DER DOPPLEREFFEKT


Vardiss:

Colonel Breghala warf gerade den vorletzten Dartpfeil auf das lebensgroße Poster von Mon Mothma, das an die Wand hinter seinem Schreibtisch gepinnt war, und bereitete sich mit dieser überaus entspannenden Tätigkeit geistig auf das ebenso anstrengende wie unerfreuliche Rendezvous mit dem Polizeipräsidenten von Camorrha vor, als sein Kom einen durchdringend schrillen Quietschton von sich gab.

"Sir?" sagte die dienstbeflissene Jungmännerstimme des Adjutanten, der im Vorzimmer von Breghalas Büro thronte und den einzigen Zugang zum Allerheiligsten des Chefs mit der Entschlossenheit eines Zerberus bewachte und verteidigt.

Na ja, nicht immer, aber immer öfter, dachte Breghala.

Er unterdrückte nur mit Mühe einen Seufzer und aktivierte den Videomodus der Kom-Einheit. Als der Bildschirm aufflammte und das vor Aufregung und Verlegenheit hochrote Gesicht seines Adjutanten zeigte, sagte er: "Was ist denn jetzt schon wieder, Paejonn?" und er sagte es ziemlich laut.

"Da will Sie jemand sprechen, Sir", sagte Paejonn und er sagte es ziemlich leise.

„Aber Sie wissen doch ganz genau, dass ich um eins eine Konferenz habe!" Breghala warf einen prüfenden Blick auf sein Armbandchrono. "Und es ist schon kurz nach zwölf', fuhr er fort. "Ich muss spätestens in einer halben Stunde los. Ich habe jetzt wirklich keine Zeit für irgendwelche Besucher. Nur aus reiner Neugier ... wer ist es überhaupt?", fügte er einen Augenblick später hinzu.

"Oh ... äh ... das weiß ich nicht so genau, Sir."

Dieses Mal unterdrückte Breghala seinen Seufzer nicht. "Aber Sie haben ihn doch sicher wenigstens nach seinem Namen gefragt, bevor Sie ihn ins Wartezimmer gesetzt haben, Paejonn, oder etwa nicht?" erkundigte er sich gefährlich sanft

"Oh ja, natürlich, Sir. Das heißt, ich habe sie nach ihrem Namen gefragt. Sie heißt Sorkin Lieutenant Jessamy Sorkin, Sir."

"Sorkin … Sorkin kenn ich nicht!" brummte Breghala, nachdem er erfolglos sein Gedächtnis strapaziert hatte. "Wer ist sie? Was will sie?"

"Oh ... äh ... das weiß ich nicht so genau, Sir. "

Breghala schloss sekundenlang die Augen, krampfhaft bemüht, nicht die Beherrschung zu verlieren. "Wie lange arbeiten Sie jetzt schon für mich, Paejonn?"

"Ungefähr sechs Wochen, Sir", murmelte Paejonn und machte sich sichtlich auf eine Standpauke gefasst.

"Es sind heute auf den Tag genau sechs Wochen! Und Sie machen immer noch dieselben Fehler wie an Ihrem allerersten Tag. Eines sollten Sie sich für die Zukunft hinter die Ohren schreiben, Junge: 'Oh ... äh ... das weiß ich nicht so genau' ist exakt die Antwort, die ich auf gar keinen Fall von Ihnen hören will. Nie wieder! Habe ich mich klar ausgedrückt?"

"Vollkommen klar, Sir", flüsterte Paejonn geknickt.

"Und machen Sie gefälligst nicht immer so ein trübseliges Gesicht! Von mir einen Anpfiff zu bekommen, ist noch lange kein Grund, gleich die Flügel hängen zu lassen. Ich meine es schließlich nur gut mit Ihnen. Wenn ich es nicht gut mit Ihnen meinen würde, dann würde ich Sie einfach in hohem Bogen rauswerfen. Aber stattdessen sage ich Ihnen, was Sie falsch machen, damit Sie Gelegenheit haben, es in Zukunft richtig zu machen. Sie bekommen eine Chance von mir, Junge. Nutzen Sie sie! "

"Ja, Sir", klang es kleinlaut zurück.

"Na schön. Sagen Sie dieser ... Sorkin oder wie sie heißt, dass ich außer Haus bin und dass sie morgen wiederkommen soll. Geben Sie ihr einen Termin, vielleicht gegen zehn ... Nein, warten Sie!" befahl Breghala, dem einfiel, dass sein Terminkalender für den nächsten Tag auch so schon ziemlich dicht war.

Und wer konnte wissen, auf welche Ideen dieser Kretin von einem Polizeipräsidenten noch verfiel? Womöglich wollte er die Konferenz morgen fortsetzen. Es ging immerhin um die Planung von lückenlosen Sicherheitsvorkehrungen für den bevorstehenden Besuch des Gouverneurs von Devon. Aber auch wenn Colonel Breghala der Leiter der hiesigen Sektorzentrale des imperialen Geheimdienstes und noch dazu ein Organisationstalent war, konnte er sich schließlich nicht um alles kümmern. Wozu hatte er eigentlich einen Stellvertreter?

"Schicken Sie sie zu Major Daimon. Er soll mit ihr reden. Und er soll wenigstens versuchen, sich zur Abwechslung mal wie ein halbwegs zivilisierter Mensch aufzuführen – auch wenn es ihm noch so schwer fällt. Kein Gebrüll, keine Drohungen, keine gewalttätigen Ausbrüche, sagen Sie ihm das. Die nächste Dienstaufsichtsbeschwerde, die auf meinem Schreibtisch landet, leite ich nämlich weiter das – und das können Sie ihm ruhig auch sagen."

"Äh ... ich fürchte, der Major ist gerade eben in die Mittagspause gegangen, Sir", sagte Paejonn zaghaft.

"Kaum zwölf Uhr und Daimon ist schon auf dem Weg in die Kantine? Was ist denn das für eine Arbeitsmoral?" rief der allgewaltige Geheimdienstchef, dessen Magen plötzlich wie ein neurotischer Kettenhund knurrte und Visionen von einem riesigen, gut durchgebratenen BruallkiSteak vor seinem geistigen Auge auftauchen ließ, was seine Bereitschaft, den kleinen menschlichen Schwächen seiner Untergebenen gegenüber Nachsicht zu zeigen, nicht gerade steigerte.

Und so was will mal mein Nachfolger werden! dachte er voller Verachtung.

Doch die Tatsache, dass es ihm gerade gelungen war, einen weiteren Schönheitsfehler an seinem märchenhaft tüchtigen – und gefährlich ehrgeizigen – Stellvertreter zu entdecken, stimmte ihn sofort wieder ein wenig milder. "Na gut. Wenn diese Person schon im Wartezimmer herumsitzt, kann ich sie mir ja wenigstens mal ansehen. Zeigen Sie sie mir", befahl er. "Los, los, Junge, ein bisschen Tempo!"

"Ja, Sir." Paejonns Finger veranstalteten einen hektischen Trommelwirbel auf der vor ihm stehenden Computertastatur.

Schon einen Augenblick später teilte sich das Bild auf Breghalas Monitor und zeigte neben dem naiv-eifrigen Jungengesicht seines Adjutanten, das noch von den letzten Spuren eines postpubertären Akneanfalls gesprenkelt war, einen tristen, ganz in Grau gehaltenen Raum, dessen einzige Möblierung aus ein paar schlichten und ziemlich unbequem aussehenden Stühlen bestand.

Auf einem dieser Stühle, direkt im Fokus der Überwachungskameras saß eine junge Frau, die sich in ihrer ebenfalls grauen Uniform so wenig von ihrer Umgebung abhob, als hätte sie Tarnkleidung angelegt. Breghala begutachtete sie voller Interesse. Mitte Zwanzig ungefähr. Schlank, drahtig, machte einen sportlichen Eindruck. Meerblaue Augen unter einem weizenfarbenen Lockenschopf, der sich so eigensinnig kringelte, dass ihn sogar der vorschriftsmäßige Kurzhaarschnitt nur teilweise gebändigt hatte. Eine Stupsnase, deren kesser Aufwärtsschwung ihrem Gesicht irgendwie auch dann eine fröhliche, spitzbübische Note verlieh, wenn sie so ernst aussah wie jetzt. Eine kleine Kerbe in dem kantigen Kinn, das Energie und Willenskraft verriet.

Keine auffallende Schönheit, aber auf ihre Weise ganz attraktiv, entschied Breghala.

Die Frau namens Jessamy Sorkin rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, als fühlte sie, dass sie beobachtet wurde. Natürlich war sie nervös. Alle Leute, die in diesem Raum sitzen und warten mussten, waren nervös.

Und die meisten von ihnen haben auch allen Grund dazu! dachte Breghala grimmig.

Er rang sich zu einem Entschluss durch. Eigentlich hatte er definitiv keine Zeit, aber irgendetwas an dieser jungen Frau weckte seine Neugier. Er würde mit ihr reden. Vielleicht geht es ja nur um eine Bagatelle, irgendeine Kleinigkeit, die sich in ein paar Minuten abwickeln lässt ...

"Also gut, Paejonn, bringen Sie sie rein. Ich will mir mal anhören, was sie zu sagen hat", verkündete er in einem plötzlichen Anfall von Menschenfreundlichkeit, der sich sofort wieder verflüchtigte. "Nun hieven Sie schon Ihren Hintern hoch und setzen Sie sich endlich in Bewegung, Junge! Ich hab's eilig!"

"JA, SIR!

Paejonn sprang auf, versuchte gleichzeitig strammzustehen und zackig zu salutieren, machte dabei eine eher traurige Figur und sauste davon, um den Wunsch seines Herrn und Meisters schnellstmöglich in Erfüllung gehen zu lassen, wobei er natürlich vor lauter Eile über seine eigenen Füße stolperte.

Breghala schüttelte den Kopf, deaktivierte das Kom und wandte sich wieder dem zweidimensionalen Abbild der galaxisweit gesuchten Anführerin der sogenannten Rebellen–Allianz zu, das seine Bürowand schmückte. Es war mit Dartpfeilen gespickt wie ein virianischer Igelschnäbler mit Stacheln und nach langjährigem intensiven Gebrauch mit zahllosen winzigen Löchern übersät.

Er griff nach dem letzten Dart und drehte ihn nachdenklich in seiner Hand hin und her. Als moderner, aufgeklärter, kultivierter und vor allem zivilisierter Mensch glaubte er natürlich nicht an Vurudu–Magie oder anderen esoterisch angehauchten Schnickschnack. Seine Götter trugen die Namen Logik und gesunder Menschenverstand und es war schlicht und einfach unter seiner Würde, die wilden Gerüchte zur Kenntnis zu nehmen, die über die angeblich ziemlich esoterischen Talente von Lord Vader und dem Imperator im Umlauf waren.

Eindeutig Rebellenpropaganda! Man würde sich irgendwann ernsthaft um diese anarchistischen Schmierfinken von der Untergrundpresse kümmern müssen – und wenn man schon mal dabei war, auch gleich um all die anderen subversiven Schwätzer und Lästermäuler!

Ungeachtet dieser Tatsache vertrat er die Meinung, dass es nicht schaden konnte, wenn man sich mit aller Kraft die totale Vernichtung des Feindes wünschte und seine ganze destruktive Energie auf dieses erhabene Ziel konzentrierte. Und von diesem – natürlich rein logischen! – Gedanken beseelt, stellte er seine hauchdünne Lackschicht aus moderner, aufgeklärter und kultivierter Zivilisation unter Beweis, indem er den letzten Dartpfeil mit einer locker–geschmeidigen Handbewegung in Richtung Poster schleuderte und ihn dank einer durch Übung erworbenen Zielfertigkeit exakt dort platzierte, wo bei Mon Mothma das Herz gewesen wäre, wäre sie aus Fleisch und Blut gewesen statt aus kartoniertem Papier.

Die erfolgreiche Ermordung ... Eliminierung … der Chef–Terroristin – auch wenn sie leider nur auf mentaler Ebene stattgefunden hatte – erfüllte ihn mit einem gewissen Triumph, was seine Laune so sehr verbesserte, dass er beinahe lächelte, als er zum Fenster hinüberging, wo er Stellung bezog, um seine eindrucksvolle, speziell für den Empfang von Besuchern vorgesehene Pose einzunehmen. Er faltete die Hände auf dem Rücken und blickte mit leicht gerunzelter Denkerstirn tiefsinnig durch die polarisierte Plastahlscheibe auf die mit erbarmungsloser Sorgfalt gestutzten Eiwazzbüsche, die das ebenso sorgfältig gemähte Rasenstück vor dem Gebäude beherrschten.

Die öffentlichen Grünanlagen von Camorrha, der Hauptstadt von Vardiss, erfreuten das Auge des Betrachters mit einer beinahe militärischen Präzision, die so auffällig war, dass sich nicht einmal Vögel dort niederzulassen wagten – von spiel– und lärmsüchtigen Kindern und verdauungsgeplagten Hunden ganz zu schweigen. Sogar die Insektenwelt schien nur mit halber Kraft und unter möglichst gedämpftem Gesumm und Gebrumm über die gepflegten Blumenrabatten in den Stadtparks zu schwirren, in denen auch das hartnäckigste Unkraut nicht die leiseste Chance hatte, das Keimstadium zu überleben.

Breghala war gerade dabei, sich in tiefschürfenden Gedanken über die ausgesprochen befriedigende Wirkung von Unkrautvertilgungsmitteln zu verlieren, als sich jemand direkt hinter ihm diskret räusperte. Er drehte sich bewusst langsam um und sah zu seiner Überraschung nur seine Besucherin vor sich. Denn natürlich hatte Paejonn nicht nur wieder mal vergessen anzuklopfen, bevor er Sorkin hereingeführt hatte, nein, er hatte sie noch dazu einfach stehen lassen und sich wieder aus dem Staub gemacht, ohne sie formell anzukündigen, wie es sich gehörte und wie sein leidgeprüfter Vorgesetzter es ihm nun schon seit genau sechs Wochen beizubringen versuchte!

Breghala bezwang seinen Ärger – er würde sich Paejonn später vorknöpfen und ihm das Fell über die Ohren ziehen, soviel stand fest! –, und schenkte seinem Gast ein schmales Lächeln.

"Willkommen auf Vardiss, Lieutenant Sorkin. Nehmen Sie doch Platz", sagte er mit einer einladenden Handbewegung zu dem Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch.

"Danke, Sir." Sorkin setzte sich.

Breghala ließ sich in seinen Schalensessel hinter dem Schreibtisch fallen und lehnte sich zurück, völlig entspannt. "Sie wollten mich sprechen, hier bin ich. Worum geht es?"

Jessamy Sorkin, die alles andere als entspannt war, saß sehr aufrecht da und faltete ihre Hände im Schoß – eine unbewusste Abwehrhaltung, die jedem, der sich ein bisschen mit Körpersprache auskannte, verriet, wie unbehaglich sie sich fühlte. Breghala war ein Experte auf diesem Gebiet und konnte allein durch die Beobachtung von Mimik und Gestik den emotionalen Zustand jedes xbeliebigen Gesprächspartners erkennen und seine Reaktionen abschätzen.

"Wissen Sie, Sir, ich will niemanden in Schwierigkeiten bringen", sagte sie leise.

Breghala stöhnte innerlich auf. Irgendwann vor langer, langer Zeit hatte er sich die Mühe gemacht, all die sinnlosen Floskeln und leeren Phrasen aufzuschreiben, die ihm Tag für Tag von Denunzianten aller Art ins Ohr geflüstert wurden. Aber der Satz 'Ich will niemanden in Schwierigkeiten bringen ...' war immer noch die unbestrittene Nummer eins auf seiner Hitliste.

Er warf einen unauffälligen Blick auf das Chrono an seinem Handgelenk. Genau 12.13 Uhr. Noch eine gute Viertelstunde also. Aber die Zeit blieb nicht stehen und wenn er noch in Erfahrung bringen wollte, warum Sorkin hier war, dann mussten sie beide allmählich einen Zahn zulegen. Er schaltete seinen Charme ein und knipste ein breites, väterlich wirkendes Lächeln an, das erfahrungsgemäß sogar auf seine zappeligsten Gesprächspartner einen beruhigenden Einfluss ausübte.

"Niemand von uns will irgendjemanden in Schwierigkeiten bringen, aber manchmal bleibt uns einfach nichts anderes übrig, nicht wahr?" sagte er seidenglatt. "Loyalität ist immer ein zweischneidiges Schwert, denn es ist schmerzhaft und sehr, sehr bedauerlich, wenn wir uns dazu gezwungen sehen, unserem Pflichtgefühl zu folgen und das Fehlverhalten von nicht ganz so loyalen und pflichtbewussten Kollegen bei den zuständigen Behörden zu melden."

Jessamy Sorkin starrte ihn ungläubig an, während sich ihr Gesicht irgendwo zwischen Kinn und Backenknochen langsam zartrosa verfärbte.

Na, na, na ... für Skrupel und Gewissensbisse ist es jetzt aber wirklich ein bisschen zu spät, Kleine, dachte Breghala, verstärkte aber sein Lächeln vorsichtshalber um eine zusätzliche Dosis wohlwollend–überlegene Freundlichkeit.

"Sie brauchen sich auch keine Sorgen darüber zu machen, dass Ihnen dadurch vielleicht irgendwelche Nachteile entstehen, Lieutenant", fuhr er fort. "Wir sind hier unter vier Augen und selbstverständlich wird alles, was Sie mir zu sagen haben, absolut vertraulich behandelt. Niemand wird je etwas von diesem Gespräch erfahren."

Sorkins Teint wechselte durch eine ganze Palette von immer dunkler schattierten Rottönen, bis sie eine gewisse Ähnlichkeit mit einer vollerblühten Paccarairose aufwies.

"Eigentlich geht es hier nicht um eine dienstliche Angelegenheit, Sir", stammelte sie, sichtlich peinlich berührt. „Ich meine, es ist nicht direkt dienstlich ... es ist eher privat ... jetzt noch ... aber vielleicht nicht mehr lange, verstehen Sie?"

Nein, Breghala verstand es nicht, aber dies schien kaum der geeignete Augenblick zu sein, sie darauf hinzuweisen.

"Privat?" fragte er leicht irritiert und sah wieder auf sein Chrono. 12.17 Uhr.

Das dauert und dauert ...

"Es geht nämlich um meine Untermieterin, Sir. Ich glaube ..." Jessamy Sorkin zögerte.

"Na was?" sagte Breghala aufmunternd und schielte aus dem Augenwinkel erneut auf sein Chrono. 12.18 Uhr.

Muss mich bald auf den Weg machen ... Spuck's endlich aus, Kleine! dachte er ungeduldig.

"Ich glaube, dass sie ..."

Ein neuer schriller Misston von der Kom-Einheit unterbrach Sorkin mitten im Satz.

"Colonel Breghala, Sir!" riefPaejonn freudestrahlend.

"WAS IST?!" schrie Breghala, dem endgültig der Geduldsfaden riss. 12.19 Uhr. Gottverdammt!

"Major Daimon, Sir! Er ist wieder da, Sir. Er sagt, er kann Lieutenant Sorkin jetzt für Sie übernehmen, wenn Sie wollen, Sir! Damit Sie zu Ihrer Konferenz gehen können und überhaupt, Sir", quasselte diese wandelnde Katastrophe von einem Adjutanten, dessen einziges wahres Talent darin zu bestehen schien, Chaos und Vernichtung in das Leben seines vom Schicksal gebeutelten Vorgesetzten zu tragen.

"Ich glaube, dass sie eine Spionin ist", flüsterte Jessamy Sorkin, aber Breghala hörte sie trotzdem.

Einen Augenblick lang herrschte allgemein ergriffenes Schweigen, dann sagte Breghala knapp: "Paejonn, sagen Sie Daimon, dass ich mich selbst um diese Angelegenheit kümmere. Und sorgen Sie dafür, dass wir nicht mehr gestört werden."

"Ja … aber … was ist denn jetzt mit Ihrer Konferenz, Sir?"

"Ich habe jetzt wirklich keine Zeit für irgendwelche Konferenzen!" schnappte Breghala, dessen größte Stärke in seiner Flexibilität lag, die es ihm erlaubte, auf unerwartete Entwicklungen blitzschnell zu reagieren und ebenso schnell seine Prioritäten neu zu definieren. "Rufen Sie den Polizeipräsidenten an und sagen Sie ihm einfach, dass wir unser Gespräch verschieben müssen.

Sagen Sie ihm, dass ich beschäftigt bin. Erzählen Sie ihm irgendwas, irgendeine Geschichte, damit dieser Wichtigtuer nicht gleich wieder hysterisch wird. Lassen Sie sich etwas einfallen, Junge."

Der bloße Gedanke an die Zumutung, zum ersten Mal selbstständig handeln und auch noch auf eigene Faust eine Idee ausbrüten zu müssen, ließ Paejonn vor Schreck beinahe zur Salzsäule erstarren.

"A…aber ... was denn für eine Geschichte, Sir?" stotterte er aufgeregt, als sich der Schock wieder ein wenig gelegt hatte.

"Woher soll ich das wissen? Strengen Sie mal ein bisschen Ihre Phantasie an, Junge. Sie haben doch wohl so etwas wie Phantasie, oder etwa nicht?"

"Oh … äh ... das weiß ich nicht so genau, Sir."

"PAEJONN!"

"Ja, Sir! Zu Befehl, Sir!" schrie Paejonn in dem verzweifelten Bewusstsein, dass ihm schon wieder die seit kurzem mit einem absoluten Tabu belegte Antwort entwischt war und dass nur vollkommene Hingabe diesen furchtbaren Fehler gutmachen konnte. "Ich werde mein Bestes geben, Sir!"

"Das rate ich Ihnen auch", sagte Breghala düster.

Mit dieser unterschwelligen Drohung schaltete er das Kom ab und überließ den Unglückswurm in seinem Vorzimmer einfach seinem Schicksal. Er vertrat ohnehin die Meinung, dass es keinen Sinn hatte, Adjutanten mit allzu vielen Anweisungen zu verwöhnen. Das verhinderte nur, dass sie lernten, ihren Verstand einzusetzen. Und was Paejonn betraf, so war Breghala gerade eben zu dem Schluss gekommen, dass er mit diesem Jungen einfach erbarmungslos sein musste, wenn er überhaupt jemals flügge werden sollte. Mit diesem abschließenden Gedanken wandte er seine Aufmerksamkeit wieder seiner Besucherin zu.

"Und ich will jetzt Ihre Geschichte hören. Ihnen ist doch wohl klar, dass das eine sehr ernste Anschuldigung ist, nicht wahr? Wie kommen Sie überhaupt darauf, dass diese Frau eine Spionin sein könnte? Haben Sie irgendeinen konkreten Beweis dafür?"

Jessamy Sorkin starrte auf ihre Stiefelspitzen hinunter, als hätte sie dort unten gerade etwas ungeheuer Interessantes entdeckt.

„Nein, einen Beweis habe ich eigentlich nicht", murmelte sie. "Aber mein Verdacht ist auf jeden Fall begründet, Sir. Ich gehöre bestimmt nicht zu den Leuten, die hinter jeder Straßenecke Spione vermuten oder die mit wilden Beschuldigungen um sich werfen, nur weil ihnen die Nase von irgendjemandem nicht gefällt. Vielleicht ist das hier nur falscher Alarm. Ich wäre wirklich froh, wenn es so wäre, Sir." Sie zögerte einen Augenblick. „Es fällt mir nicht gerade leicht, einfach hierher m kommen und ... na ja ... Aber ich fürchte, es ist kein falscher Alarm. Alles ist so merkwürdig …Und je mehr ich darüber nachdenke, desto merkwürdiger wird es."

"Na dann", sagte Breghala achselzuckend. "Ich bin ganz Ohr. Schießen Sie los!"

"Alles fing damit an, dass eine Freundin, mit der ich zusammengewohnt habe, ganz plötzlich versetzt wurde, praktisch von einem Tag auf den anderen …"

Devon:

" … und ich finde es schrecklich unfair, dass sie mich schon wieder durch die Gegend scheuchen und das, obwohl ich mich doch gerade erst so richtig hier eingelebt habe und Commander Bronwyn mich bei jeder Gelegenheit über den grünen Klee gelobt hat. Erst letzte Woche hat er mir erzählt, dass sie noch nie so wenige Programmabstürze hatten wie in den letzten beiden Jahren. Er hat gesagt, ich wäre die gute Fee der EDV-Abteilung und die Seele des ganzen Betriebs und er würde sich lieber hängen, rädern und vierteilen lassen als mich von Devon weggehen zu lassen. Das hat er wirklich gesagt, Sam, wortwörtlich!

Und jetzt – keine acht Tage später! – drückt er mir einfach einen Versetzungsbefehl in die Hand, lächelt mich zuckersüß an und wünscht mir viel Glück und eine gute Reise. So ein Schleimer! Der dreht sich auch wie eine Wetterfahne im Wind, wenn es ihm in den Kram passt.

Aber so läuft das eben in diesem Laden. Erst machen sie einen Riesenwirbel um dich und dann, wenn du gute Arbeit geleistet hast und sie von dir genau das bekommen haben, was sie haben wollten, ja, dann lassen sie dich fallen wie eine heiße Batuknolle und reichen dich einfach weiter. Ich sag's ja immer: Verlass dich auf deine Vorgesetzten und du bist verlassen! Und was sagst du dazu?"

Kaye Drumheller, die die letzte Viertelstunde damit verbracht hatte, ruhelos zwischen der auf antik gestylten Couch und dem dazu passenden Lehnsessel hin und her zu tigern und zu schimpfen wie ein Rohrspatz, blieb stehen, wischte sich eine dunkle Haarsträhne aus der erhitzten Stirn und sah ihre Mitbewohnerin fragend an.

Jessamy, die sich auf dem blassgrünen plüschigen Repulsorkissen des breiten Sessels zusammengerollt hatte, setzte sich auf, schwang beide Beine über eine der üppig gepolsterten Lehnen und zog nachdenklich die Stirn kraus.

"Na ja, ich weiß auch nicht. Vielleicht konnte Bronwyn es ja gar nicht verhindern. Vielleicht brauchen sie jetzt eben auf Soraya dringend eine gute Programmiererin oder eine gute Fee oder was auch immer."

"Ha! Die werden mich von meiner Schokoladenseite kennen lernen, das sage ich dir! Wer will sich schon am anderen Ende der Galaxis an eine Computerkonsole ketten lassen? Soraya! Eine Schlammkugel von einem Planeten irgendwo im Nirgendwo ... finsterste Provinz ... absolut tote Hose! Warum mauern sie mich nicht gleich bei lebendigem Leibe in einem Mausoleum ein? Das wäre wenigstens kurz und schmerzlos", murrte Kaye. (Sie neigte ein wenig zu Übertreibungen, wenn sie ihre aufsässigen fünf Minuten hatte.)

Ein wenig erschöpft von ihrem wortgewaltigen Ausbruch ließ sie sich auf die Couch fallen, was der große rotgetigerte Kater, der sich dort häuslich niedergelassen hatte, mit einem empörten Fauchen und einem schnellen Tatzenhieb quittierte. Es war offensichtlich, dass er dieses edle Möbelstück als seine private Kuschelecke beanspruchte – und dass er es hasste, wenn hundertvierzig Pfund geballter Frust auf seiner Schwanzspitze landeten!

"Autsch! Also diese verdammte Katze werde ich ganz bestimmt nicht vermissen!" rief Kaye aufgebracht und rieb behutsam den Teil ihrer wohlgeformten vier Buchstaben, der von der krallenbewehrten Katerattacke in Mitleidenschaft gezogen worden war.

Und damit kommen wir endlich zum Kern der Sache, was? dachte Jessamy halb resigniert, halb amüsiert.

Und genau so war es auch, denn schon einen Augenblick später wurde Kayes lebendiges, ausdrucksvolles Gesicht von einer tragikumwitterten Miene überschattet. Sie stieß einen schicksalsergebenen Seufzer aus und verkündete mit grabesschwerer Stimme: "Tja, tut mir Leid, Sam, aber du wirst dich nach einer neuen Untermieterin umsehen müssen."

Jessamy schnitt eine kleine Grimasse – über diesen Punkt hatte sie sich schon den Kopf zerbrochen, seit Kaye türenknallend nach Hause gekommen war und mit viel Temperament und noch mehr Stimmvolumen ihre Neuigkeiten an den Mann beziehungsweise an die Frau gebracht hatte. Ja, sie musste eine neue Mitbewohnerin finden – und das so schnell wie möglich. Nachdenklich kraulte sie den Rücken des Katers, der inzwischen dem Bannkreis von Kayes buchstäblich erdrückender Persönlichkeit entkommen war und auf Jessamys Schoß Zuflucht gesucht und gefunden hatte.

Der Dreh– und Angelpunkt des ganzen Problems war natürlich finanzieller Natur. Im Prinzip war der Sold eines Lieutenants der imperialen Raumflotte großzügig genug bemessen, um einen soliden Lebensstandard zu gewährleisten. Aber für irgendwelche Extravaganzen – zum Beispiel in Form eines kostspieligen Hobbys – ließ er wenig oder überhaupt keinen Spielraum. Jessamy hätte sich die hohe, aber nicht unerschwingliche Miete für die geräumige Wohnung im neunundvierzigsten Stock des Shaalizaar Inns, die sie sich nun seit fast zwei Jahren mit Kaye teilte, durchaus auch alleine leisten können. Aber in diesem Fall hätten die ständig fälligen Rechnungen, die Besitz, Unterhalt und Wartung eines eigenen Segelbootes nun einmal mit sich brachten, den Sollstand ihres Kontos mit rasantem Tempo in schwindelerregende Höhen getrieben.

„Es sei denn, du willst die Wohnung aufgeben und auf deinem Boot leben", fuhr Kaye fort. "He, warum eigentlich nicht? Das wäre doch toll ... richtig romantisch ... und praktisch umsonst! "

Jessamy schüttelte nur den Kopf. Kaye war eine unverbesserliche Romantikerin, was sich meistens darin äußerte, dass sie ein erstaunliches Repertoire an mehr oder weniger phantastischen Ratschlägen auf Lager hatte, die zwar immer gut gemeint, aber leider nur selten in die Tat umzusetzen waren. Die Nivess, die im Hafen von Delamere vor Anker lag, war ein stabiler, hochseetüchtiger Kajütensegler und für die Freizeitaktivitäten ihrer Besitzerin ideal, aber eine Luxusyacht war sie nicht gerade, dafür war sie entschieden zu klein.

"Kaye, hast du eigentlich eine Vorstellung davon, was es bedeutet, auf einem Segelboot zu wohnen? Und der nächste Winter kommt bestimmt", fügte Jessamy hinzu, obwohl der Frühling gerade erst damit angefangen hatte, die Stadtparks und Alleen von Delamere mit einem zarten grünen Schleier zu überziehen.

"Es zwingt dich doch niemand dazu, hier zu bleiben. Du könntest auch nach Cinbarra ziehen", meinte Kaye

Cinbarra war genau wie Delamere eine Küstenstadt, lag aber auf der anderen Hemisphäre von Devon und zog mit seinen atemberaubenden Korallenriffen und seinem tropischen Klima Jahr für Jahr nicht nur ganze Heerscharen von erholungswütigen Touristen an, sondern auch zum Äußersten entschlossene Sonnenanbeter, die sich dort für immer niederlassen wollten.

Einen Augenblick lang spielte Jessamy tatsächlich mit dem Gedanken, wie es wäre, sich ihnen anzuschließen – vielleicht sogar zusammen mit jemandem, der gerade im Begriff war, sich in etwas zu verwandeln, was ein bisschen mehr war als nur ein guter Freund, obwohl in dieser Hinsicht noch alles in der Schwebe hing, aber man durfte ja immerhin träumen.

Ewiger Sommer unter einem ewig azurblauen Himmel … Laue Nächte, erfüllt von funkelndem Sternenlicht und dem betäubend süßen Duft exotischer Blüten ... Schwereloses Dahingleiten durch türkisfarbenes Wasser … Segeln … segeln einfach mit Zev Gilfoy auf und davon segeln ... und am besten nie wieder zurückkommen!

Doch an diesem gefährlichen Punkt ihrer Tagträumerei kam Jessamy mit einem jähen Ruck wieder zu sich und erinnerte sich mit leisem Bedauern daran, dass die Personalabteilung des Flottenoberkommandos im allgemeinen ziemlich wenig Verständnis für Offiziere aufbrachte, die sich ganz plötzlich einen Aussteigertrip oder ähnliche Flausen in den Kopf setzten. Und das galt natürlich umso mehr, wenn es dabei um einen Lieutenant ging, der gerade erst vierundzwanzig und geistig und körperlich kerngesund war und vor noch nicht allzu langer Zeit seine teure Ausbildung auf Kosten der braven imperialen Steuerzahler vollendet hatte, wofür er nach Meinung der zuständigen Stabsstelle gefälligst eine adäquate Gegenleistung in Form einer ausreichenden Anzahl an heroisch durchlittenen Dienstjahren zu erbringen hatte. Unter diesen Umständen war es vielleicht doch besser, sich von Cinbarra und seinem verführerischen Dolce–Vita– Ambiente fernzuhalten.

Abgesehen davon lebte Jessamy eigentlich ganz gerne in Delamere. Eine vor Leben pulsierende Großstadt konnte sehr anregend sein – vor allem dann, wenn man die Möglichkeit hatte, sich ihrer unvermeidlichen Hektik durch eine spontan durchgeführte Wochenend–Segeltour zu entziehen. Auch der Wechsel der Jahreszeiten hatte seine Reize. Der Anblick von malerisch verschneiten Straßen und filigranen Eisblumengirlanden an den Fenstern zum Beispiel hatte durchaus einen ästhetischen Wert, während ein endloser Sommer auf die Dauer wohl doch ein wenig eintönig werden musste. Aber in erster Linie ging es ihr um ihre Wohnung.

Jessamy musste den größten Teil ihres Lebens in der klaustrophobischen Enge einer nüchternen, rein funktionell eingerichteten Offizierskabine an Bord eines imperialen Patrouillenkreuzers verbringen. Schon deshalb genoss sie die Weite der riesigen Zimmer, über die ihre wenigen, aber stilvollen Möbel ausgestreut waren wie Muscheln über einen einsamen Strand, aus ganzem Herzen. Sie liebte auch die gigantischen Fenster, die auf halber Höhe mit kunstvoll verschnörkelten schmiedeeisernen Einfassungen gesichert waren und so viel Licht einließen, dass die Wohnung an sonnigen Tagen strahlend hell war wie ein illuminierter Ballsaal. Sie schwärmte für die verblassten Fresken an den hohen Decken, wo sich verblichene Dryaden und Faune in der Gesellschaft von schon beinahe unsichtbaren Einhörnern in einer vergilbten Märchenwaldszenerie tummelten. Und sie war voller Bewunderung für die leicht verschrammten halbnackten Göttinnen und Götter, die die ebenfalls stark mythologisch angehauchten Reliefschnitzereien auf den großen Flügeltüren bevölkerten.

Wer verschwendete beim Anblick von so viel buchstäblich sagenhafter Schönheit auch nur einen Gedanken daran, dass diese Türen inzwischen so verzogen waren, dass sie nicht mehr richtig schlossen, was unweigerlich zur Folge hatte, dass an stürmischen Herbsttagen Zugluft in eisigen Böen durch die ganze Zimmerflucht fauchte? Und wer störte sich schon an der veralteten Zentralheizung, die erst dann geräuschvoll warme Brisen durch sämtliche Räume rülpste, wenn die Thermostate der Umweltkontrollen mit einer Zange und roher Gewalt auf null Grad eingestellt wurden? Jessamy nahm diese kleinen Unannehmlichkeiten gerne in Kauf. Auch die museumsreifen Badezimmerarmaturen mit ihren tückischen Wasserhähnen, die trotz modernster Dichtungen und liebevoller Pflege immer wieder nächtliche Tropfkonzerte veranstalteten oder nur unter grollendem und gurgelndem Protest ihre Pflicht erfüllten, taten ihrer Begeisterung keinen Abbruch. Das alles gehörte in ihren Augen einfach zum altmodischen Charme des Shaalizaar Inns, den sie um nichts in der Welt hätte missen mögen.

Das Shaalizaar Inn, ein fünfzig Stockwerke hoher Wohnkomplex in der 74. Straße West– Delamere, war ein prachtvolles Stück Architektur, das den prunkliebenden und vielleicht auch etwas pompösen Geschmack einer Epoche widerspiegelte, die vor gut drei Jahrhunderten ihr Ende gefunden hatte.

Doch es war noch keine drei Jahre her, dass der Magistrat das Haus widerstrebend unter Denkmalschutz gestellt hatte – und das auch nur, weil die Bürgerinitiative zur Erhaltung historisch wertvoller Bausubstanz mobil gemacht und der Stadtverwaltung den Kampf angesagt hatte.

Seither befanden sich alle Beteiligten auf dem Kriegspfad und stritten sich mit zunehmend erbitterter Leidenschaft darüber, wer für die Sanierung beziehungsweise fachgerechte Restaurierung des Gebäudes zuständig war und vor allem die astronomischen Kosten hierfür übernehmen sollte. Die Anwälte der Bürgerinitiative, die dank dem hohen Streitwert Blut und Credits in rauen Mengen gewittert hatten, hatten vor kurzem endlich Klage beim Imperialen Verwaltungsgerichtshof eingereicht, der für seine Verzögerungstaktik berühmt und berüchtigt war.

Und so hatte das anhängige Verfahren alle Aussicht, sich dank der tatkräftigen Unterstützung durch die imperiale Bürokratie in einem schier undurchdringlichen Gespinst aus juristischen Haarspaltereien zu verheddern, wodurch es sich endlos in die Länge ziehen würde. Die schwerfälligen Mühlen der Justiz würden zweifellos noch jahrelang mahlen. Und bis es irgendwann endlich zum Prozessende und zur Urteilsverkündung kam, würden wahrscheinlich sowohl die Kläger als auch die Beklagten längst das Interesse an der ganzen Angelegenheit verloren haben.

Inzwischen verrottete das Shaalizaar Inn fröhlich weiter vor sich hin. Doch trotz der abbröckelnden ockergelben Sandsteinfassade, trotz dem desolaten Zustand der anmutig geschwungenen Stuckornamente und aufwändig verzierten Wasserspeier, die nicht nur vom Zahn der Zeit benagt wurden, sondern auch unter der tödlichen Kombination von salzhaltiger Meeresluft und Großstadtsmog litten, trotz all der unübersehbaren Zeichen des Verfalls also hatte das Shaalizaar Inn immer noch das gewisse Etwas. Dank der angegammelten Pracht seiner zahllosen Erker, Vorbauten, Türme und Türmchen und seinem von schlanken Säulen flankierten Haupteingang wahrte es seine Würde und hatte immer noch Ausstrahlung – ungefähr wie eine gealterte Diva, die zum allerletzten Mal auf der Bühne stand, auf der sie ihre größten Triumphe gefeiert hatte, und deren grandiose Ausdruckskraft ihr Publikum immer noch so zu fesseln vermochte, dass es ihr verwelktes Pfirsichgesicht vergaß und ihr frenetischen Beifall spendete.

Nein, Jessamy wollte weder aus dem Shaalizaar Inn noch aus Delamere weg. Und dann war da natürlich noch ihr ganzer Freundeskreis. Ganz zu schweigen von Zev …

"Ich finde bestimmt schnell jemand anderen. Ich werde einfach in der Imperial News inserieren", entschied Jessamy.

"Und ich hänge bei uns einen Zettel ans Schwarze Brett. Vielleicht finde ich ja eine Ersatzfrau für dich. Und wenn nicht … Na ja, so eilig ist die Sache nun auch wieder nicht. Meinen Anteil für nächsten Monat zahle ich dir natürlich noch", erklärte Kaye, wie immer die Großzügigkeit in Person.

"Das kommt gar nicht in Frage! Du ziehst ja schon in ein paar Tagen aus, da musst du doch keine neue Miete mehr zahlen. Außerdem brauchst du dein Geld selber", erwiderte Jessamy.

"Ach was! Die paar Credits", sagte Kaye mit einer lässig–wegwerfenden Handbewegung, als hätte sie ein Vierteldutzend steinreiche alte Erbtanten in ihrem Familienstammbaum und niemals Geldsorgen. "Wenn meine Unterschrift auf dem Mietvertrag stehen würde, müsste ich ja auch noch für den ganzen nächsten Monat zahlen, weil ich einfach Knall auf Fall ausziehe und die Kündigungsfrist nicht einhalte. Du brauchst dich deswegen also gar nicht so aufzuspulen, Sam. Betrachte es einfach als Abschiedsgeschenk, okay?"

"Aber

"Ich will nichts mehr davon hören, Sam!" Kaye wurde energisch, was erfahrungsgemäß jede weitere Diskussion sinnlos machte.

"Also wenn du darauf bestehst", sagte Jessamy achselzuckend.

"Und ob ich darauf bestehe!" schnappte Kaye.

Schweigen breitete sich aus, während alle ihren Gedanken nachhingen – alle einschließlich dem Kater, der unter Jessamys streichelnder Hand wie ein Miniaturtiger schnurrte, aber wachsam blieb, als spürte er, dass eine Veränderung in der Luft lag.

"Wir waren ein gutes Team, nachdem wir uns erstmal zusammengerauft hatten, was?" sagte Kaye nach einer Weile leise.

"Ja, das waren wir", murmelte Jessamy und hatte plötzlich ein ganz enges Gefühl in der Kehle.

Sie würde Kaye wirklich vermissen. Nach einer nicht ganz unproblematischen Startphase, in der sie die Fronten geklärt und ihre gegenseitigen Grenzen abgesteckt hatten, hatten sie schnell herausgefunden, dass sie sich hervorragend ergänzten, obwohl oder vielleicht gerade weil sie in mancher Beziehung grundverschieden waren. Sie waren Freundinnen geworden. Und jetzt ging Kaye weg ... Vielleicht für immer …

"Na ja, so weit weg ist Soraya nun auch wieder nicht", sagte Kaye und unternahm einen tapferen Versuch zu lächeln. "Wir werden uns oft anrufen und ab und zu werden wir uns auch sehen. Ich besuche dich bei Gelegenheit. Oder du besuchst mich bei Gelegenheit, meine ich. Wir kriegen das schon irgendwie hin. "

Jessamy nickte nur. Keine von ihnen wagte auszusprechen, was jede von ihnen dachte – dass es nämlich ziemlich kompliziert werden würde, ihre jeweiligen Urlaube so miteinander zu koordinieren, dass sie ein Treffen verabreden konnten. Und verabreden mussten sie sich, denn schließlich war es keineswegs gesagt, dass Jessamy zufällig ausgerechnet dann zu Hause war, wenn Kaye ihren Urlaub genehmigt bekam und nach Devon fliegen konnte. Und es gab ebenso wenig eine Garantie dafür, dass Kaye sich gerade dann irgendwo in der Nähe ihres neuen Wirkungskreises aufhielt, wenn es Jessamy gelang, einen Abstecher nach Soraya zu organisieren … Soraya, das in der Tat ziemlich weit weg war ... jedenfalls von Devon aus gesehen

"Musst du jetzt ins Bad?" fragte Kaye unvermittelt.

"Nein, warum?"

"Weil ich schnell noch duschen will, bevor ich mich schick mache und gehe. Steevan und Catriina haben mich zum Essen eingeladen. Na, das ist doch die Gelegenheit, ihnen gleich auf Wiedersehen zu sagen, nicht wahr? Für eine große Abschiedsparty bleibt mir jedenfalls keine Zeit mehr", sagte Kaye ein wenig bitter und stand auf.

"Kopf hoch, Kaye, und immer lächeln ... Weißt du, so eine Versetzung ist nicht das Ende der Welt. Sie hat auch ihre guten Seiten. Eine neue Umgebung, neue Gesichter, neue Aufgaben, neue Erfahrungen, die zur Entwicklung deiner Persönlichkeit beitragen ... Sieh es einfach positiv! " sagte Jessamy, die selbst gerade erfolglos versuchte, es positiv zu sehen.

Kaye, schon auf dem Weg zur Tür, drehte sich noch einmal um und verzog das Gesicht. "Wie heißt es doch so schön? Ich bin kein Pessimist .

„…aber ein Realist", vollendete Jessamy. Sie mussten beide lachen.

Das Echo ihres gemeinsamen Lachens schien immer noch in den schattigen Nischen und Winkeln des großen Wohnzimmers zu vibrieren, als der Abend schon längst seine samtschwarzen Schwingen über das Shaalizaar Inn und ganz Delamere ausgebreitet hatte.

Kaye hatte sich auf den Weg zu ihren Freunden gemacht, nachdem sie ihre mit rituellem Ernst durchgeführten abendlichen Waschungen hinter sich gebracht und dabei das Bad wie üblich in ein brütendes, vor Feuchtigkeit triefendes Treibhaus verwandelt hatte – ein Zustand, an den Jessamy sich inzwischen so sehr gewöhnt hatte, dass sie sich schon gar nicht mehr darüber aufregte.

Sie ignorierte die kleinen Pfützen auf dem Boden rings um die Badewanne einfach, ebenso die ungefähr fünf Milliarden Wassertropfen auf den rosafarbenen Kacheln. Ein paar Kalkflecken mehr oder weniger fielen schließlich auch nicht mehr ins Gewicht, wenn das ganze Badezimmer sowieso schon wie eine hauseigene Tropfsteinhöhle mit eingebauter Sonnenuntergangsstimmung aussah, hatte Jessamy sich oft genug gesagt.

Aber das hört jetzt wohl auch bald auf, dachte sie mit einem kleinen Seufzer. Und dieser Gedanke brachte sie darauf, dass sie noch etwas zu tun hatte.

Mit dem Kater auf dem Arm ging sie in die Diele hinaus, während der praktische Teil ihres

Verstandes die Dinge auflistete, die noch zu erledigen waren. Übermorgen musste sie zurück auf die Warbride, auf der sie stationiert war. Mit etwas Glück würde sie in vierzehn Tagen wieder nach Hause kommen – falls Captain Dakall inzwischen nicht schon wieder am Dienstplan herumgepfuscht und alles durcheinandergewirbelt hatte, was er aus Gründen, die der Crew der Warbride ein Rätsel waren, immer wieder gerne tat.

Aber Kaye zog schon nächste Woche aus, was bedeutete, dass sie ihre Codekarte für das elektronische Türschloss entweder Mr. Furgan, dem Hausmeister, oder Mrs. Lagardia, der alten Dame, die direkt neben ihnen wohnte, geben musste, damit in der Zwischenzeit einer von beiden in die Wohnung gehen und die Topfpflanzen gießen und den Kater vor dem Hungertod bewahren konnte.

Vielleicht besser Mr. Furgan ... dann können sich die Bewerberinnen bei ihm melden und sich gleich die Wohnung zeigen lassen ... und er kann sie schon vorab ein bisschen aussieben, sozusagen die Spreu vom Weizen trennen, überlegte Jessamy.

Denn eigentlich überkam sie schon beim bloßen Gedanken an die Scharen von wildfremden Frauen, die sie bald zwecks Schlossbesichtigung und gegenseitigem Beschnuppern auf dem Hals haben würde, das große Grauen, zumal sie sich möglichst schnell, am besten sofort, für eine von ihnen entscheiden musste.

Außerdem würde Mr. Furgan, der eine Respektsperson und auf dieselbe verwitterte Art und Weise ehrfurchtgebietend war wie das Shaalizaar Inn selbst, zweifellos entzückt sein, wenn Jessamy ihn mit dieser Aufgabe betraute. Er war von sich und der Wichtigkeit seiner Position sehr eingenommen, schätzte es aber trotzdem, wenn die Mieter ihn in seinem unangefochtenen Selbstvertrauen noch bestätigten. Aber bevor sie Mr. Furgan um seine tatkräftige Mithilfe bitten konnte, musste Jessamy erst einmal dafür sorgen, dass überhaupt Interessentinnen zur Verfügung standen.

Die Kom–Einheit stand auf einem niedrigen Glastisch in der hellsten Ecke des Flurs. Jessamy setzte den Kater auf dem schachbrettartig gemusterten Parkettboden ab und ließ sich mit gekreuzten Beinen auf dem Sitzkissen vor dem Tischchen nieder. Sie aktivierte den Dev–Net–Modus, suchte sich die Webadresse der Imperial News heraus und stellte die Onlineverbindung her.

Als die Homepage der Zeitung auf dem Bildschirm aufflimmerte, klinkte Jessamy sich in die Annoncenschaltung für die Rubrik Immobilien /Mietwohnungen ein und zog die Tastatur an sich heran. Sie dachte einen Augenblick lang nach und tippte dann energisch ein paar Zeilen in das angezeigte leere Fenster ein: Suche ab sofort Mitbewohnerin für App., 74. Str. West-Del., 3 ZI/KÜ/BA, Miete 300,- IC + Nebenkosten, Korn-Nr. 03212 / 555-6784.

Jessamy überflog ihre Annonce noch einmal und nickte zufrieden. Kurz und bündig, das war okay. Alles andere konnte man bei einem persönlichen Gespräch erörtern.

Sie speicherte das Inserat ab, woraufhin sofort ein provokativ blinkendes Textfeld auf dem Bildschirm erschien, das sie über den Preis der Anzeige und die Abwicklung der Zahlungsmodalitäten in Kenntnis setzte.

Ein Hoch dem Computerzeitalter, dachte Jessamy lächelnd und gab ihre Bankverbindung an, damit der fällige Betrag abgebucht werden konnte. Als das geschehen war, deaktivierte sie die Kom—Einheit, stand auf und streckte sich wie eine Katze.

Das war's, dachte sie. Jetzt musste sie nur noch Mr. Furgan Bescheid sagen, dessen Kom– Nummer sie schließlich in die Anzeige gesetzt hatte. Und dann …

"Tja, und dann müssen wir einfach abwarten, was auf uns zukommt, nicht wahr, Tiger?" sagte Jessamy zu dem Kater, der direkt vor ihren Füßen saß, den langen rotgoldenen Schwanz um seine dicken samtigen Vorderpfoten gerollt und so regungslos, als wäre er seine eigene Statue.

Er schien jetzt schon zu warten und der Dinge zu harren, die da kommen sollten ...


Fortsetzung folgt …