Lang ist es her. Aber jetzt gibt es neues Lesefutter. Viel Vergnügen damit.
11. Kapitel – So viel Heimlichkeit
30.11.1997
Der Wind trug Nieselregen mit sich und trieb ihn in Schleiern über die Hügel. Jetzt, im Winter, war das Mosaik aus Wäldern, Wiesen, Heideland und kleinen Seen überwiegend braun. Kein Mensch war zu sehen. Dafür lag der vertraute Geruch von Torffeuern in der Luft. Dieser Duft war es, der in Medea eine völlig unerwartete Welle von Heimweh anwachsen ließ. Es war so lange her. Sie hatte die Sehnsucht überwunden geglaubt. Doch hier zu stehen, die Hügel zu sehen und die vertrauten, aber beinahe vergessenen Geräusche und Gerüche wahrzunehmen, weckte in ihr den Wunsch, nach Hause zu eilen und ihre Familie in die Arme zu schließen. Obwohl das Gut längst nicht mehr ihr Zuhause war, obwohl ihre Beziehung zur Mutter und ihren Brüdern keineswegs eitel Sonnenschein gewesen war. Aber sie konnte nicht zu ihnen, nicht, solange sie nicht wußte, was damals vorgefallen war. Ob man noch immer nach ihr suchte. Wie mochte es ihnen jetzt wohl gehen? Kenneth, drei Jahre älter als sie, hatte inzwischen sicher geheiratet. Finola und Maira, die sie in der dritten und ersten Klasse unterrichtete, mußten seine Töchter sein. Colin war acht Jahre jünger als sie selbst, er hatte bestimmt noch keine Kinder im Hogwarts-Alter. Ob Kenneth mittlerweile Familienoberhaupt war? Oder hielt ihre Mutter noch immer diese Position? Ahnte ihre Familie, warum sie damals fortgegangen war?
Inzwischen hatte sie den Stein auf der Hügelkuppe erreicht. Dicht daneben blieb sie stehen, überragt von dem mächtigen Wegpunkt, und sah hinab. Dunkel lag das Wasser in der Senke, und im fernen Dunst auf der anderen Seite schimmerten Lichter. Dort stand das Haus, in dem sie aufgewachsen war. Niemand war bei diesem Wetter draußen unterwegs. Also zog sie die graue Robe enger um sich und stieg ab zum See wie ein Schatten, der über das tote Gras kroch.
Das Wasser war eisig um ihre Finger. „Ich bin hier, ich lebe noch. Seht ihr mich in euren Träumen? Wenn ich kann, komme ich im Frühling wieder." Medea löste eine kleine Flasche von ihrem Gürtel und goß daraus Milch in den See, die sich wie eine Wolke im dunklen Wasser ausbreitete. Die Schutzgeister des Landes würden sie nicht verraten. Ihre Familie ehrte die Schlangen seit Generationen, doch Medea war die Einzige, die mit ihnen sprechen konnte. Wieder tauchte sie die Hand in die Fluten. Diesmal kroch nicht nur die Kälte unter ihre Haut. Sie fühlte Trauer, den Schmerz des Verlusts. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Ich komme wieder, wenn ich kann."
4.12.1997
Der Duft nach alten Büchern lag in der Luft und rings um sie her reihten sich die Einbände aneinander. Leder, Pappe, Stoff, beschrieben, geprägt, mal goldglänzend, mal schlicht. In diesen Schluchten des Wissens fühlte sich Hermione zuhause, und doch gab es hier vieles, was sie bisher nicht entdeckt hatte. Erst vor einigen Minuten hatte sie ein Werk über magische Artefakte gefunden, das ihr noch nie aufgefallen war – und das ein Kapitel zu Denkarien enthielt, das sie zu nutzen hoffte. Nun jedoch verfolgte sie das Spiegelprojekt. „Komplexe magische Logik" hatte sie bereits auf dem Arm. Als nächstes suchte sie im Bereich Verzauberung nach einer Materialkunde, um herauszufinden, was sie bei Glas speziell beachten mußte und ob es Einschränkungen hinsichtlich der Fassung gab.
„Kann ich dir helfen?"
Erschrocken fuhr Hermione zusammen und drehte sich zu dem herum, der sie angesprochen hatte. Slytherinwappen, dunkles Haar - Theodore. Sie atmete hörbar aus.
„Was machst du hier? Wenn uns jemand zusammen sieht..."
„Es ist keiner hier, darauf habe ich geachtet." Er senkte die Stimme weiter: „Ich verstehe, daß Du nicht über alle Pläne sprechen willst. Aber vielleicht kann ich dir trotzdem helfen."
Hermione zögerte. Das konnte eine Falle sein, ein Versuch, sie auszuhorchen. Andererseits hatte Millicent ihn eingeweiht, was ein gewisses Maß an Vertrauen rechtfertigte. Und jemand, der ähnlich viel Zeit über Büchern verbrachte wie sie selbst konnte hier durchaus von Nutzen sein. Wußte er vielleicht auch Dinge, die nicht in Hogwarts zu finden waren? Aber was, wenn er zu viel erriet? Es war besser, zunächst in sicheren Gefilden zu bleiben.
Hermione nickte. „Danke. Ich suche nach einer Materialkunde für Zauberkunst."
„Was brauchst du genau?"
Ein paar geflüsterte Worte später suchten sie gemeinsam die Regale ab und hatten bald zwei vielversprechende Bände gefunden. Da kratzte etwas an Hermiones Aufmerksamkeit.
„Psst." Die Hexe legte den Finger auf die Lippen. Sie lauschten. Da war es wieder: ein Schritt, dann noch einer. Sie hatte sich nicht verhört. Ihr Herz begann zu rasen. Sie mußten hier sofort weg, und zwar in verschiedene Richtungen. Die Schritte kamen näher. Konnte sie noch einen Stillezauber sprechen und rennen?
Noch bevor sie sich rühren konnte, um diesen verzweifelten Ausweg zu versuchen, schubste Theodore sie gegen das Bücherregal. Der Stoß war nicht sehr hart, doch kräftig genug, daß sie die Regalbretter schmerzhaft im Rücken spürte. Der Aufprall ließ sie nach Luft schnappen, doch auch die Überraschung.
„Geh mir aus dem Weg, Schlammblut!", rief Theodore und ging, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, davon. Nach wenigen Schritten hatte er das Ende der Regalreihe erreicht – wo nun Professor Malfoy stand. Der lächelte amüsiert.
„Mr. Nott, warum haben Sie nicht gezaubert, anstatt sich die Hände schmutzig zu machen?"
„Ich versuche mich an die Hausordnung zu halten Professor."
„Äh…" Es folgte ein Moment der Stille, in dem Professor Malfoy offensichtlich nach einer angemessenen Reaktion suchte. „Ja", fuhr er dann fort, „Gut gemacht. Zehn Punkte für Slytherin."
Hermione versuchte gleichsam mit dem Regal zu verschmelzen, die Bücher an sich gepreßt. Sie spürte eine leichte Übelkeit. Erst als die beiden Schlangen fort waren, entlieh sie ihre Fundstücke und zog sich in den Gryffindor-Turm zurück.
5.12.1997
Langsam und konzentriert ging Millicent an der Wand auf und ab. Ihr Gefolge wartete vor dem Gemälde gegenüber. Draco starrte gelangweilt an die Wand, Theodores Blick hingegen folgte ihr. Erleichterung wärmte sie, als die Tür erschien. Sie war nicht sicher gewesen, ob der Raum sich für sie öffnen würde. Nun aber trat sie ganz selbstverständlich ein und fand eine Sitzgruppe aus honigfarbenen Plüschsofas, Kissen und einem flauschigen Teppich. Dazwischen stand ein Tisch, an dem sie arbeiten konnten. Ein Kamin verbreitete zusätzlich Gemütlichkeit. Bei der Mischung, die sie heute zusammenführen wollte, würde sie alles brauchen, was zur Entspannung beitrug.
„Macht es euch bequem, unsere Gäste sollten bald kommen."
Draco ließ sich fallen, Theodore hingegen sah sich um. Seine Finger prüften Wände und Möbel und erfühlten die Wärme der Glut.
„Ist das dieser geheime Treffpunkt, an dem ihr die DA hochgenommen habt?"
„Ja. Der Raum paßt sich den Bedürfnissen derjenigen an, die ihn rufen."
„Hätte ich den mal eher gekannt."
Draco lachte. „So ist das eben, wenn man sich immer nur in der Bibliothek herumtreibt."
Theodore würdigte ihn nicht mit einer Antwort, und Millicent beschäftigte sich damit, eine Karaffe mit Wasser zu füllen und die Saftflaschen, die Ashley für sie aus der Küche organisiert hatte, aus der Tasche zu kramen.
Sie mußten nicht lange warten, bis sich die Tür erneut öffnete. Lisa und Ernie kamen hinzu. Der Hufflepuff grüßte sehr formell und reserviert, die Ravenclaw winkte nur. Danach dehnte sich das Schweigen zäh wie Flubberwurmschleim. Millicent empfand es beinahe als Erlösung, als die Gryffindors eintrafen. Aber nur beinahe. Von Hermione kam ein Hallo, Harry hingegen begrüßte die Runde mit „Du hast ja beide angeschleppt!"
„Dir auch einen guten Abend, Potter", antwortete Draco in einem Tonfall, der klar sagte, daß er ihm lieber etwas anderes wünschen würde. Millicent räusperte sich und grüßte freundlicher, und die Löwen ließen sich nieder.
„Stimmt es eigentlich", hob Draco erneut an, „daß Weasley nach unserem Spiel in den Krankenflügel mußte?"
Millicent war erstaunt, glaubte sie doch hinter der Fassade aus Langeweile und Spott echtes Interesse am Wohlergehen der gegnerischen Sucherin zu erkennen. Das wäre eine neue Entwicklung.
„Ginny? Nein", antwortete Hermione. „Sie hat viel geschlafen, nachdem der ganze Streß vorbei war, und hatte sich eine Erkältung eingefangen. Aber sonst geht es ihr gut. Sie hofft, daß Ravenclaw euch im Januar platt macht." Bei diesen Worten tauschte sie ein Lächeln mit Lisa. Draco nickte nur.
„Aber wir sind nicht hier, um über Quidditch zu sprechen, oder?", fragte die Gryffindor.
„Was haben Ron und Parvati euch über den Termin heute gesagt?", fragte Millicent. „Wo ist Ron überhaupt? Er sollte doch auch dabei sein?" Etwas an seinem Fehlen kratzte sie wie ein Pullover aus grober Wolle. Dabei sollte sie froh sein, sich nicht über ihn ärgern zu müssen.
„Er ist auf Patrollie", antwortete Hermione. „Mußte kurzfristig für einen unserer Vertrauensschüler einspringen. Der liegt mit Grippe im Bett."
„Du willst, daß wir zusammentragen, was wir über Tom wissen", sagte Harry.
„Genau." Millicent versuchte ein Lächeln. „Lisa, was hast du herausgefunden?"
„Nicht viel. Er scheint bemerkenswert talentiert gewesen zu sein, und ein Lehrerliebling." Sie trug die Daten seines Schulbesuchs, Ämter und Preise vor. Mehr gaben die Jahrbücher nicht her, und darüber hinaus hatte sie keine Quellen finden können. Harry ergänzte, daß es den Slug-Club auch damals schon gegeben hatte, und daß Tom und dessen Freunde ihn dominiert hatten. Er nannte die Namen seiner ersten Anhänger, mit einem herausfordernden Blick zu Theodore, den dieser ungerührt an sich abprallen ließ. Das war alles, was er zu sagen hatte. Millicent fand das bedauerlich: Sie hatte auf mehr gehofft. Interessanterweise rutschte Hermione auf ihrem Platz herum und kaute schon wieder auf ihrer Lippe. Gut möglich, daß die beiden mehr wußten, es aber nicht sagen wollten. Ob man sie aus der Reserve locken konnte?
„Danke. Wenn euch noch etwas einfällt oder ihr etwas findet, meldet euch. Draco, Theodore, habt ihr noch etwas gehört? Oder ist euch etwas aufgefallen?"
„Was, außer daß er paranoid und kontrollsüchtig ist und gern andere leiden sieht?", fragte Draco. „Glotz nicht so überrascht, Potter. Ich bin weder blind noch blöd."
„Aber ein bißchen langsam, wenn du das jetzt erst gemerkt hast."
„Schluß!", fuhr Millicent dazwischen. „Zurück zum Thema. Theodore? Hast du noch was?"
„Vielleicht." Sein Blick wanderte zu Hermione. „Tut mir übrigens leid wegen gestern. Ich hätte das gern anders gelöst, aber mir fiel auf die Schnelle nichts besseres ein."
„Mir auch nicht." Beide lächelten verlegen und wandten sich wieder ab.
Das weckte Millicents Neugier und anscheinend auch die der anderen, doch bevor sie überlegen konnte, was vorgefallen sein mochte, sprach Theodore weiter:
„Vater hat mal erwähnt, daß er sich verändert hat. Nicht nur sein Aussehen, auch mental. Er muß früher sehr kreativ gewesen sein, hat Zauber angepaßt und neue entwickelt, Experimente gemacht, auf die kein anderer gekommen wäre. Das scheint er verloren zu haben. Er stützt sich jetzt mehr auf andere, vor allem Vater und Mr. Dolohov, für diese Aufgaben. Das scheint er aber nicht gern zu tun. Er ist schwer zufriedenzustellen und versucht, den Umstand zu überspielen, daß er eher koordiniert als selbst daran zu arbeiten. Soweit ich das verstanden habe, war er früher stolz darauf, die Grenzen dessen zu verschieben, was man mit Magie erreichen kann."
Das war interessant. Ob die Ursache in seiner Auferstehung lag? War das der Preis?
„Ist das erst seit seiner Rückkehr so, oder hat es schon vorher angefangen?", fragte Hermione. Warum sollte es vorher begonnen haben?
„Das kann ich nicht sicher sagen", antwortete Theodore. „Ich kann versuchen, es herauszufinden, wenn ich über Weihnachten zu Hause bin."
„Warum ist das wichtig?", fragte Millicent. Dahinter steckte bestimmt mehr als schlichte Neugier.
„Um besser einschätzen zu können, ob es etwas mit seinem Überleben zu tun hat?" Die Gryffindor klang reichlich unsicher. Millicent lächelte. Da war tatsächlich etwas.
„Möchtest du das näher ausführen?"
„Nein."
„Wißt ihr etwas, das ihr noch nicht gesagt habt?", fragte nun auch Ernie.
„Gehen wir", sagte Harry und stand auf.
„Wir bleiben."
Die beiden Löwen maßen einander in stummem Streit, dann setzte Harry sich wieder hin, das Gesicht zur Faust geballt. Millicent räusperte sich.
„Wir hängen da alle gemeinsam drin. Also wenn ihr etwas wißt, das uns weiterbringen kann, sagt es."
Schweigen war die Antwort, deshalb sprach sie weiter.
„Aber kommen wir zurück zum Thema. Welche Möglichkeiten gibt es, am Leben zu bleiben, wenn man eigentlich sterben sollte?"
Ernie zuckte mit den Schultern. „Phönixtränen?"
„Gegen den Todesfluch?", warf Lisa ein.
„Wohl eher nicht…"
Millicent achtete auf die beiden Löwen. Hermione fixierte Harry, als wolle sie ihn mental in den Hintern treten. Er starrte stur auf die Tischplatte.
„Vielleicht...", hob Theodore an. „Ah, nein."
„Was?", hakte Millicent nach. Theodore zögerte. Wahrscheinlich bereute er es, seinen Gedanken ausgesprochen zu haben. Die Hexe zog die Brauen hoch. Ihr Klassenkamerad versuchte, mit dem Sofa zu verschmelzen, denn nun sahen ihn alle an. Er seufzte und sprach:
„Ich weiß nicht, ob es diesen Zauber tatsächlich gibt, aber ich bin vor einer Weile über Andeutungen zu einer Art Blutsband gestolpert. Eine Möglichkeit, Angriffszauber auf eine andere Person umzuleiten. Das funktioniert allerdings nur mit Blutsverwandten."
„Wie krank muß man dafür sein?", fragte Hermione entsetzt.
„So krank wie diese Brut eben ist. Krank und egoistisch", antwortete Harry.
Millicent ballte die Hände zu Fäusten. „Wen meinst du mit Brut?"
Sie hatte den Satz noch nicht beendet, als Draco mit frostiger Stimme sprach:
„Keiner legt Hand an meine Familie."
„Aber wer euch nicht paßt gehört nicht dazu", konterte Harry. „Deine Tante wäre sicher froh, noch Verwendung für ihre Schwester zu haben!"
„Vorsicht! Schließ nicht von Einzelnen auf alle."
„Vol- Er hätte da sicher keine Hemmungen."
„Das dürfte sogar stimmen", sagte Lisa.
„Wenn er noch Verwandte hätte", sagte Draco. Dann wurde sein Tonfall nachdenklich. „Er spricht Parsel und Vater hat angedeutet, er sei ein Nachfahre Salazar Slytherins…"
Theodore runzelte die Stirn. „Damit wären wir bei den Gaunts, wenn das stimmt, was sie von sich behauptet haben."
„Woher hast du das?", fragte Millicent.
„Nachdem im zweiten Schuljahr diese Geschichte mit Slytherins Erben losging habe ich mich dazu umgetan. Vor allem in den Ferien, zu Hause. Es gibt keine sicheren Informationen, daß die Gaunts wirklich auf Slytherin zurückzuführen waren, aber Parsel scheint in dieser Familie verbreitet gewesen zu sein. Das spricht schonmal dafür."
„War?", hakte sie nach.
„Von denen ist schon seit Jahrzehnten nicht wirklich etwas übrig."
„Es sei denn, es gäbe eine Seitenline, die vergessen wurde", ergänzte Draco
„Selbst wenn, dann ist das zu weit weg." Theodore schüttelte den Kopf. „Die Suche wird über drei Schritten schwierig, das dürfte dabei kaum anders sein."
„Es gibt so genaue Ausführungen zur Blutsuche?", fragte Lisa begeistert. „Wo hast du das gelesen?"
„Was ist das?", wollte Harry wissen.
„Ein alter Zauber, mit dem man nach Verwandten suchen kann", antwortete die Ravenclaw. „Man bekommt die Richtung, in der sie sich aufhalten. Der Spruch muß im Mittelalter noch recht verbreitet gewesen sein, ist aber jetzt nahezu vergessen."
„Manche beherrschen ihn noch", sagte Theodore. „Mein Vater gehört dazu."
„Wir sollten uns mal privat unterhalten." Lisas Augen leuchteten, als hätte sie die Geschenke unterm Weihnachtsbaum entdeckt. Oder auch ein Buch, nach dem sie die letzten Tage gesucht hatte. Doch Theodore hatte offensichtlich nicht die Absicht, ihre Neugier zu stillen:
„Wir schweifen ab."
Millicent nahm diese Information mit Interesse auf. Ebenso, daß die Gryffindors kurz einen Blick getauscht hatten, als die Sprache auf die Gaunts gekommen war.
„Müßt ihr wirklich die Stammbäume aller alten Familien auswendig lernen?", fragte Lisa.
Draco verdrehte nur die Augen, Theodore rührte sich nicht, doch Ernie antwortete:
„Nicht ganz. Ich kann genaugenommen natürlich nur für die MacMillans sprechen, aber wir folgen in vielem den alten Traditionen. Wir kennen unsere Familiengeschichte und wissen, mit welchen anderen Familien wir in den letzten paar Generationen gemeinsame Vorfahren haben. Aber niemand lernt sämtliche Stammbäume. Es gibt Bücher dafür, in denen man nachschlagen kann."
„Wie diese Reinblut-Liste, auf die manche so stolz sind?", fragte Hermione.
„Nein, Familienbücher. Das Verzeichnis ist nur eine Liste, ohne Details und längst nicht mehr aktuell."
„Hieß es nicht, einer von deinen Vorfahren hätte das Ding geschrieben?", wandte sich Lisa an Theodore.
„Es stammt von meinem Großvater."
„Also ist es wahr!", rief Lisa aus.
„Nichts, dessen man sich rühmen müßte", sagte Hermione.
„Da gibt es auch sonst nicht viel Ruhmreiches", ergänzte Harry. Theodore betrachtete ihn mit einer Kälte, die dem arktischen Winter gleichkam.
„Es reicht", sagte Millicent. „Theodore, beschäftigt sich auch dein Vater mit Genealogie?"
„Selten, aber es kommt vor, daß er entsprechende Recherchen macht."
„Gut. Bitte schau in den Ferien nach, ob es irgendwelche Verbindungen zu Tom gibt, die wir übersehen haben. Ihr am besten auch, Draco, Ernie." Sie sah alle drei nacheinander an und bekam von zweien ein Nicken. Draco rührte sich nicht.
„Wird das schon wieder ein Aber-ich-mach-doch-gar-nicht-mit?"
„Ja."
„Wieso? Du wirst doch wohl keinen Ärger riskieren, wenn du Stammbäume nachschlägst und schaust, wen die Gaunts so alles geheiratet haben?"
„Nein, aber es ist sinnlos. Das alles hier ist sinnlos. Wir können ihn nicht besiegen."
„Doch, können wir. Es gibt immer einen Weg. Wir müssen ihn nur finden. Und lange genug durchhalten."
„Seit wann bist du so widerlich optimistisch?"
„Schon länger, du hast es bloß nicht gemerkt."
Draco verstummte und schien zu schmollen.
„Was ist eigentlich genau bei seiner Auferstehung passiert?", fragte Ernie. „Harry, es heißt, du wärst dabei gewesen. Erzähl."
Der Angesprochene rückte umständlich seine Brille zurecht. Millicent konnte nachfühlen, daß das keine Erinnerung war, die er sich ins Gedächtnis rufen wollte. Trotzdem hoffte sie, er möge sich schneller entschließen. Harry trank noch etwas, dann begann er zu berichten. Er erzählte vom Mord an Diggory, von dem Ritual, das dem Dunklen Lord einen neuen Körper gegeben hatte, und davon, wie dieser seine Anhänger rief. Darüber, wie er entkommen war, glitt er ziemlich schnell hinweg, doch angesichts der Mühe, die es ihm bereitete, von allem anderen detailliert zu erzählen, bohrte niemand nach.
Als er geendet hatte, herrschte zunächst Schweigen. Millicent erkannte verschiedene Mischungen von Unbehagen und Ekel bei ihren Mitverschwörern. Theodore sah in erster Linie nachdenklich aus.
„Das ist interessant", sagte er schließlich, den Blick auf Harry gerichtet. „Wie sehr ist er noch er selbst? Wenn Du eine Blutsuche machen würdest, würdest du ihn finden? Wenn er sich vermehren würde, gäbe er dann sein Blut weiter oder deins? Oder eine Mischung?"
Harry gab ein würgendes Geräusch von sich, und auch aus Richtung der Ravenclaw hörte Millicent ein Keuchen. Sie selbst wollte über diese Frage lieber nicht nachdenken.
„Hast du ihm mal gesehen?", fragte Harry.
„Ja."
„Wie kommst du dann auf so eine perverse Idee?"
„Logik", antwortete Theodore mit einem Schulterzucken.
Millicent entschloß sich, die folgende Stille zu durchbrechen. „Ich glaube, das hilft uns nicht weiter. Selbst wenn Harry und" – sie überlegte – „der derzeit mächtigste dunkle Zauberer so etwas wie Brüder sind, erklärt das nicht, warum letzterer noch am Leben ist."
„Das nicht, aber vielleicht läßt sich diese Verbindung irgendwie nutzen. Wenn denn tatsächlich eine hergestellt wurde", erklärte Theodore.
„Läßt sich das überprüfen?"
„Ich werde sehen, was ich dazu finden kann."
„Danke. Lisa, Hermione, fällt euch dazu etwas ein?"
Beide Hexen schüttelten die Köpfe, doch Hermione sah aus, als würden in ihrem Schädel die Gedanken Ringelreihen tanzen. Harry schien sich gerade irgendwo anders hinzuwünschen.
Trotz des Schweigens der Gryffindors hatte Millicent Stoff zum Nachdenken bekommen. Und wie durch ein Wunder hielt die Gruppe noch immer einigermaßen zusammen. Sie wollte gerade die Sitzung schließen, als Lisa sprach:
„Sag mal, Malfoy, was hat es eigentlich mit diesem Ball auf sich, den deine Familie veranstaltet?"
„Bist du neidisch, weil du nicht eingeladen bist?"
„Nein, aber ich frage mich, ob ich mir Sorgen um Morag machen muß. Immerhin ist sie eingeladen in die Höhle des Mantikors."
„Da bist du falsch informiert, wir haben nur Pfauen. Und Eulen."
Die Ravenclaw verdrehte die Augen. „Mal ernsthaft. Was ist der Zweck?"
„Politik", antwortete ausgerechnet Hermione. Sofort lagen aller Augen auf ihr.
„Was weißt du schon davon?", fragte Draco so voll Herablassung, daß Millicent kurz davor war, ihn zu schütteln. Doch Hermione ließ sich nicht irritieren.
„Mehr als dir lieb ist offensichtlich. Ich hatte im Sommer ein erhellendes Gespräch mit deiner Tante."
„Meiner – oh, die." Jetzt sah er gequält aus, aber nur für einen Augenblick.
„Jedenfalls weiß ich, daß Hexen sich um die Diplomatie zwischen den Familien kümmern und daß auf diesem Ball wahrscheinlich Allianzen geschmiedet und Beziehungen ausgehandelt werden."
„Und die Kinder verschachert", ergänzte Ernie. Allerdings tat er es mit einem Augenzwinkern.
„Mrs. Tonks sagte, daß das nur noch wenige Familien praktizieren?"
„Naja, es gibt da viele Varianten", sagte der Hufflepuff. „Meine Mutter hat mit Sicherheit schon eine Liste. Im Sommer werden dann die höflichen Besuche beginnen und die regelmäßige Frage, wen ich mir denn vorstellen könnte." Er legte die Hand aufs Herz und klimperte mit den Wimpern, gab bei den letzten Worten seiner Stimme einen sorgenvollen Klang.
„Was, schon diesen Sommer? Direkt nach der Schule?", fragte Hermione. Sie klang einigermaßen entsetzt.
„Ja, aber das heißt noch nicht viel. Die meisten heiraten so mit Anfang bis Mitte zwanzig. Aber meine Mutter will auf keinen Fall zu spät anfangen, herumzufragen. Ich schätze sie rechnet damit, daß ich viele Vorschläge ablehne."
„Immerhin wirst du gefragt", sagte Draco.
„Du nicht?"
„Wahrscheinlich schon, und ich betrachte das als Privileg. Meine Mutter fängt wahrscheinlich jetzt erst so richtig an, sich umzutun. Es war viel los in letzter Zeit…"
„Und wenn ihr selbst jemanden findet, mit dem ihr gern zusammen sein wollt?" Hermione ließ nicht locker und steigerte sich augenscheinlich gerade in gerechten Zorn. Draco sah sie irritiert an, doch Ernie versuchte, zu beruhigen:
„Natürlich kann ich auch selbst jemanden vorschlagen. Wenn meine Eltern sie akzeptieren und unsere Familien sich einig werden, ist das kein Problem."
„Und wenn nicht?"
„Kommen sie darüber hinweg oder brechen mit der Familie, wie mein Vater es getan hat", sagte Millicent in einem Versuch, diese Diskussion abzukürzen.
„Das ist hart.", sagte Hermione.
„Naja, ich glaube, meine Eltern würden das irgendwann verzeihen", sagte Ernie. „Wer verhandelt eigentlich für dich, Nott?"
Theodore verkroch sich wieder im Sofa. Es war ihm offenbar nicht recht, daß der Hufflepuff ihn angesprochen hatte. Dennoch antwortete er:
„Meine nächsten lebenden weiblichen Verwandten sind Mrs. Malfoy und Mrs. Lestrange. Die beiden sind Tanten zweiten Grades, also ein Stück weg, und haben eigene Angelegenheiten, um die sie sich kümmern müssen. Wahrscheinlich wird mein Vater selbst verhandeln, auch wenn er einen schweren Stand in den Damenrunden haben dürfte."
Draco brach in Gelächter aus. „Oh, die Bilder. Ich stelle mir gerade deinen Vater vor, in pfirsichfarbener Robe, mit Fächer, ein Teegedeck und ein Petitfours vor sich, im Versuch, sich an seine Umgebung anzupassen…"
„Das ist nicht witzig."
„Doch, ist es."
„Oh verdammt, ich werde das im Kopf haben, wenn er das nächste Mal im Ornat vor mir steht."
Dieser Satz traf Millicent wie ein Schwall kalten Wassers. Dieses Ende des kurzen Geplänkels ließ den Umstand, daß die beiden Zauberer Death Eater-Kinder waren, mit einem Schlag weniger abstrakt erscheinen. Sie lebten mit ihnen unter einem Dach, waren von ihnen in ihrem Aufwachsen begleitet worden. In was für einem Zwiespalt mußten sie leben? Und wie mußte es sich anfühlen, zu Hause nicht sicher zu sein?
Die Mitverschwörer aus den anderen Häusern sahen so aus, wie sie sich fühlte. Betretenes Schweigen breitete sich aus. Lautlos stand Theodore auf.
„Ich gehe wohl besser."
„Ich komme mit." Draco sprang auf um ihm zu folgen.
„Danke", konnte Millicent ihnen gerade noch hinterherrufen. Ihre Kehle fühlte sich kratzig an. Wenig später löste sich auch die restliche Runde auf.
7.12.1997
Es war ein stürmischer Sonntagnachmittag. Der Wind heulte ums Schloß und trieb feine Eiskristalle gegen die Fenster. Die meisten Gryffindors hatten es sich im Gemeinschaftsraum bequem gemacht. In Harrys und Rons Schlafsaal hingegen war das Trio allein. Die beiden Zauberer saßen auf Harrys Bett, Hermione auf Rons. Dazwischen stand eine Kleiderkiste, die sie als Couchtisch zweckentfremdeten, mit Kakao und Keksen. Harry hatte Dobby darum gebeten und darauf bestanden, daß er eine Tasse mittrank. Der Plan, ins Schulleiterbüro einzubrechen, machte dem Elfen Angst, daß Harry etwas passieren könnte. Dennoch hatte er sich bereit erklärt, das Paßwort zu erlauschen.
Nun waren sie wieder zu dritt und überlegten sich einen Schlachtplan.
„Schade, daß wir nicht mehr alle unter den Tarnumhang passen", sagte Harry. „Dann müßten wir uns nur nachts hinschleichen, dem Wasserspeier das Paßwort sagen und könnten dann in Ruhe das Büro durchsuchen."
„Du solltest nicht mitgehen", sagte Ron.
„Wieso? Es geht um meine Aufgabe!"
„Weil du in letzter Zeit eine Menge Ärger hattest und bestimmt unter Beobachtung stehst. Die warten nur auf den nächsten Vorwand. Vielleicht nehmen sie dich von der Schule und sperren dich irgendwo ein, wenn sie dich erwischen?"
„Das Risiko werde ich wohl eingehen müssen."
„Nein, das solltest du nicht", sagte Hermione. „Ron hat Recht, du wirst wahrscheinlich härter bestraft als wir beide. Und wir brauchen dich gesund und in Freiheit, sobald wir diese Erinnerung gefunden haben."
„Aber ihr wißt doch gar nicht, wonach ihr sucht."
„Beschreibe uns alles so genau wie möglich. Die Erinnerung selbst, die Flasche, den Schrank, in dem Dumbledore sie aufbewahrt hat. Vielleicht haben wir Glück, und Snape hat noch nicht alles umgeräumt."
Widerstrebend begann Harry zu erzählen. Hermione machte sich Notizen. Dann versuchten sie gemeinsam, herauszufinden, wie viel sich zwischen Harrys letztem Besuch im Schulleiterbüro im vorigen Schuljahr und Hermiones Vorsprechen dort verändert hatte. Sie fanden nur wenig, was aber auch daran liegen konnte, daß die Einrichtung nicht im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gestanden hatte. Am meisten Sorge bereitete der Hexe jedoch die Frage, mit welchen Zaubern Snape wohl seine Sachen gesichert hatte.
„Wann gehen wir am besten?", fragte sie schließlich.
„Sobald Dobby das Paßwort hat", sagte Harry. „Also mit ein bißchen Glück in ein paar Tagen".
„Kurz vor den Ferien wäre besser", widersprach Ron. „Da hat er weniger Zeit, zu merken, daß etwas fehlt und nachzuforschen, wohin es verschwunden ist."
„Guter Punkt", sagte Hermione. „Dann brauchen wir also nur noch die Uhrzeit und eine Strategie, um unbemerkt hinzukommen. Ich bin inzwischen ziemlich gut mit Desillusionierungszaubern. Nicht ganz so perfekt wie der Tarnumhang, aber der reicht ja nur noch für einen."
Bald, sehr bald würden sie einen Schritt weiter sein.
Millicent und Tracey hatten sich früh zurückgezogen. Nun saßen sie im Schlafanzug in Millicents Bett, gemütlich verpackt mit Decken und Kissen. Loki machte sich auf Millicents Füßen breit und Matilda, Traceys Vogelspinne, hockte auf deren Decke. Eine magische Flamme im Glas verbreitete geisterhaftes Licht. Die Vorhänge waren zugezogen und mit Schutzzaubern belegt, die sie vor Überraschungen bewahren und ihr Gespräch privat halten sollten. Die beiden Hexen teilten sich eine Schachtel Pralinen.
„Hast du etwas von deiner Familie gehört?", fragte Millicent.
„Dad hat geschrieben, daß Mum zurück zu ihren Eltern gegangen ist. Er hat nicht viel dazu erklärt. Ich hoffe, daß das nur ein Schauspiel ist, daß sie so tun, als hätten sie sich getrennt. Damit das Ministerium uns in Frieden läßt. Aber ob das stimmt werde ich wohl erst zu Weihnachten erfahren." Sie nahm noch ein Vanilleherz. „Wie ist es bei dir?"
„Vater geht es besser, zum Glück. Er vergißt immernoch viel, aber er kann wieder arbeiten und traut sich auch sonst wieder unter Menschen, auch wenn das wohl noch ziemlich anstrengend ist. Sonst scheint bisher nichts passiert zu sein, und ich bin froh darüber. Was meine Großeltern wegen dieses Gesetzes tun weiß ich nicht. Vielleicht haben wir Glück und das Ministerium interessiert sich nicht für sie. Immerhin sind sie alt und bekommen keine Kinder mehr."
Der Mangel an Informationen machte sie unruhig. In den Briefen von ihrer Mutter stand ganz bestimmt nicht alles. Sie schlang sich die Kuscheldecke enger um die Schultern.
„Es wird Zeit, daß das endet. Aber wir kommen einfach nicht weiter."
Tracey reichte ihr die Schachtel und sie fing sich eine Nougatraupe.
„Ich habe nachgedacht", sagte Tracey und sah auf das Hexenlicht. „Wenn ich in den Sommerferien bei meinen polnischen Großeltern war, hat Oma mir Geschichten erzählt. Sie kennt unheimlich viele Märchen, aus Polen und aus der ganzen Osthälfte des Kontinents. Erzählungen von Hausgeistern und Nachtwesen, Waldfrauen, Rusalken und Vílen, und natürlich Baba Jaga. Bei den Muggeln ist sie noch viel gruseliger als in den Geschichten, die sich Hexen und Zauberer erzählen. Und manchmal ging es um einen bösen Zauberer, Koschtschei den Unsterblichen. Der hatte seine Seele in einer Nadel verborgen, und diese wiederum in einer Ente und die Ente in einem Hasen auf einer Insel weit draußen im Meer. Um ihn zu besiegen, mußte man die Nadel finden und zerbrechen. Der Held der Geschichte schafft das natürlich, mit reichlich zauberkundiger Hilfe. So langsam frage ich mich, ob diese Erzählung ein wirkliches Vorbild hat. Ob irgendwann jemand versucht hat, so etwas zu tun. Und ob er erfolgreich war."
„Das klingt wirklich sehr phantastisch." Die Seele verstecken, um unsterblich zu werden? Wie sollte das möglich sein? War die Seele nicht nur ein Name für die gesamte Persönlichkeit eines Menschen? War da wirklich etwas Faßbares? Waren Geister wirklich Seelen und nicht nur Erinnerungen? Sie hatte sich nie groß Gedanken darüber gemacht. Und dieses Märchen klang, nun ja, märchenhaft.
„Das tut es", sagte Tracey. „Aber viele Dinge, die uns hier täglich umgeben, klingen für meine Großeltern genauso phantastisch. Wir leben in einem Zauberschloß, in dem sich Bilder bewegen und sprechen können, in dem sich die Tische von selbst mit goldenen Tellern und köstlichen Speisen decken und reiten auf fliegenden Besen. Aus Sicht der Muggel ist es da kein großer Schritt zu versteckten Seelen."
„Hmm, so gesehen hast du Recht. Fragt sich nur, wie wir herausfinden, ob es so etwas wirklich gibt." Wer konnte davon gehört haben? Hermione, die angeblich schon die halbe Schulbibliothek gelesen hatte? Oder...
„Kannst du dich mit Lisa treffen?"
„Lisa Turpin?"
„Genau die. Sie interessiert sich doch für obskuren alten Kram."
„Ja, das tut sie. In Wahrsagen sitzen wir zusammen, da kann ich ein Treffen ausmachen."
„Sehr gut."
„Du, Millie. Wenn es diese Art Magie tatsächlich gibt, gehört das bestimmt zu den Dunklen Künsten."
„Das kann gut sein."
„Frag mal Theodore, ob er davon gehört hat. Ich glaube, er ist momentan unsere beste Quelle zu dem Thema. Und dir erzählt er bestimmt mehr als mir."
Zwei Wochen vor den Ferien duftete es im Gryffindor-Gemeinschaftsraum nach Keksen und Tannengrün. Hermione hatte sich in Decken gewickelt und versuchte, sich auf sämtliche Sicherungen vorzubereiten, die sie in Snapes Büro erwarten konnten. Da schreckte Parvatis Stimme sie hoch:
„Hermione, Harry, schaut mal her."
Sie legte das Buch weg. Ihre Klassenkameradin war schon auf dem Weg, die Liste in der Hand, die während der letzten Tage am Schwarzen Brett gehangen hatte: Hier sollten sich wie üblich die Schüler eintragen, die über die Ferien im Schloß bleiben wollten. Anscheinend hatte sie sie gerade abgenommen, um sie zu Professor McGonagall zu bringen.
„Was ist denn?", fragte Hermione. Auch Harry sah von dem Schachspiel auf, das er gerade gegen Ron verlor.
„Ist das richtig, daß eure Namen da draufstehen? Hattet ihr nicht gesagt, daß ihr wegfahren wollt?"
„Wir hatten eigentlich nicht vor, zu bleiben. Harry, hast du-?"
„Nein." Er stand auf und kam herüber. Parvati hatte sich neben Hermione gesetzt. Gemeinsam sahen sie auf die Liste. Es standen nur vier Namen darauf, und die beiden ersten waren tatsächlich „Harry Potter" und „Hermione Granger". Sollte das ein Scherz sein? Sie sah genauer hin.
„Ist das nicht Professor McGonagalls Schrift?"
„Stimmt. Aber warum sollte sie uns auf die Liste setzen?"
„Gehen wir sie fragen."
Und so kam es, daß Hermione und Harry die Liste zum Büro ihrer Hauslehrerin brachten.
„Oh, was für eine Überraschung", wurden sie begrüßt. „Was haben Sie auf dem Herzen?"
Allerdings machte die ältere Hexe keinen sonderlich überraschten Eindruck. Hermione brachte ihr den Zettel.
„Haben Sie uns fürs Hierbleiben eingetragen?"
„Ja, das habe ich. Anweisung des Direktors. Es gibt eine neue Regelung, nach der Schüler nur dann die Schule verlassen dürfen, wenn ihre Unterbringung und Betreuung abgesichert ist."
„Aber ich habe ein Haus", sagte Harry.
„Das reicht nicht, dort sind Sie nicht betreut."
„Wir sind nach magischem Recht erwachsen!"
Professor McGonagall seufzte. „Das weiß ich, aber auch mit siebzehn sind Sie nach dem neuen Gesetz noch schulbesuchspflichtig."
„Können Sie nicht eine Ausnahme machen? Als unsere Hauslehrerin?"
„Es tut mir leid, aber in dieser Hinsicht sind mir die Hände gebunden. Ich kann diese Regel nicht umgehen. Aber wenn Sie jemanden haben, den Sie gern kontaktieren würden, ohne daß die Schulleitung davon erfährt, werde ich Ihnen gern helfen."
„Vielen Dank. Vielleicht kommen wir darauf zurück."
Sie verabschiedeten sich und verließen das Büro. Draußen im Gang schlug Harry fluchend gegen eine Wand.
„Das hilft nichts", sagte Hermione.
„Nein, da hast du Recht. Gehen wir zu Snape."
Während sie schweigend den Gängen zum Büro des Schulleiters folgten, wobei sie sich anstrengen mußte, um mit Harrys langen und schnellen Schritten mitzuhalten, begannen ihre Gedanken zu rauschen. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie Professor Snape überzeugen konnten, war gering. Natürlich war es richtig, es trotzdem zu versuchen. Dennoch würden sie bestimmt ihren Plan anpassen müssen. Wenn sie und Harry in der Schule bleiben mußten, würde Ron allein gehen müssen. Würde er es schaffen, Slughorn zu überzeugen? Hermione zweifelte daran. Wenn Harry mit seinen Verbindungen zu Slughorns Vergangenheit und seinen Schuldgefühlen nicht dabei war, würde es sehr viel Empathie und Geschick brauchen, um ihm Informationen zu entlocken. Mehr als Ron besaß und, wenn sie ehrlich war, auch sie selbst. Sie brauchten eine geeignete Begleitung. Und wen auch immer sie wählten, würden sie einweihen müssen. Ihr Blick wanderte zu Harry. Ihn zu überzeugen würde nicht einfach werden.
Sie erklärten dem Wasserspeier, daß sie dringend den Direktor sprechen mußten. Der nickte einmal mit dem schweren Kopf und verharrte dann wieder regungslos. Die Zeit kroch dahin, und mit jeder Sekunde, die verstrich, wuchs Hermiones Nervosität. Sie kaute auf ihrer Unterlippe, bis sie Blut schmeckte. Bald begann Harry, im Kreis zu laufen. Schließlich kam wieder Leben in die Statue und sie gab den Aufgang frei.
Das erste, was Hermione auffiel, war die von Portraits bedeckte Wand hinter dem Schreibtisch. Aus der „Geschichte von Hogwarts" wußte sie, daß dies die ehemaligen Schulleiter waren. Der Raum selbst beherbergte Bücherregale, Schränke mit Türen aus Holz und Opalglas und mehrere kleine Tische. Auf einem davon stand eine Destillationsapparatur.
Direktor Snape sah kurz von seinen Papieren auf. „Guten Tag Mr. Potter, Miss Granger." Sagte er in einem Tonfall, der besser zu „Geh mir nicht auf die Nerven" gepaßt hätte. „Was wollen Sie?"
Hermione atmete tief ein und aus, dann sprach sie höflich und bedeutend ruhiger, als sie sich fühlte:
„Man hat uns gesagt, daß wir über Weihnachten hierbleiben müssen."
„Das ist korrekt."
Jetzt platzte Harry:
„Aber wir sind volljährig! Hermione sogar nach Muggelgesetzen!"
„Ja, das sind Sie", antwortete Snape leise und betont langsam, als sei sein Gegenüber schwer von Begriff. „Sie können Verträge abschließen, ein Haus kaufen, heiraten. Aber auf Grundlage der Bildungsreform von August sind Sie bis zum Abschluß Ihres siebten Jahres schulpflichtig und nicht frei in der Wahl Ihres Aufenthaltsortes. Familienangehörige, und zwar Blutsverwandte, können beantragen, Sie in den Ferien anstelle Ihrer Eltern zu sich zu holen. Sofern Sie noch welche haben, die in Großbritannien oder Irland ansässig sind. Und jetzt gehen Sie."
„Aber-"
„Komm, Harry." Hermione ergriff seinen Arm. Er zitterte. Auf der anderen Seite des Schreibtischs war Snape aufgestanden und brodelte wie eine Unwetterfront.
„Das bringt nichts."
„Da haben Sie ausnahmsweise Recht, Miss Granger. Sie können es nicht ändern, also arrangieren Sie sich damit."
Mit einer schroffen Geste wies er zur Tür, die sich augenblicklich öffnete. Kurz darauf standen sie am Fuß der Treppe. Und wieder verprügelte Harry eine unschuldige Wand.
„Was machen wir denn jetzt?"
„Umplanen."
10.12.1997
Mit federnden Schritten nahm Millicent die letzten Stufen. Den Weg hinauf in den Turm der Eulen hatte sie sehr zügig zurückgelegt, und doch gingen Atem und Herzschlag nur wenig schneller. Sie war stolz auf sich. Mit einem Lächeln öffnete sie die Tür zur Eulerei. Ein geisterhaftes Kreischen begrüßte sie. Es war Abend, die Tiere erwachten.
Ihre Verabredung war bereits da: An einem der hohen spitzbogigen Fenster stand Theodore, seinen Habichtskauz auf dem Arm, und streichelte das grau gemusterte Gefieder.
„Guten Abend."
„Hallo Millicent. Du hast heute ziemlich gute Laune."
„Man muß sich freuen, wenn man kann."
Theodore zuckte mit den Schultern. „Ich schätze, du hast wieder einen Brief? So langsam habe ich das Gefühl, du nutzt meinen guten Willen aus."
„Wie das?"
„Ich helfe dir und riskiere dabei, erwischt zu werden. Beinahe alle zwei Wochen. Das Bücher schmuggeln ist längst drin, auch mit reichlich Wohlwollen."
„Heißt das, daß du keine Post mehr rausschicken willst?"
„Es heißt, daß ich gern eine neue Gegenleistung hätte. Von dir oder von der Person, der du hilfst. Das sind bestimmt nicht alles deine Briefe. Sammelst du mit meinem Nettsein Gefallen von anderen ein?"
Einen Moment lang fühlte sich Millicent, als ob sie fiele. Innerlich fluchte sie. Natürlich machte sich Theodore seine eigenen Gedanken.
„Sagen wir, ich helfe jemandem, der mir geholfen hat."
„Das ist ehrbar. Allerdings wirst du jetzt neue Konditionen verhandeln müssen."
„Ich hatte immerhin das Risiko, daß sie schon im Zug kontrollieren. Und ich habe dich sicher durch die Muggelseite von Bristol geführt."
„Was ich zu schätzen weiß. Und ich habe gezahlt: mit Informationen, und mit einem Trimester Postdienst. Diesen Brief schicke ich noch, danach will ich einen Gefallen. Der Umfang hängt davon ab, wie oft ihr Morpheus' und meine Dienste noch in Anspruch nehmt. Von dir oder von der Person, die diese Briefe schreibt."
Weiter würde er ihr nicht entgegenkommen, und wenn sie ihn jetzt drängte, käme sie der nächste Handel teuer zu stehen. Also nickte Millicent. „Ich werde mit der Person sprechen. Willst du etwas bestimmtes?"
„Bisher nicht, aber das wird sich sicher ergeben. Vielleicht schon wenn ich weiß, für wen ich hier schmuggle."
Millicent schwieg dazu und reichte ihm den Brief. Theodore adressierte und siegelte ihn und schickte Morpheus damit in die hereinbrechende Nacht. Während er dem Vogel nachsah, sprach Millicent einen Zauber, der die Tür verriegelte. Der Zauberer fuhr herum.
„Ich möchte noch kurz mit dir unter vier Augen reden. Wegen des Gruppenprojekts."
Die Anspannung wich aus seiner Haltung. „Sprich."
„Tracey hat mir kürzlich slawische Märchen erzählt. Und darauf hingewiesen, daß es da auch einen unsterblichen bösen Zauberer gibt." Sie faßte die Geschichte zusammen und konnte beobachten, wie Theodore seine Gedanken ausstreckte. Er legte die rechte Hand ans Gesicht, wie er es häufig beim Lesen oder Nachdenken tat.
„Schon mal von sowas gehört?", fragte sie.
„Vielleicht. Das kommt mir irgendwie vertraut vor, aber so richtig paßt es nicht. Ich hätte ja gesagt, ich kenne es auch einem Märchenbuch, aber ich wüßte nicht, aus welchem. Vielleicht bin ich mal über etwas ähnliches gestolpert."
„In den Büchern bei dir zu Hause?"
„Wahrscheinlich. Vielleicht sollte ich in Iolanthes Manuskripten nachsehen..."
„War das eine dunkle Hexe?"
Das schien ihn zu amüsieren. „Wie man es nimmt. Iolanthe Nott hatte ganz sicher keine Abneigung gegen die Dunklen Künste, aber nach allem, was ich weiß, war sie eher Theoretikerin. Sie hat vor einem reichlichen Jahrhundert Hühner gezüchtet und sich mit alter Magie beschäftigt, vor allem Texte gesammelt und übersetzt. Ihretwegen haben wir Kopien etlicher seltener Texte aus dem Mittelmeerraum. Ich habe ein paar davon gelesen, zusammen mit ihrer Übersetzung, um mein Griechisch zu üben. Da waren einige sehr seltsame Sachen dabei."
„Unsterbliche Zauberer?"
„Vielleicht. Ich schaue über die Ferien mal rein. Aber ich kann dir nicht versprechen, daß ich den richtigen Text finde. Zwei Wochen sind recht knapp, um das alles zu durchsuchen. Und ich werde nicht die ganzen Ferien zwischen Büchern verbringen können. Leider."
Wehmut huschte über seine Miene, und er wandte sich ab. Millicent spürte einen Stich im Herzen. Zugleich fühlte sie sich unbehaglich. Ihr fiel kein Wort, keine Geste ein, das in dieser Situation angemessen wäre. Wenn sie versuchen würde, Trost zu spenden, wäre das nur peinlich für sie beide.
„Danke", sagte sie, entriegelte die Tür und ließ ihn allein.
12.12.1997
„Und was machen wir jetzt? Ich kann doch nicht allein gehen!"
Es war nicht das erste Mal, daß Ron diese Frage stellte, doch bisher hatten sie keine Lösung gefunden. Wieder waren sie im Schlafsaal der Jungen der siebten Klasse. Der Rotschopf drehte Runden im Zimmer, Harry spielte mit einem Ball, um seine Hände zu beschäftigen, und Hermione hatte sich auf einem der Betten niedergelassen, ihr verzaubertes Notizbuch auf dem Schoß. Vor den Fenstern lag tintenschwarze Nacht, obwohl es noch nicht allzu spät war.
„Das wirst du aber müssen", sagte Harry. „Es sei denn, wir schleichen uns aus dem Schloß."
„Besser nicht", warf Hermione ein. „Wir wissen nicht genau, welche Geheimgänge bewacht werden, und es fällt bestimmt auf, wenn wir länger nicht da sind. Gerade in den Ferien, wenn das Schloß fast leer ist. Wenn wir uns rausschleichen, dann um nicht zurückzukommen. Aber so weit sind wir, glaube ich, noch nicht."
„Aber wie soll ich denn Slughorn überzeugen, uns zu helfen? Der hat doch die Erinnerung nur rausgerückt, weil Harry Harry ist. Und weil der durch den Glückstrank genau das richtige gesagt hat."
„Genau das ist der Schlüssel: Das richtige sagen. Da hilft Empathie. Nicht daß du viel davon hättest."
„Als ob du so viel besser wärst, Miss Ich weiß alles und mische mich überall ein!"
„Nicht schon wieder!", jaulte Harry. „Können wir bitte erstmal das Problem lösen?"
„Danke", sagte Hermione. Es kostete sie einiges an Selbstbeherrschung, ruhig zu bleiben. Ihre Gedanken rasten wieder in alle Richtungen, und Ron konnte offensichtlich nicht folgen. Warum konnte er nicht immer bei der Sache sein, anstatt nur unvorhersehbare geniale Momente zu haben? „Ich meine nicht, daß du das plötzlich können sollst. Was ich sagen will, ist: Nimm jemanden mit, der gut auf Menschen eingehen kann."
„Aber Harry kann nicht mit!"
„Und ich habe auch schon oft genug Leute falsch eingeschätzt", gab der Genannte zu bedenken. Er machte dabei einen einigermaßen zerknirschten Eindruck.
„Dann nimm jemand anderes", sagte die Hexe.
„Aber Mione, jemand anderes müßten wir einweihen."
„Das weiß ich, Ron. Zumindest darüber, womit Er sich am Leben hält. Das heißt, wir brauchen eine vertrauenswürdige Person."
„Dumbledore hat gesagt, ich soll es nur euch erzählen", erinnerte Harry.
„Und Dumbledore kann uns nicht mehr helfen. Außerdem wäre es nicht das erste Mal, daß er sich verrechnet und dadurch Schaden anrichtet, daß er zu sehr mit Informationen geizt."
Darauf fand Harry nicht sofort eine Antwort. Er gab ein „Hrmpf" von sich und starrte düster vor sich hin.
„Und wen sollte ich deiner Ansicht nach mitnehmen?", fragte nun Ron.
„Hannah. Sie ist sehr einfühlsam, tratscht nicht und steht auf unserer Seite."
Darauf folgte Schweigen. „Ich weiß nicht", murmelte Harry schließlich, während er sich durch die Haare wuschelte. „Es fühlt sich wie Verrat an, das einfach jemand anderem zu erzählen."
„Es ist kein Verrat. Weder ziehst du sein Andenken in den Schmutz, noch arbeitest du auf einmal für du weißt schon wen", sagte Hermione. Zu ihrem Erstaunen wurde sie von Ron unterstützt:
„Gerade du hast dich schon oft über Anweisungen hinweggesetzt, wenn sie dich daran gehindert haben, das zu tun was gerade wichtig war. Und überleg mal, warum wir das geheim halten sollen: Damit Er nicht erfährt, was wir vorhaben, und vielleicht auch, damit nicht noch mehr Leute auf die Idee kommen, das zu versuchen. Wobei ich denke, daß es vor allem um das erste geht. Die Leute, die irre genug sind, das durchzuziehen, kommen bestimmt auch anders darauf. Also brauchen wir jemanden, von dem wir sicher sind, daß er oder sie es nicht weiterträgt. Dann kann eigentlich nichts passieren."
Harry schluckte. Schließlich nickte er.
„Okay. Also Hannah. Hermione, hilfst du dabei, sie zu überzeugen?"
„Mach ich."
„Dann brauchen wir also nur noch die Erinnerung. Probiert mal aus, ob ihr zu zweit unter den Tarnumhang paßt."
„Ich gehe allein", sagte Hermione.
„Was?" – „Moment", riefen die beiden Zauberer durcheinander. Ron sprach weiter: „Es war doch abgemacht, daß wir beide gehen."
„Genau: Wir beide wollten ohne Harry gehen, weil wir ernsthafte Probleme bekommen können, wenn er erwischt wird. Und so, wie sich die Situation jetzt darstellt, gilt das auch für dich: Wenn sie dir verbieten, in den Ferien nach Hause zu fahren, kann niemand mehr nach Slughorn suchen. Es sei denn, du willst Hannah allein schicken."
„Wo wollt ihr Hannah hinschicken?"
Der Schreck fuhr ihr heiß durch die Glieder und ihr Herz begann augenblicklich zu rasen. Sie riß den Kopf herum, im gleichen Moment, in dem ihr Hirn die Stimme zuordnete. Dem Schreck folgte Erleichterung: Neville war gerade hereingekommen. Den Geräuschen nach war es Harry und Ron nicht besser ergangen als ihr.
„Ihr müßt wirklich vorsichtiger sein", sagte Neville und zog die Tür zu.
„Oh, natürlich, wie konnte ich das vergessen." Hermione kramte ihren Zauberstab hervor und ließ ihn dabei beinahe fallen. Dann wirkte sie einen Warnzauber auf die Tür. Unterdessen zog sich Neville einen Stuhl heran.
„Wollt ihr schon wieder nachts heimlich verbotene Dinge tun?", fragte er mit einem Schmunzeln.
Harry rang mit sich, das konnte man auf seinem Gesicht deutlich sehen. „Wir brauchen Informationen von Professor Slughorn", sagte er schließlich. „Und um ihn zu finden, brauchen wir eine Erinnerung, die Dumbledore von ihm bekommen hat. Die müßte immernoch im Schulleiterbüro sein."
„Ihr wollt bei Snape einbrechen?"
„Ich will bei Snape einbrechen", sagte Hermione. „Und nicht zum ersten Mal."
Neville riß die Augen auf. Ron räusperte sich. „Deinen Wagemut in Ehren, aber das ist jetzt schon was anderes als Zutaten aus dem Vorratsschrank mopsen."
Hermione zuckte mit den Schultern. „Man wächst mit seinen Aufgaben." Sie hoffte, daß den dreien das dezente Zittern ihrer Stimme entgangen war. „Wir bekommen das Paßwort und ich kenne mich inzwischen ziemlich gut mit Detektions- und Sicherungszaubern aus. Wir haben wahrhaftig schon waghalsigere Sachen unternommen."
„Also können wir getrost mitkommen, weil uns niemand erwischen wird", sagte Harry.
„So war das nicht gemeint."
„Dann komme ich eben mit", schlug Neville vor. Alle starrten ihn an. Seine Wangen und Ohren wurden rot und er schlug die Augen nieder. „Ich meine, ich könnte suchen helfen. Oder aufpassen, während du suchst", murmelte er.
Warum eigentlich nicht? Neville, der ohne Fragen zu stellen mit ins Ministerium gekommen war, der im Sommer sofort bereit gewesen war, das Schloß zu verteidigen. Der sich trotz der Angst, die er wie sie alle gehabt hatte, als besonnen erwiesen und die Übersicht behalten hatte. Einen besseren Begleiter konnte sie sich für dieses Unterfangen kaum wünschen.
„Danke, Neville. Ich würde mich freuen, wenn du mitkommst."
„Wirklich?" Er riß den Kopf hoch und schaute zwischen ihnen umher. Hermione nickte. Es tat ihr weh, zu sehen, daß er sich nach all dem, was in den letzten beiden Jahren geschehen war, noch immer so verunsichern ließ. Und auch Ron meldete sich zu Wort:
„Großartig, gut, daß du dabei bist. Niemand sollte sowas allein machen, und uns will sie ja nicht haben."
Hermione riß den Mund auf, um zu protestieren, doch im letzten Moment fiel ihr auf, daß das wahrscheinlich ein Scherz war.
„Dann können wir ja weiter planen", sagte sie stattdessen.
15.12.1997
Hermione war in aller Frühe aufgestanden, um vor dem Frühstück die Hausaufgaben für die zweite Hälfte der Woche fertigzustellen, doch kaum hatte sie den Gemeinschaftsraum betreten, beanspruchte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit: Am Schwarzen Brett war ein neuer Aushang aufgetaucht. Oder vielmehr, zwei:
Ab Januar wird das Fach Muggelkunde mit aktualisiertem Lehrplan wieder unterrichtet. Die Teilnahme ist obligatorisch. Ihre Stundenpläne werden sich nach den Ferien entsprechend ergänzen.
Und darunter:
Folgende Schüler sind ab sofort vom Unterricht in Verteidigung ausgeschlossen:
Colin Creevey
Dennis Creevey
Hermione Granger
...
Ihr wurde schwindelig und flau im Magen. Das war doch nicht möglich! Warum flog sie aus dem Unterricht? Sie war nicht die beste in dem Fach, aber doch vorn dabei, obwohl Malfoy alles tat, um ihr das Leben schwer zu machen. Das war Willkür! Zorn regte sich und holte sie aus der Schreckensstarre.
„Das kann ja wohl nicht wahr sein! Dieser elitäre Arsch!"
„Solche Worte von dir?" Harry war gerade heruntergekommen und schlurfte im Halbschlaf durch den Raum.
„Sie haben mich aus Verteidigung geschmissen!"
„Oh. Weniger Unterricht ist natürlich ein Grund, sich aufzuregen." Er gähnte. Wahrscheinlich brauchte er erstmal Frühstück. Und reichlich Kaffee oder Tee. Mit einem Knurren wandte sie sich wieder der Liste zu. Charlotte Smith, zweite Klasse, der sie im letzten Jahr bei den ersten Schritten in Hogwarts geholfen hatte. Maggie O'Riley und Himal Suri, erste Klasse...
„Das sind alle Muggelkinder aus unserem Haus! Er hat schon lange durchblicken lassen, daß er uns nicht unterrichten will, weil wir für ihn keine echten Hexen und Zauberer sind. Und jetzt ist er damit durchgekommen. Das ist so unfair!"
Harry trat hinter sie und legte einen Arm um ihre Schultern.
„Wenn wir fertig sind, kannst du alles lernen, was du willst. Dann wird niemand mehr dich oder die anderen ausschließen, weil ihr die falschen Eltern habt."
Die Hexe nickte grimmig.
„Hoffen wir, daß uns der nächste Hinweis weiterbringt. Bis dahin mußt du halt berichten."
„Geht klar."
17.12.
Es wurde immer schwerer, sich auf die Erinnerungen an einen blubbernden Kessel, das Mörsern von Käferbeinen und alchimistische Diagramme zu konzentrieren. Immer wieder wollten seine Gedanken abgleiten, erwischte er sich dabei, an den Raum zu denken, in dem ihn der Junge damals überrascht hatte. Draco bohrte beständig, suchte zielstrebig seinen Weg durch den Nebel. Die Kopfschmerzen nahmen zu. Er schaffte es einfach nicht, das improvisierte Labor echt genug aussehen zu lassen. Schon schmolzen die Brauutensilien dahin, und die echte Erinnerung drängte danach, Gestalt anzunehmen. Doch das durfte sie nicht. Verzweifelt griff er nach den Bildern, doch ohne Erfolg. Quakende Frösche, Wollgras im Wind. Füße, die in nassem Moos einsinken. Braunes Wasser.
„Du schummelst!"
Er war wieder in dem Klassenzimmer, in dem sie übten, und Draco sah ihn vorwurfsvoll an. Theodore rieb sich die pochenden Schläfen.
„Ich schummle nicht."
„Doch, tust du. Den Dunklen Lord kannst du nicht einfach rausschmeißen."
„Ich weiß, aber dich schon."
„Aber warum? Ist dir das peinlich, wobei auch immer der Ärmste dich erwischt hat?"
„Du würdest es nicht verstehen. Machen wir Schluß für heute? Ich finde, es reicht langsam."
„Gerade du brauchst dich nicht zu beschweren. Mir brummt schon seit einer ganzen Weile der Schädel. Du bist nicht gerade zartfühlend."
„Tut mir leid", antwortete er halbherzig. „Legilimentik ist offenbar nicht so meins. Oder ich habe zu wenig Übung."
Draco schnaubte. Er stellte zwei Becher auf den Tisch, goß aus einer Flasche eine braune Flüssigkeit ein und wirkte einen Wärmezauber. Der Duft starken Assam-Tees stieg auf.
„Hier." Er schob einen der Becher zu Theodore. „Hast du noch einen Aufpäppel-Trank dabei?"
„Danke", antwortete dieser. Ohne ein weiteres Wort griff er in eine Tasche seiner Robe und holte zwei fingerlange Phiolen hervor, von denen er eine weiterreichte und die andere selbst leerte. „Du scheinst nicht gerade begeistert zu sein, deine Mutter regelmäßig zu sehen", sagte er dann.
„So wie du das sagst, klingt das furchtbar. Ich finde es nur sehr seltsam, daß sie uns unterrichtet. Als ich mitbekommen habe, daß sie und Onkel Tiberius diese Tanzstunden geben, wäre ich fast wieder gegangen."
Theodore lachte bitter. „Ging mir ähnlich. Gerade auf Tiberius könnte ich gut verzichten." Draco zog die Brauen hoch, und Theodore setzte nach: „Er übersieht mich nicht so leicht wie die anderen."
„Er achtet auf die Kinder seiner Kameraden. Ich glaube, er soll uns ausbilden. Vorbereiten. Könnte sein, daß wir irgendwann Sonderunterricht bekommen, mit Zaubern, die die anderen nicht lernen sollen."
„Was hat er eigentlich vor? Snape von seiner Position als Berater verdrängen?"
„Nicht unbedingt. Ich denke, sein Ziel ist die Familie. Er will meinen Vater von der Spitze verdrängen, und mit der Unterstützung des Dunklen Lords kann ihm das gelingen. Er ist erst diesen Sommer zurückgekehrt. Unser Scheitern klebt nicht an ihm."
„Und deine Mutter hat diesen Unterricht initiiert, um ihn zu beobachten? Oder ihm nicht das Feld zu überlassen?"
„Kann gut sein. Es paßt dazu, daß sie nach jahrelanger Pause wieder diesen Ball organisiert. Ganz ehrlich, in dieser ersten Tanzstunde habe ich sie kaum wiedererkannt. Sie war wie früher, bevor der Dunkle Lord zurückgekehrt ist. In den letzten Jahren war sie ständig ängstlich und überbesorgt. Jetzt strahlt sie wieder Sicherheit aus. Ich würde sie gern allein treffen. Es wäre so schön, wenn sie diese Kraft immer hätte, aber vielleicht ist es nur eine Maske für die Öffentlichkeit."
„Im Sommer hatte ich auch nicht den Eindruck, daß sie ängstlich und getrieben gewesen wäre. Sie wirkte sehr souverän, als sie bei uns war. Natürlich besorgt um dich, als ich sie darauf angesprochen habe, aber nicht eingeschüchtert."
„Sie war als Heilerin bei euch. Das ist noch mal was anderes."
„Mag sein. Trotzdem denke ich, sie verfolgt einen Plan. Wahrscheinlich gegen deinen Onkel, nach dem, was du sagst."
„Gut möglich." Draco warf einen Blick auf die Stundenkerze, die auf ihrem Tisch stand, und kippte sich hastig den restlichen Tee in die Kehle.
„Ich muß los. Räumst du hier auf?"
„Kann ich machen, viel ist es ja nicht. Was hast du vor?"
„Ich treffe mich mit jemandem."
„Nicht Pansy, oder?"
„Nein, und sie darf auf keinen Fall erfahren, mit wem."
Theodore zog die Brauen hoch. Draco rollte die Augen.
„Es ist kein Date. Wir reden. Und wir besuchen die Thestrale."
„Das ist wirklich nicht besonders romantisch."
„Vielleicht solltest du mal mitkommen. Es könnte dir guttun."
Theodore schüttelte den Kopf, doch davon ließ Draco sich nicht entmutigen.
„Ich meine das ernst. Mir hilft es, zu akzeptieren, was passiert ist. Mit der Schuld zurechtzukommen. Und du hast noch nicht mal etwas getan, was man dir vorwerfen könnte."
„Das sehe ich anders."
„Du warst neun, was hättest du tun können?"
„Und du? Welche Wahl hattest du? Egal, wie du dich entschieden hättest, mindestens ein Leben hätte es gekostet. Du hast dich jahrelang wie ein Arschloch aufgeführt, aber das hat dein Vater für dich gewählt. Du hättest dich höchstens geschickter anstellen und weniger Leute in Gefahr bringen können."
„Ich weiß. Trotzdem ist es etwas anderes. Ich habe Dinge ins Rollen gebracht. Und wie du schon sagtest, andere gefährdet, die nichts damit zu tun hatten. Das hätte alles noch viel schlimmer enden können. Du hast einen Unfall erlebt und konntest nicht helfen. Als Kind."
„Das war kein Unfall."
Draco starrte schweigend an. Eine plötzliche Erkenntnis wandelte Verwirrung in Schrecken.
„Dein Vater hat …"
Theodore nickte. „Inzwischen bin ich sicher."
„Shit. Aber dann hättest du es erst Recht nicht verhindern können."
„Ich weiß, aber das hilft nicht. Sieh zu daß du deine Verabredung nicht versetzt."
Draco starrte ihn noch immer mit aufgerissenen Augen an, stand aber langsam auf. „Kommst du zurecht?"
„Nicht besser und nicht schlechter als die letzten Jahre. Grüß die Monster."
Draco nickte und verschwand.
19.12.97
Der verzauberte Wecker leuchtete auf. Es war an der Zeit. Hermione löschte das Licht und linste zwischen den Vorhängen ihres Bettes hindurch. Mondlicht und Wolken malten Muster auf den Boden. Sonst regte sich nichts. Beinahe lautlos kroch sie aus dem Bett und warf sich eine schwarze Schulrobe über den Schlafanzug. Dicke Socken sollten die Füße warm halten und das Geräusch ihrer Schritte dämpfen. Sie waren verzaubert, um besseren Halt zu geben. Die Hexe steckte ihren Zauberstab ein, schloß die Vorhänge des Bettes und schlich zur Tür. Ihr war schlecht vor Aufregung, doch jetzt setzte auch eine beginnende Euphorie ein: Endlich konnte sie etwas tun.
Unten im Gemeinschaftsraum herrschten ebenfalls Stille und Dunkelheit, in der das Mondlicht von den Fenstern die Möbel erahnen ließ und lange Schatten malte. Das Feuer im Kamin war zu tiefroter Glut heruntergebrannt. Es war ein Uhr nachts, außer den Geistern und den Katzen sollte niemand im Schloß unterwegs sein.
„Hey."
Das Flüstern trieb auf einen Schlag ihren Puls in die Höhe. Erst einen Augenblick später holte ihr Hirn auf und identifizierte Nevilles Stimme.
„Puh, erschreck mich nicht so!"
„Sorry." Wie aus dem Nichts tauchte sein Kopf auf. Er hatte die Kapuze des Tarnumhangs abgenommen.
„Toll, nicht? Ich bin so froh, daß Harry uns den borgt. Sollen wir versuchen, dich mit drunter zu bekommen? Oder möchtest du den Umhang tragen?"
„Nein, nimm du ihn lieber. Ich bin gut genug mit dem Zauber."
Wenig später schlichen sie Hand in Hand durch die Gänge, um einander nicht zu verlieren. Hermiones Arm steckte mit unter dem Umhang, anderenfalls wäre Nevilles Hand sichtbar geblieben. Auf halbem Weg verharrten sie minutenlang an die Wand gepreßt und wagten kaum, zu atmen: Peeves war im Gang erschienen und hatte begonnen, Teile der Rüstungen auszutauschen und diese anschließend mit Klopapier, Staubwedeln und einer geblümten Unterhose zu verzieren. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit.
Mit größter Vorsicht setzten sie ihren Weg fort. Das Glück war ihnen hold: Ohne weitere Zwischenfälle erreichten sie den richtigen Gang, der in nächtlicher Einsamkeit ruhte. Ohne ihren Desillusionierungszauber zu lösen flüsterte Hermione dem Wasserspeier das Paßwort zu, das Dobby ihnen am Morgen verraten hatte. Pflichtschuldig sprang dieser beiseite und hinter ihm öffnete sich die Wendeltreppe. Oben untersuchte die Hexe akribisch die Tür. Es lag tatsächlich ein Fluch auf dem Knauf. Wie gut, daß sie den nicht einfach angefaßt hatte! Eine halbe Minute später betraten sie das Büro.
Mondlicht und Schatten malten bizarre Bilder. Es war so still, daß man eine Schneeflocke fallen gehört hätte. Hermione schlug das Herz bis zum Hals.
„Ich glaube, sie schlafen alle", flüsterte Neville. Auch Hermione betrachtete nun die Portraits hinter dem Schreibtisch. Die meisten lagen im Schatten, sodaß sie nicht bei allen sicher war, doch ihr Eindruck war der gleiche.
„Lumos."
Die Spitze ihres Zauberstabes leuchtete auf und erhellte die Umgebung.
„Harry hat gesagt wir sollen es zuerst in dem Glasschrank auf der rechten Seite versuchen."
Das Glas der Türen war milchig und schillerte im Licht ihres Zauberstabs in allen Regenbogenfarben. Leider war dadurch der Inhalt nicht zu erkennen. Hermione kniete sich vor das Möbelstück, beendete den Lichtzauber und probierte die Analysensprüche durch. Die ersten blieben ergebnislos, aber einer der eher grauen Zauber aus der Black-Bibliothek offenbarte ihr einen Fluch. Und als dieser gebrochen war, fand sie den nächsten. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie einigermaßen sicher war, alle Zauber entfernt zu haben. Trotzdem wickelte sie ihre Hand in den Stoff ihres Ärmels, bevor sie die Schranktüren aufzog.
Es waren Phiolen darin, doch sie waren leer. Kein Denkarium stand um untersten Fach, dafür lagen gläserne Apparaturen auf Samt. Hermione tastete den Stoff ab, doch er verbarg nichts. Mit einem Seufzen schloß sie die Türen wieder. Welchen Schrank sollte sie als nächstes nehmen?
Sie stand auf und sah sich um. Neville stand am Schreibtisch. Leise Stimmen waren zu hören, kaum wahrnehmbar wie eine Sommerbrise auf dem See.
„Neville, was tust du da?" Dienten die Portraits nicht dem aktuellen Schulleiter? Was, wenn dieses sie verriete?
„Jemanden fragen, der sich hier auskennt und weiß, was sich in den letzten Monaten verändert hat."
„Aber-"
Das ölfarbene Abbild Albus Dumbledores blickte mit glänzenden Augen auf sie herab. Er lächelte ein Großvaterlächeln. Zorn wallte in Hermione auf, den sie nur mühsam herunterschluckte.
„War dieses ganze Rätselraten wirklich nötig? Gibt es noch etwas, was wir unbedingt wissen müßten, aber irgendwie durch geheimnisvolle Kräfte erfahren sollen?" Sie sprach leise, doch voll Bitterkeit.
„Miss Granger, bitte glauben Sie mir, ich wollte Sie alle schützen. Ich wollte Harry eine unbeschwerte Kindheit ermöglichen." Die Hexe schnaubte, doch das Bild sprach ungerührt weiter: „Und ich wollte, daß Sie alle die Informationen auch verarbeiten können. Außerdem wußte ich selbst nicht alles. Vieles habe ich erst im letzten Jahr zusammengefügt, manche Details erst dann erfahren. Und dann sind da noch Informationen, die wir sorgfältig hüten müssen, damit sie nicht zu den falschen Ohren gelangen."
„Aber Sie waren übervorsichtig. Wie soll Harry, wie sollen wir diese Aufgabe lösen? Wir stochern blind im Dunkeln."
„Ich denke, Sie sind auf einem guten Weg. Mr. Longbottom hat mir gesagt, daß Sie eine Erinnerung suchen. Severus hat das Denkarium und meine Sammlung umgeräumt, aber es ist noch alles da. Sie sind jetzt in einem Schrank in der Nische zwischen den Fenstern, hinter dem Vorhang. Es liegen Zauber darauf, aber nichts allzu kompliziertes, das werden Sie schon hinbekommen." Dabei zeigte er ein wohlwollendes, sanftmütiges Lächeln. Und bei diesem Lächeln kam Hermione förmlich die Galle hoch, was sie wiederum irritierte. Erst jetzt wurde ihr so richtig klar, daß sie sich betrogen und manipuliert fühlte, allen wohlmeinenden Gründen zum Trotz.
„Danke", preßte sie hervor. Dann wandte sie sich rasch ab und steuerte den Vorhang zwischen den hohen, spitzbogigen Fenstern an.
Tatsächlich fiel es ihr nicht schwer, die Flüche von dem Schrank zu entfernen und ihn zu öffnen. Es dauerte nur elend lang. Neville war zur Tür gegangen und lauschte. Mit einem Seufzen der Erleichterung erkannte die Hexe das Denkarium. Im Licht ihres Zauberstabs las sie die Etiketten der gläsernen Phiolen, in denen die Erinnerungen aufbewahrt wurden. Da waren etliche von Dumbledore selbst, säuberlich mit Datum versehen. Namen, die sie nicht kannte oder nur vage vermeinte, schonmal gehört zu haben.
Horace Slughorn. Treffer.
Vorsichtig ergriff sie das Glas, wickelte ein Tuch darum und verstaute es in der Tasche ihrer Schulrobe. Dann schloß sie die Tür, löschte das Licht und eilte zum Ausgang.
„Hast du es?", wisperte Neville. Hermione nickte. Sie erneuerte ihren Desillusionierungszauber, der inzwischen drastisch nachgelassen hatte, und ihr Hauskollege setzte die Kapuze des Tarnumhangs auf. Nun mußten sie es nur noch zurück schaffen. War sie deswegen so aufgeregt, so unsicher? Irgendwie hatte sie das Gefühl, etwas wichtiges vergessen zu haben. War das die übliche Unsicherheit, die sie auch vor Prüfungen hatte? Da fühlte sie sich grundsätzlich unzureichend vorbereitet, egal wieviel sie gelernt hatte. Sie hatten die richtige Erinnerung, also nichts wie weg.
Langsam und lautlos gingen sie durch das schweigende Schloß, wie auf dem Hinweg Hand in Hand. Plötzlich blieb Neville stehen, und Hermione verharrte ebenfalls mit eilendem Herzen. Zuerst fragte sie sich, was er wohl gesehen hatte, noch im nächsten Augenblick spürte sie es: ein Frosthauch, der über den Gang wehte. Dem folgte der Blutige Baron. Er glitt durchs Mondlicht, weiß und silbern schimmernd, mit grimmigem Gesicht. Hermione wagte kaum, zu atmen. Der Geist bewegte sich direkt auf sie zu. Sie biß die Zähne zusammen und faßte Nevilles Hand fester in der Hoffnung, er werde sie verstehen.
Es fühlte sich an wie eine Dusche mit Eiswasser, als der Geist durch sie hindurchglitt. Glücklicherweise hatte er sie nicht voll erwischt, sondern nur ihre rechte Seite. Tränen schossen ihr in die Augen und sie konnte es nicht vermeiden, hörbar nach Luft zu schnappen. Immerhin hatte sie nicht geschrien. Von Neville hörte sie ein unterdrücktes Ächzen. Der Geist mußte seinen Arm durchquert haben.
Der Baron war nun hinter ihnen. Hatte er etwas gehört? Fühlten Geister, daß sie feste Materie durchdrangen? Sachte setzte sie einen Fuß vor. Dann den Zweiten. Zentimeterweise schob sie sich vorwärts und zog an Nevilles Hand. Er folgte ihr. Plötzlich spürte sie Eisluft im Nacken. Der Geist mußte ihrer Haut ganz nahe gewesen sein. Hatte er versucht, nach ihr zu tasten? Ihr Herz schlug so schnell, daß ihre Brust schmerzte. Ihr Atem ging schnell und flach. Es war eine schier unmenschliche Anstrengung, nicht einfach loszurennen. Nevilles Hand begann ihr zu entgleiten. Schwitzte sie so oder er? Oder sie beide?
Erst als sie unbehelligt die nächste Ecke passiert hatten, machten sie eine Pause, um durchzuatmen. Sie trockneten die Hände und suchten einander wieder, doch sie wagten nicht, zu sprechen.
Noch die Treppe hoch, den Gang entlang, um die Ecke. Sie waren beinahe am Ziel. Am liebsten wäre sie gerannt. Stattdessen blieb sie wenige Meter vor dem Bild der fetten Dame wie angewurzelt stehen: Katzenaugen funkelten sie an. Das Mondlicht, das durchs Fenster fiel, ließ einen dürren, staubgrauen Körper erkennen. Mrs. Norris sah genau in ihre Richtung. Langsam und mit einer Eleganz, die man diesem erbärmlichen Wesen kaum zutraute, erhob sie sich und ging auf sie zu. Der Schwanz peitschte. Sie war eindeutig aufgeregt. Wahrscheinlich roch sie die Schüler, oder sie hatte etwas gehört. Konnten sie sich auch jetzt davonschleichen, wie eben noch vor dem Blutigen Baron? So leise konnte Hermione selbst in Socken nicht laufen, und Neville mit Sicherheit auch nicht. Also holte sie ihren Zauberstab hervor. Würde ein Schockzauber dem Tier ernsthaft schaden? Immerhin war es kleiner als ein Mensch.
Plötzlich huschte ein Schatten herbei, etwas größer und deutlich voluminöser als die Katze. Es gurrte und versuchte, ihren Schwanz zu fangen. Mrs. Norris machte zuerst einen irritierten Eindruck, ließ sich dann aber auf das Spiel ein. Das war auch der Moment, in dem Hermione ihren Retter erkannte: Krummbein war ihnen zu Hilfe geeilt. Die Katzen balgten sich mit offensichtlichem Vergnügen und jagten einander kurz darauf durchs Schloß. Als sie nicht mehr zu sehen und nur noch schwach zu hören waren, eilten die beiden Verschwörer zum Eingang ihres Turms.
„Onopordum", sagte Neville.
„Laß mich in Frieden", gähnte die Wächterin, doch das Bild schwang beiseite und gab den Einstieg frei.
Im Gemeinschaftsraum stieß Hermione einen Seufzer der Erleichterung aus und löste den Tarnzauber. Gleichzeitig nahm Neville den Umhang ab. Ein Quetschen kam von einem der Sessel am Kamin. Der Schreck fuhr Hermione durch die Glieder. Sie waren doch allein gewesen!
„Hallo, wer ist da?", flüsterte sie. „Es ist alles in Ordnung, wir gehören zum Haus."
Ein zierlicher Körper kletterte aus dem Sessel und trat in den Lichtfleck vor dem Fenster. Eine Drittklässlerin. Diana Withfield, wenn sie sich richtig erinnerte. „Solltest du nicht längst im Bett sein?"
„Ihr doch auch." Sie klang eher neugierig als trotzig.
„Weißt du", sagte Neville, „Seit Hermione keine Vertrauensschülerin ist, kann sie sich ohne schlechtes Gewissen nachts rausschleichen." Dabei legte er ihr den Arm um die Taille.
Was wird das jetzt? Sie war schon versucht, die Hand freundlich, aber bestimmt wegzuschieben, da fiel der Groschen. Sie versuchte ein verträumtes Lächeln und lehnte sich gegen ihren Klassenkameraden. „Tagsüber ist man irgendwie nie allein", seufzte sie. „Leider ist morgen noch Unterricht. Gute Nacht, Schatz."
Sie gab Neville einen Kuß auf die Wange und dankte im Stillen für die Dunkelheit, die alle Farben trank. Ihr Gesicht glühte, und seines wahrscheinlich ebenso. Sie stiegen brav ihre jeweiligen Treppen hoch, und Diana bog kichernd zu ihrem eigenen Schlafsaal ab. Gut möglich, daß in den nächsten Tagen Gerüchte die Runde machen würden, aber so dachte sie wenigstens nicht über andere Möglichkeiten nach. Und nach den Ferien wären dann gewiß wieder andere Dinge aktuell.
Erst als sie vor dem Spiegel stand und sich rasch die Zähne putzte, fiel ihr siedend heiß etwas anderes ein: Sie hatte von zwei Schränken in Snapes Büro und der Eingangstür Schutzzauber und Flüche entfernt. Und keinen einzigen davon hatte sie vorm Gehen wieder platziert. Wie auch? Bei kaum der Hälfte davon hatte sie eine Vorstellung, wie sie gewirkt wurden. Sobald Snape etwas aus den fraglichen Schränken brauchte würde er bemerken, daß jemand in seinem Büro gewesen war.
