ihm. Er nickte und wandte sich wieder dem Dokument zu. Amina nahm ein Buch aus ihrer Tasche und begann so zu tun, als würde sie lesen. Keine Minute später betrat Lupin den Raum, gefolgt von seiner Klasse. Severus packte das Dokument weg und sagte dem Verteidigungslehrer, er könne die Tür auflassen. Nach einigen bissigen Kommentaren seitens Severus und den Kontern von Lupin verlies Severus dann endgültig den Raum.

Die Teenager sahen sich neugierig um. Der Verteidigungslehrer begann den Unterricht und erklärte kurz, dass sie diesem aus Interesse beiwohnen würde. Als die Aufmerksamkeit der Lernenden auf dem Schrank mit dem Irrwicht lag, legte Amina den Ahlekela-Zauber auf sich und beobachtete das Geschehen. Als Longbottom verkündete, er habe Angst vor Professor Snape musste sie schmunzeln. Von dem braunhaarigen Lehrer konnte sie ein leises: „…wer fürchtet den nicht?(15)" hören. Severus konnte den jungen Longbottom nicht ausstehen. Bei ihm war es auch keinesfalls gespielt. Der Junge schaffte es nie ohne Hilfe einen Tank korrekt zu brauen und das missfiel dem Tränkemeister zutiefst.

Einige Minuten später stand Severus vor dem Schüler und sah ihn streng mit seinen dunklen Augen an. Dann fing er an, sich drohend auf ihn zu zubewegen. Amina kam nicht umhin, ihn dabei attraktiv zu finden. Auch wenn seine Augen nicht die Wärme ausstrahlten, die sie sonst aus ihnen gewohnt war. Der Junge sprach zögernd den Zauber und Severus hatte plötzlich die Kleidung einer Frau an. Als Amina den Kopfschmuck betrachtete, verzog sie missbilligend das Gesicht. Ein ausgestopfter Geier zierte den Hut. Geschmacklos, wie Amina fand. Doch die Klasse brach in schallendes Gelächter aus. Sie bemerkte, wie Lupin kurz zu ihr blickte, ignorierte ihn jedoch und sah wieder mit ausdruckslosem Gesicht auf den Irrwicht. Dieser schien verwirrt zu sein und wandte sich dann einer Schülerin zu, die hervortrat.

So ging es weiter bis zu Weasley, der einer riesigen Spinne die Beine nahm und diese anfing durch den Raum zu kugeln. Eine Schülerin schrie entsetzt. Als die Spinne bei Amina vorbeirollte, verwandelte sie sich für Sekunden wieder in das Gefängnis, doch der Zauber verschreckte den Irrwicht so sehr, dass er wieder in die Beinlose-Spinnenform glitt und von ihr wegkugelte. Direkt vor die Füße von Potter. Amina hätte es wissen müssen. Lupin reagierte schnell und schickte den Irrwicht wieder zu Longbottom. Amina sah zu, wie dieser Severus wieder lächerlich machte, nur um diesen in tausend Teile zerspringen zu lassen. Ein Anblick, der Amina das Herz brach, auch wenn sie wusste, dass es nicht der echte Severus war.

Nachdem die Klasse das Lehrkräftezimmer verlassen hatten, zog Amina abermals ihren Zauberstab und löste den Zauber von sich. „Und, was sagen Sie?", fragte Lupin, der sich in den Sessel neben sie gesetzt hatte. „Dass ich es Ihnen mit Potter gesagt habe. Sie hätten ihn jedoch machen lassen können. Der Irrwicht wäre zu ein Dementor geworden.", antwortete sie ihn monoton. Er runzelte die Stirn. „Wie kommen Sie darauf?", fragte er. Sie sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an. „Ich kann Gedankenlesen, schon vergessen? Potter neigt dazu, seine Gedanken eher rauszubrüllen, anstatt sie für sich zu behalten." „Verstehe. Warum haben sie Nevilles Werk so missbilligend angesehen? Stimmen Sie Snape etwa zu, dass er unfähig ist?" Der Lehrer hatte ihrem Blick wohl missverstanden.

„Der Junge hat seine Sache gut gemacht. Es war der Kopfschmuck, der mir missfiel. Ich halte nichts von der Zurschaustellung toter Tiere als Dekoration oder Schmuck.", erwiderte sie und stand dabei auf. „Ach Sie meinen den Geier auf dem Hut. Verstehe. Dann entschuldigen Sie, dass ich es falsch verstanden habe." Er lächelte sie an. Sie sah ihn kühl an. „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Longbottom ist tatsächlich in vielem unfähig. Mein Blick hätte durchaus ihm gelten können.", sprach sie dann und verließ den Raum. Sie spürte seinen durchdringenden Blick in ihrem Rücken, als sie die Tür des Lehrkräftezimmers schloss.

Am Abend lag Amina mit dem Kopf auf Severus' Schoss und las ein Buch. Er strich ihr geistesabwesend übers Haar und hatte seine Nase ebenfalls in ein Buch gesteckt. Sie beide hatten an diesem Abend keine Aufsicht und hatten sich vorgenommen, mal wieder einen ruhigen Abend zu zweit zu verbringen. Amina hatte ihm noch nichts von der Unterrichtsstunde erzählt, wusste aber, dass er noch danach fragen würde. Viele der Lernenden hatten heute gekichert, sobald sie ihn sahen.

Nach einer guten Stunde der schweigsamen Zweisamkeit fragte Severus schließlich. Amina verzog gequält das Gesicht, als sie daran dachte. „Aus pädagogischer Sicht war es wohl die erste vernünftige Stunde in Verteidigung gegen die Dunkeln Künste, die die Klasse je hatte.", antwortete sie ausweichend. Severus zog eine Augenbraue hoch und sah sie skeptisch an. „Aber?" Amina seufzte und sah ihm in seine schwarzen Augen. „Dir hätte sie wohl eher weniger gefallen. Wusstest du, dass Longbottoms größte Angst du bist?" Er schüttelte leicht den Kopf, schien aber zufrieden. „Und du weißt bestimmt noch, was man tun muss, um einen Irrwicht zu vertreiben.", fuhr Amina vorsichtig fort. Severus Mine verdüsterte sich nach einigen Sekunden.

„Was hat er getan?", schnarrte er mit missbilligen, gekräuselten Mund. „Er hat dir die Kleidung seiner Großmutter angezogen.", antwortete sie. Seine Augen blitzten wütend. Amina verzog bei dem Gedanken an den Hut das Gesicht. Er sah zu ihr hinunter. „Sah ich so schlimm in ihnen aus?", fragt er, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte. Sie musste schmunzeln. „Dir stehen keine Frauenkleider vor allem nicht, wenn auf deinem Kopf ein riesiger Hut mit einem ausgestopften Geier prangt." „Warum habe ich das Gefühl, dass dich der Hut mehr stört als die Kleider?" Er strich ihr wieder durchs Haar. „Weil es vermutlich so ist. Tu mir einen Gefallen und räche dich ein wenig an dem Jungen. Für die Kleider und den Hut." Sie sah, dass sein Mund sich zu einem Kleinen aber fiesem Lächeln verzog. „Mit dem größten Vergnügen."

Es würde ihn bestimmt eine diebische Freude bereiten, den Jungen bloßzustellen. Vielleicht konnte er auch wieder eine Gelegenheit abpassen, um sich noch mehr bei Potter unbeliebt zu machen. Amina sah fasziniert auf sein Gesicht und hob ihre Hand, um ihm eine Strähne aus diesem zu streichen. „Ich habe gesehen, wie der Irrwicht in deiner Gestalt zerstört wurde.", flüsterte sie mit einem traurigen Ausdruck im Gesicht. Severus strich ihr über die Wang bis zu ihrem Schlüsselbein. „Es war nur ein Irrwicht. Mich wirst du so schnell nicht los.", versuchte er sie zu trösten. „Das hoffe ich, aber es tat weh zu sehen, wie du…stirbst."


(15) Warner Bros., 2004. Harry Potter und der Gefangene von Askaban.