V.


DEVON:

Die Nivess glitt anmutig wie ein Schwan durch das tiefe leuchtende Blau, ihr geschwungener weißer Kiel schnitt durch die Wellenkämme und ließ im Sonnenlicht wie Diamanten funkelnde Tropfenschauer nach allen Seiten sprühen. Jessamys Augen glitten von diesem juwelenartigen Schimmern und Flimmern hinauf zu den geblähten Segeln, die aussahen, als hätte man schneeige Wattebauschwolken an den Mast geknüpft, und dann in die Ferne, wo die grenzenlose Weite des Meeres mit einem unendlichen Himmel verschmolz. Sie war glücklich. Nirgendwo sonst fühlte sie sich je so erfüllt, so ganz und gar mit sich selbst im Reinen wie auf ihrem Boot, wie hier und jetzt. Es war ein vollkommener Augenblick an einem vollkommenen Tag. Es war Poesie pur …

Der Anblick von Zev, der mit langbeiniger Zielstrebigkeit vom Kajütdach zum Vordeck herüberturnte, um sich über seinen dort verstauten Rucksack zu beugen und darin herumzukramen, setzte Jessamys lyrischer Stimmung die Krone auf. Sie fuhr zart mit dem Daumen über das glatte plastahlfiberverstärkte Holz der Ruderpinne in ihrer Hand und deklamierte voller Pathos: „Lasst mir mein Schiff, mein stolzes Schiff, und den gleißenden Stern in der Höh … Ich verlange vom Leben nur wallende Segel und das glitzernde Wogen der heiteren See …"

„Das ist wunderschön", sagte Sondra, die neben ihr auf einer der Cockpitsitzbänke saß, leise. „Von wem ist das?"

„Pol Edramarek … Palast der Winde."

„Ist das ein Roman?"

„Nein, ein Gedichtband."

„Den hast du aber nicht unter deinen Büchern daheim, oder?" fragte Sondra zweifelnd.

Jessamy warf ihr unter dem Rand ihrer Schirmmütze einen schnellen prüfenden Blick zu.

Sieh mal einer an, dachte sie. Was bei mir so alles an Lesestoff herumliegt, hat sie aber ganz genau unter die Lupe genommen ...

„Noch nicht, obwohl ich mir diesen Chip eigentlich schon ewig kaufen wollte. Bin aber irgendwie nie dazu gekommen. Liegt wahrscheinlich daran, dass ich immer eine gedruckte Ausgabe mit mir herumschleppe, die Zev mir geliehen hat. Der Arme … ich muss ihm das Buch endlich mal zurückgeben."

Sondra war sichtlich beeindruckt. „Ihr beiden lest wirklich Gedichte und solche Sachen?"

„Wenn sie von Edramarek sind, ja …"

Sondra blinzelte in das grelle Sonnenlicht hinein, dann beschattete sie ihre Augen mit der Hand und sah zu Zev hinüber, der immer noch in den bauchigen Tiefen seines Rucksacks herumstöberte.

Jetzt zerrte er mit einem triumphierenden „Ha!" ein zerknautschtes buntes Kopftuch heraus. Er wedelte es ein oder zweimal lässig hin und her, um die schlimmsten Knitterfalten und ein paar Sandkörner herauszuschütteln, und knüpfte es sich dann mit einem verwegenen Doppelknoten um die Stirn, so dass nur noch ein dekorativer langer Zipfel auf seinen Rücken herunterhing.

Jessamy musste zugeben, dass er mit dieser Kopfbedeckung, seinen verblichenen khakifarbenen Shorts und den ausgelatschten Sandalen an seinen nackten Füßen nicht gerade wie der typische Intellektuelle aussah, der sich in einsamen Mußestunden gerne hoch- und schöngeistige Lektüre reinzog. Das galt übrigens auch für sie selbst. Die Tiamatfrucht, die sie vorhin gegessen hatte, war zwar köstlich gewesen, hatte aber Spuren auf ihrer ärmellosen Bluse hinterlassen. Auch ihre abgewetzte, unter den Knien ausgefranste Hose war meilenweit vom Stadium frischgewaschener und -gebügelter Makellosigkeit entfernt. (Wäre sie in einer Uniform in ähnlich desolatem Zustand auf der Brücke der Warbride erschienen, hätte Captain Dakall sie wahrscheinlich sofort verhaften und für die nächsten hundert Jahre in eine Arrestzelle stecken lassen – wenn er nicht schon vorher vor Entsetzen über dieses unvorstellbar schreckliche Sakrileg mit einem Herzinfarkt zusammengebrochen wäre!) Aber wer achtete schon an einem Tag wie heute auf Äußerlichkeiten?

Jessamy äugte zu Zev hinüber, dessen Äußerlichkeiten es durchaus wert waren, beachtet zu werden, Kopftuch hin, Weltenbummlerlook her. Als er ihren Blick auffing, schenkte sie ihm ein schmelzendes Lächeln, eine stumme, aber vielsagende Botschaft, die von Zev offenbar richtig interpretiert wurde, denn auf seinem Gesicht erschien sofort ein unwiderstehlich freches Grinsen. Er flirtete schon den ganzen Morgen schamlos mit ihr herum, es war schrecklich und wunderbar. Jessamy wirbelte der Kopf, wenn er sie nur ansah. Und wenn er auch noch dieses kesse Was-kostet-die-Welt-ich-kaufe-sie-Grinsen aufsetzte …

Zev wandte sich wieder seinem Rucksack zu und wühlte darin, bis er einen faustgroßen silbrig glänzenden Gegenstand zu Tage förderte, den er ausgiebig untersuchte. Jessamy nahm an, dass es sich dabei um seine heißgeliebte VidCam handelte, die er grundsätzlich immer mit sich herumschleppte.

Ihre Vermutung bestätigte sich, als Zev sich auf den schmalen Laufgang zwischen Kajütdach und Reling hinunterschwang und auf sie zu geschlendert kam. Die Linse des bereits geöffneten Objektivs blitzte in der Sonne auf wie eine Notsignal-Funkbake und verriet Sinn und Zweck des jetzt an einem Halteriemen um Zevs Handgelenk baumelnden Gerätes schon lange bevor er nahe genug heran war, um eine eindeutige Identifizierung der Kamera zu erlauben.

Sondra, die bis jetzt regungslos auf ihrer Sitzbank verharrt hatte wie ein vor sich hin dösender Salzwasser-Kaimaniak in einer Lagune, stand so abrupt auf, dass Jessamy unwillkürlich zusammenzuckte.

"Was ist denn?"

„Nichts. Ich muss nur mal kurz nach unten."

Noch bevor die letzte Silbe verklungen war, war Sondra auch schon in dem Niedergang verschwunden, der in die Kajüte hinunterführte.

Jessamy blieb keine Zeit, sich über diesen schnellen Abgang zu wundern, denn schon stand Zev mit gezückter Kamera vor ihr und rief mit dramatisch rollenden Augen und in einem stark nasalen Akzent affektiert: „Abär, abär ... Isch biiitte disch, meine Liebä, bringä deinän göttlischen Körpärr in dieses wündervöllige Sommertag-auf-Meer-Kreeeasiong endlisch in Positür, damit isch anfangän kann, wündervöllige Bildär von dir zu machän!"

Er markierte offensichtlich einen bekannten neimodianischen Mode-Holografen. Jessamy ging sofort auf das Spiel ein und verwandelte sich in ein arrogantes Supermodel, das in eine sündhaft teure Designerkluft gehüllt für irgendeinen Hochglanz-3D-Katalog posierte. Sie produzierte sich mit hochmütig gerümpfter Nase in gezierten Drehungen und Wendungen, während Zev, der in seiner Rolle völlig aufging, die absurdesten Anweisungen auf sie abfeuerte, wobei sein nachgeahmter neimodianischer Dialekt einen zunehmend schlechten Einfluss auf seine Grammatik ausübte.

„Denk immär daran, mein' Liebä: Dü bist ein' Verführerin, ein' Sirän' in Modellkleid, ein' sexy Piratbräut, ein' Mänschenfrässerin … ah, nein! … ein' Männerfrässerin … ein … isch weiß nischt was!" rief er, während er ununterbrochen seine Stellung wechselte, mit fanatischem Eifer wild auf sämtlichen Tasten der VidCam herumknipste und den von seinem kreativen Schaffensdrang völlig überwältigten Künstler mimte.

Jessamy spielte dafür die betörende, menschen- oder männerfressende Piratenbraut-Sirene mit so viel professioneller Langeweile, dass Zev händeringende Verzweiflung über die Lustlosigkeit seines kostspieligen Models vorspiegelte.

„Abär … abär … dü müsst dir schon etwas mähr Mühe gebän, meine 'ärzblatt! Mähr Weiblischkeit, mähr Verführung, mähr Schmollmünd, mähr Irgendwas, wenn isch bittän darfl" schrie er und fuchtelte drohend mit der VidCam in der Luft herum.

Jessamy war „'ärzblatt" oder auch Herzblatt genug, ihm den Gefallen zu tun. Sie warf ihre Mütze auf den Boden und den Kopf in den Nacken und wand sich wie eine angriffslustige Seeschlange hin und her, während sie sich mit übertrieben lasziven Gesten durch die Haare fuhr und ihre Vorführung auch noch mit dem ausdrücklich erwünschten „Schmollmünd" abrundete.

So alberten sie unter viel Gekicher weiter herum, bis sie sich so verausgabt hatten, dass sie sich hinsetzen mussten, um sich von ihrem Zwei-Mann-Sketch zu erholen. Als es schließlich so weit war, machte Zev endlich eine echte Aufnahme von Jessamy, die sich wieder ans Ruder der Nivess begeben hatte, und sah sich dann nach einem neuen Opfer für seine VidCam um.

„Wo ist eigentlich Sondra abgeblieben?"

Jessamy warf einen flüchtigen Blick auf den Kompass und korrigierte den Kurs der Nivess mit einem gefühlvollen Druck auf die Ruderpinne um zwei Grad steuerbord. (Die Nivess verfügte zwar über ein vollautomatisches Navigationssystem, aber Jessamy zog die manuelle Steuerung immer vor. Ihrer Meinung nach war das Navigationssystem genau wie der Autopilot etwas für Anfänger und Notfälle – zwei Faktoren, die meistens Hand in Hand gingen.)

„Ich weiß auch nicht, sie wollte nur mal kurz unter Deck gehen", antwortete sie. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass Sondra tatsächlich schon ziemlich lange weg war. „Ich sehe besser mal nach ihr – vielleicht ist ihr ja doch noch schlecht geworden."

Obwohl Jessamy ihr gut zugeredet hatte (lebhaft unterstützt von Zev, dessen farbenfrohe und detailreiche Schilderung sämtlicher unerfreulicher Symptome der Seekrankheit jeden Pharmakonzern dazu veranlasst hätte, ihn vom Fleck weg als Werbetexter anzuheuern!), hatte Sondra am Morgen ihren Kopf durchgesetzt und auf das ihr angebotene Sovirax verzichtet.

Jessamy hatte die Diskussion an irgendeinem Punkt aufgegeben und beschlossen, den Dingen einfach ihren natürlichen Lauf zu lassen – sie beging nie den Fehler, sich sinnlos den Mund fusselig zu reden, wenn sie auf einen granitharten Kern aus mit Unvernunft gepaarter Halsstarrigkeit stieß. Sie hatte sich damit begnügt, Sondra während der heikelsten Phase der Fahrt im Auge zu behalten, aber zu ihrer Erleichterung hatten sie die Nordkap-Passage ohne jeden unerfreulichen Zwischenfall hinter sich gebracht. Offenbar verfügte Sondra genau wie Jessamy selbst über einen angeborenen Seefahrermagen – oder vielleicht doch nicht?

Jessamy kletterte die leiterartig schmalen Stufen in die Kabine hinunter, nur um gleich darauf festzustellen, dass es Sondra offensichtlich glänzend ging. Sie hatte es sich in der Sitzecke direkt neben der Pantry gemütlich gemacht und knabberte dort in aller Ruhe an einem Capuanflügel herum, der nur das Reststück einer größeren Mahlzeit darstellte, denn vor ihr türmte sich neben einem filigranen Brustgerippe und einem zierlichen Schenkelknochen, die ebenfalls von dem Capuan stammten, auch noch ein kleiner Berg aus weißen Tiamatkernen auf, so dass Sondras geleerter Teller wie ein Stilleben aus hypermodernen Elfenbeinschnitzereien aussah.

„Entschuldige, dass ich nicht mit dem Essen auf euch gewartet habe, aber ich hatte plötzlich so einen Hunger", erklärte sie mit vollem Mund.

Jessamy lachte. „Und ich dachte schon, du hängst hier unten herum wie ein Häufchen Elend und opferst den Meergöttern. Na, dann guten Appetit! Aber du hast ganz Recht – ich könnte jetzt selber einen kleinen Happen vertragen. Was ist mit dir, Zev?"

Zev, der ihr inzwischen gefolgt war, schüttelte den Kopf, beobachtete aber voller Faszination, wie sie ihren eigenen Teller voll häufte.

„Willst du wirklich nichts?" fragte Jessamy, als sie sich zu Sondra setzte.

„Später. Jetzt habe ich zu tun." Zev grinste. „Also wirklich, das hier würde ich mir um nichts in der Welt entgehen lassen. Wisst ihr was? Ich werde hier und jetzt einen Dokumentarfilm mit euch machen, okay? Legenden der Fleischeslust ... hm ... nein, zu schwülstig! Vielleicht lieber Im Rausch des Capuans? Ja, das klingt doch schon viel besser! Also: Szene eins, Take eins: Sam und Sondra mitten in einer Fressorgie!"

Er hob die VidCam, strahlend wie ein kleiner Junge, der mit seinem Lieblingsraumjägermodell spielen durfte. Jessamy lachte nur und drohte ihm spielerisch mit dem Finger. Niemand hätte damit rechnen können, was als Nächstes geschah …

Sondra stieß einen halberstickten Schrei aus und sprang so heftig auf, dass sie beinahe ihren Teller von dem fest montierten Klapptisch gefegt hätte.

„Nein! Nicht!"

Sie riss die Arme hoch und verbarg ihr Gesicht hinter ihren Händen, als wäre Zevs Kamera eine Waffe, die jeden Augenblick Tod und Verderben in ihre Richtung speien konnte.

Zev, völlig entgeistert von dieser unerwarteten Reaktion, sah hilfesuchend zu Jessamy hinüber, die so konsterniert war, dass sie selbst nicht wusste, was sie denken oder sagen sollte.

„Ja, aber … Warum denn nicht?" fragte er schließlich.

„Weil … weil ich überhaupt nicht fotogen bin", stammelte Sondra.

Zev verdrehte die Augen, kam aber nicht mehr dazu, einen Kommentar abzugeben, denn jetzt schaltete Jessamy sich ein.

„Unsinn, das stimmt ja gar nicht, was redest du dir da ein?" sagte sie beschwichtigend.

Gleichzeitig fragte sie sich, warum Sondras ganzes Leben von völlig abstrusen Hemmungen bestimmt wurde. Einen realistischen Hintergrund hatten ihre Komplexe jedenfalls nicht. Gut, sie sah vielleicht nicht gerade wie ein Filmstar aus, aber das traf schließlich auf neunundneunzig Prozent aller weiblichen Wesen in der Galaxis zu.

Wenn sie sich ein bisschen peppiger zurechtmachen würde, statt immer in diesen faden mausgrauen Sekretärinnenkostümchen oder diesen komischen Kindergartenklamotten durch die Gegend zu laufen, würde sie eigentlich ganz flott aussehen, dachte Jessamy.

„Und weil ich nicht will, dass irgendjemand irgendwelche Bilder oder Filme oder sonst was von mir macht", fuhr Sondra fort, ohne Jessamys Einwurf auch nur die geringste Beachtung zu schenken. „Ich will es einfach nicht!"

Und dieser letzte Satz klang schon beinahe genau so resolut wie ihre Weigerung, Sovirax-Pillen zu schlucken.

Zev riss der Geduldsfaden – die ganze Situation war einfach lächerlich und diese Sondra war ja hysterisch oder neurotisch oder irgendwas in dieser Art.

„Ach, hab dich doch nicht so! Was soll das Theater?" fauchte er.

„Komm schon, Zev, lass sie in Ruhe", mahnte Jessamy, die einen Streit vermeiden wollte.

„Ist ja gut", sagte Zev verdrossen. Doch dann nahm er sich zusammen und fügte mit einem kleinen Aufblitzen von Humor, das allein Jessamy galt, hinzu: „Dann gehe ich mal lieber wieder nach oben und halte die Augen offen. Einer muss schließlich aufpassen, dass unser Kahn nicht von irgendwas gerammt wird und mit Mann und Maus absäuft, während ihr euch hier unten die Futterluken vollstopft."

Nachdem er so einen ehrenhaften Grund für seinen taktischen Rückzug gefunden hatte, entwischte er nach draußen, wo es zumindest für die nächsten zehn Minuten keine Problemfrau und damit auch keine Probleme geben würde.

„Wenn ich fertig bin, komme ich gleich wieder hoch. Willst du hier essen oder soll ich dir was mitbringen?" rief Jessamy ihm nach.

„Nicht nötig. Wenn es sein muss, kann ich tagelang hungernd und durstend und schlaflos Wache schieben", klang es markig zurück.

„Angeber!" flüsterte Jessamy halb spöttisch, halb zärtlich vor sich hin.

Sie warf einen schrägen Blick zu Sondra hinüber, die sich immer noch hinter ihren Händen versteckte.

„Er ist weg. Du kannst den Schutzschild jetzt langsam wieder runterfahren", sagte sie trocken.

Sondra spähte voller Argwohn durch das Gitter ihrer Finger, sah, dass die Gefahr gebannt war, und ließ mit einem erleichterten Seufzer die Hände in den Schoß sinken.

„Tut mir Leid, dass ich mich so angestellt habe, Sam. Du denkst jetzt bestimmt, dass ich mich einfach unmöglich benehme", sagte sie zögernd.

Das dachte Jessamy wirklich, aber sie hätte sich eher die Zunge abgebissen, als das zuzugeben. Sie trat niemanden, der ohnehin schon am Boden war.

„Ich kann nichts dafür ... ich bin eben so", sagte Sondra kläglich. „Findest du das sehr schlimm?"

"lch finde es schlimm, dass du dich selber so fertigmachst", erwiderte Jessamy ruhig. „Weißt du, es gibt bestimmt genug Leute, die nichts Besseres zu tun haben, als ununterbrochen auf dir herumzuhacken. Du wirst auch immer wieder auf jemanden stoßen, der sich auf deine Kosten etwas beweisen muss oder der dich aus irgendeinem Grund nicht leiden kann oder dem es einfach Spaß macht, dir das Leben schwer zu machen. Und wer es auch ist, er wird sich die größte Mühe geben, dein Selbstbild in tausend Scherben zu zerschlagen, um dich klein zu kriegen, um genau das von dir zu bekommen, was er unbedingt von dir haben will, um dich in eine willenlose Marionette zu verwandeln, die er rund um die Uhr kontrollieren kann. Und das reicht doch schon, oder? Da musst du doch nicht auch noch bei jeder Gelegenheit selber auf dir herumhacken und Scherben produzieren.

Du machst dich nur unglücklich, wenn du dich auf diese Arme-Mauerblümchen-Rolle versteifst, Sondra. Wenn du dich immer nur in Selbstmitleid wälzt oder mit waidwundem Blick wie ein angeschossenes Reh in der Gegend herumstehst, wirst du nur zur Zielscheibe für jeden kleinen Westentaschentyrannen, der auf der Suche nach dem perfekten Fußabtreter ist. Ebenso gut könntest du dir ein Schild um den Hals hängen, auf dem steht: ,Würde bitte endlich jemand kommen und auf mir herumtrampeln?' Du musst versuchen, dich irgendwie aufzubauen, ein bisschen mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln."

„Du hast gut reden", murmelte Sondra. „Dir fällt es leicht, selbstbewusst zu sein. Du bist klug und hübsch und witzig und jeder hat dich gern. Du stehst mit beiden Beinen mitten im Leben und du lebst es so, wie es dir gefällt. Du hast alles, was du willst, und du machst, was du willst – einfach so!" Sie wandte den Blick ab und sagte sehr leise: „Manchmal bin ich ein bisschen neidisch auf dich, Sam."

Es war schwer, darauf eine Antwort zu finden …

Von der Bitterkeit in Sondras Tonfall ebenso betroffen wie von ihren Worten, sagte Jessamy schließlich: „Glaubst du nicht, dass du das ein bisschen zu einseitig siehst? Niemand ist auf Rosen gebettet, niemand tanzt vierundzwanzig Stunden am Tag auf einem Regenbogen herum. Was weißt du schon von meinem Leben, Sondra? Du kennst nur die Schokoladenseite davon."

„Aber du kannst immerhin …" Sondra stockte.

„Was kann ich?"

"Ach nichts. Ist nicht so wichtig …", seufzte Sondra.

„Ich mache es einfach nur genau so wie alle anderen auch. Ich richte mir mein Leben eben so gut ein, wie ich kann, und arrangiere mich irgendwie mit dem Rest. Wer hindert dich daran, genau dasselbe zu tun?"

„Niemand", sagte Sondra, aber es klang nicht ganz überzeugt.

Jessamy fand, dass es an der Zeit war, Tante Sams Kummerkasten für krisengeschüttelte Aschenputtel wieder zu schließen, wenigstens für heute.

Sie schob ihren Teller von sich und sagte leichthin: „Komm, lösen wir Zev da oben ab, bevor er vor Verzweiflung den Rettungsring annagt."

Das brachte Sondra immerhin zum Lächeln und genau das hatte Jessamy auch beabsichtigt.

Wie sich wenige Minuten später herausstellte, war Zev zwar noch weit davon entfernt, das Inventar der Nivess anzunagen, aber doch dankbar für die Gelegenheit, seinen leeren Magen zu füllen, der inzwischen herzzerreißende Geräusche von sich gab.

„Lass dir Zeit, ich brauche dich erst wieder, wenn wir bei der Gall-Bucht sind", rief Jessamy ihm nach.

„Und wann genau ist das?"

„Ach, das dauert schon noch ein halbes Stündchen oder so", sagte Jessamy, nachdem sie ihr Armbandchrono zu Rate gezogen hatte.

„Na, das reicht ja für ein 3-Gänge-Menü plus Verdauungsschläfchen", meinte Zev mit leicht übertriebenem Optimismus und verschwand in der Kajüte.

„Muss man eigentlich immer zu zweit auf so einem Boot sein?" fragte Sondra, die inzwischen wieder ihren Platz auf der Cockpitsitzbank eingenommen hatte.

„Nein, so anspruchsvoll ist die Nivess zum Glück nicht, sonst könnte ich ja nie solo losziehen. Zev macht immer den Vorschoter, wenn wir zu zweit unterwegs sind, das ist so was wie Tradition bei uns, aber im Prinzip komme ich natürlich auch alleine klar", antwortete Jessamy. „Sieh mal, da drüben … Tirna Nook! Von hier aus hat man einen tollen Blick. Wunderschön, diese Kreidefelsen, nicht wahr?"

Sondra reckte gehorsam den Hals und bedachte das malerische Felsmassiv, das die majestätische Steilküste von Tirna Nook krönte, mit gebührender Bewunderung.

Doch sobald das Naturschauspiel ausgiebig genug gewürdigt worden war, sagte sie: „Und was ist mit der Segelei an sich? Ist das sehr schwierig? Ich meine, das sieht schon ziemlich knifflig aus, was du da mit diesen … diesen Seilen und dem ganzen anderen Zeug machst. Ist bestimmt ganz schön kompliziert, was?"

„Ach, alles halb so wild. Wenn du erstmal die Grundkenntnisse intus hast, ist es eigentlich ganz einfach. Der Rest ist Erfahrung."

„Aber richtig lernen muss man das schon, oder?"

„Oh ja. Du musst immer genau wissen, was du zu tun hast, und dein Boot jederzeit im Griff haben, sonst kann das ganz schnell ins Auge gehen."

Jessamy sah zu dem Focksegel hinauf, das wie auf Stichwort plötzlich im Wind knatterte und knallte, als wollte es in Fetzen reißen, und regulierte seine Stellung mit einem geübten Hebeldruck.

„Was hast du da gerade gemacht?" wollte Sondra wissen.

Und Jessamy klärte sie über die Geheimnisse des Segelreffens auf. Aber ihre Ausführungen erweckten nur Sondras scheinbar unermesslichen Wissensdurst zu neuem Leben. Und wie immer, wenn das der Fall war, bombardierte sie Jessamy sofort mit einem Dutzend weiterer Fragen und widmete sich jeder Antwort, die sie bekam, mit der andächtigen Aufmerksamkeit einer Gläubigen, die den Offenbarungen ihres ganz persönlichen Gurus lauschte.

Jessamy – amüsiert über diese Kombination aus Forscherdrang und Hingabe – ließ das weitschweifige Interview, das teilweise mit der Intensität und Detailsucht eines Kreuzverhörs geführt wurde, geduldig über sich ergehen.

Sondra war offenbar plötzlich von dem Wunsch beseelt, die hohe Kunst des Segelsports hier und jetzt mit all ihren Finessen zu erfassen. Sie ließ sich jeden Gegenstand, auf den ihr Auge fiel, und jeden einzelnen Handgriff, den Jessamy tat, haargenau erklären. Das entpuppte sich als reichlich umständliche Angelegenheit, weil Jessamy immer wieder dazu gezwungen war, das technische Kauderwelsch ihres Fachjargons in Begriffe zu übersetzen, die für einen Laien wenigstens halbwegs verständlich waren. Aber Sondra schien damit keine Probleme zu haben – nach ihrem entrückten Gesichtsausdruck zu urteilen, hätte man meinen können, dass es auf der ganzen Welt nichts Faszinierenderes gab als die genaue Funktion von Fallwinschen oder den Unterschied zwischen Toppwanten und Unterwanten.

„Also das scheint dich ja wirklich brennend zu interessieren", sagte Jessamy lächelnd, als sie sah, dass ihr Publikum sogar von einem kurzen Vortrag über die Vor- und Nachteile der Sluptakelung völlig gefesselt war. „Hör mal, hast du vielleicht Lust, segeln zu lernen? Ich könnte es dir hier auf der Nivess beibringen, wenn du willst, das ist gar kein Problem. So eine Art Crashkurs in Sachen Theorie hast du ja jetzt schon hinter dir und den Rest kriegen wir auch noch hin. Was hältst du davon? Du würdest auf jeden Fall einen Haufen Geld sparen. Diese Segelschulen sind nämlich irrsinnig teuer und du …"

„Segeln? Ich?!"

Sondra starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an, als hätte Jessamy sie gerade dazu aufgefordert, mit einem aufgespannten Regenschirm in der Hand vom Dach des Shaalizaar Inns zu springen, um herauszufinden, ob sie fliegen konnte.

„Oh nein … Hilfe! … an so was würde ich ja nicht mal im Traum denken! Ich bin doch hoffnungslos unsportlich und so was von ungeschickt … Und was da alles passieren kann ...

Ich bin nicht so mutig wie du, Sam. Ich würde einfach sterben vor Angst, so ganz allein hier draußen. Nein, nein, das ist nichts für mich, absolut nicht!"

Sie schüttelte so heftig den Kopf, als könnte sie nie wieder damit aufhören.

„Na ja, war ja nur so eine Idee", sagte Jessamy achselzuckend.

Ihrer vorgespiegelten Gleichgültigkeit zum Trotz fühlte sie sich ein wenig ernüchtert von dieser reichlich lauen Reaktion auf ihr großzügiges Angebot, zumal sie im Stillen davon überzeugt war, dass das Segeln genau die Art von lebensbejahender Herausforderung war, die für einen Menschen wie Sondra ein Segen gewesen wäre und auf lange Sicht womöglich wahre Wunder bei diesem wandelnden Komplexbündel bewirkt hätte.

Aber natürlich konnte man niemanden zu seinem Glück zwingen. Sondra war erwachsen – obwohl man das manchmal kaum für möglich hielt! – und sie musste selbst entscheiden, was gut für sie war und was nicht.

Aber ihre impulsive Ablehnung irritierte Jessamy doch irgendwie. Denn eines stand fest: Für jemanden, der nicht einmal im Traum daran dachte, segeln zu lernen, hatte Sondra nicht nur eine bemerkenswerte Hartnäckigkeit, sondern auch verdächtig viel Enthusiasmus bei ihrer Ausfragerei an den Tag gelegt.

Warum zum Henker fragt sie mir praktisch ein Loch in den Bauch, wenn sie in Wirklichkeit überhaupt kein Interesse an der ganzen Sache hat? grübelte Jessamy vor sich hin.

Vielleicht spürte Sondra, dass ihr paradoxes Verhalten einer Erklärung bedurfte, aber da sie diese nicht geben konnte oder nicht geben wollte, versuchte sie es mit einer Art Entschuldigung, indem sie nach einer kleinen Pause schüchtern sagte: „Aber trotzdem danke für deinen Vorschlag, Sam. Das war sehr lieb von dir."

„Schon gut", sagte Jessamy kurz. Einen Augenblick später fügte sie etwas weicher hinzu: „Und wenn du es dir doch noch mal anders überlegst, sag mir ruhig Bescheid. Mein Angebot steht."

„Du bist so nett zu mir!" sagte Sondra voller Wärme.

„Hab ich irgendwas verpasst?" fragte Zev, der gerade wieder zum Vorschein kam.

„Nur die üblichen Mädchengespräche", erwiderte Jessamy.

„Oh nein!" sagte Zev mit einer leisen Panik, die nicht ganz und gar geheuchelt war. „Soll ich wieder runtergehen, bis ihr fertig seid?"

„Das könnte dir so passen, du Faulpelz!" neckte Jessamy. „Rauf mit dir! Es gibt Arbeit."

„Aye, aye, Sir … Ma'am … Sir!"

Zev salutierte zackig und knallte die Hacken zusammen oder versuchte es jedenfalls, denn sein Schuhwerk war definitiv nicht dafür geeignet, den schmissigen Klangeffekt von sehr viel solideren Armeestiefeln nachzuahmen.

Dass auch seine nackten Fersen unter dieser missglückten Demonstration militärischer Forschheit gelitten hatten, wurde gleich darauf offenbart, als er das Gesicht verzog und ein wehleidiges: „Aua, aua!" von sich gab.

Jessamy grinste. „Na, dann humpeln Sie mal schnell auf Ihren Posten, Soldat Fußwund!"

„Zu Befehl, Captain Eisenherz", flachste Zev zurück und machte sich auf den Weg zum Vordeck.

In den nächsten paar Minuten hatten sie alle Hände voll zu tun und weder zum Frotzeln noch zum Flirten Zeit. Sie waren ein so gut aufeinander eingespieltes Team, dass sie ohne großen Aufwand und mit einem Minimum an hin und her gebellten Kommandos ein Bilderbuchwendemanöver durchführten, auf das jede Regattacrew stolz gewesen wäre. Etwa zweihundertfünfzig Meter vor dem nur scheinbar durchbrochenen Ring aus zerklüfteten Klippen, der die Einfahrt der Gall-Bucht säumte, drehte Jessamy die Nivess in den Wind und brachte sie dadurch zum Stehen. Zev holte die Segel ein, während sie den Anker setzte.

„Warum ankern wir hier? Wollen wir denn nicht in die Bucht rein?" fragte Sondra von ihrem Zuschauerposten aus.

„Geht leider nicht. Wir haben bald Ebbe und wenn wir jetzt in die Gall-Bucht reinfahren, sitzen wir bis heute Abend da drinnen fest. Wir könnten uns erst wieder auf den Heimweg machen, wenn die Flut kommt, und dann wären wir erst weit nach Mittemacht zu Hause."

„Wieso? Ist das Wasser da drinnen so flach?"

„In der Bucht selbst nicht, aber in der Einfahrt schon. Du kannst es von hier aus nicht sehen – noch nicht! – , aber da ist ein Riff ziemlich dicht unter der Wasseroberfläche. Jetzt könnten wir mit der Nivess gerade noch durchwitschen, ohne auf Grund zu laufen, aber in einer Dreiviertelstunde kämen wir nicht mal mehr auf einer Luftmatratze heil da rüber."

„Dann können wir ja gar nicht an Land gehen. Und dabei ist da drüben so ein toller Strand. Sieh dir bloß diesen Sand an … ganz fein und weiß … wie Puderzucker … Schaaade!" sagte Sondra gedehnt.

„Macht nichts. Wir können doch auch hier schwimmen", erwiderte Jessamy.

Sondras Augen weiteten sich ein wenig. „Schwimmen? Hier?!"

„Natürlich. Warum nicht?"

„Ach, ich weiß nicht … Ist das nicht ein bisschen gefährlich? Hier draußen gibt es doch bestimmt Barrakaidas oder so was in der Art."

Sondra starrte misstrauisch auf das spiegelglatte Wasser hinunter und schien jeden Augenblick damit zu rechnen, dass sich ein zähnestarrendes Ungeheuer aus den Tiefen des Ozeans herauskatapultierte, um sie anzufallen.

„Ach was, hier doch nicht. Keine Angst, Sondra, es ist so sicher wie in einer Badewanne."

„Stimmt genau. Und um einen Barrakaida zu finden, der dich in den Hintern beißt, Schätzchen, müsstest du schon bis nach Jorsay rauffahren und als lebendes Lunchpaket direkt vor einer Heulerkolonie herumplanschen", sagte Zev laut. Sehr viel leiser fügte er hinzu: „Und selbst wenn – der arme Barrakaida! Das grenzt ja schon an Tierquälerei …"

„ZEV!" zischte Jessamy entrüstet.

Sie äugte besorgt zu Sondra hinüber, die aber glücklicherweise so sehr damit beschäftigt war, sich nach angriffslustigen Meeresbewohnern umzusehen, dass sie den Rest gar nicht mitbekommen hatte. So blieb es also Jessamy selbst überlassen, die Entfaltung von so viel männlicher Boshaftigkeit zu ahnden, was sie auch sofort tat – wenn auch nicht sehr überzeugend –, indem sie ziemlich sanft an ein paar windzerzausten Haarsträhnen des Übeltäters zupfte, die leichtsinnigerweise unter dem Kopftuch hervorlugten. Aber Zev schrie natürlich prompt auf, als wäre er gerade skalpiert worden.

"Oh Gott! Womit hab ich das bloß verdient?" klagte er, mit einer großen theatralischen Geste die Arme ausbreitend und gen Himmel blickend, als wollte er mindestens ein höheres Wesen zum Zeugen für so viel Ungerechtigkeit anrufen.

„Das weißt du ganz genau", murmelte Jessamy und versuchte ein strenges Gesicht zu machen, was ihr aber irgendwie nicht ganz gelingen wollte – sie war viel zu verzaubert von seiner Darbietung, um ernsthaft böse zu sein, was Zev natürlich nicht entging.

Mit einem Verführerblick im Gesicht und einem übermütigen Funkeln in den Augen raunte er ihr zu: „Weißt du was, Sam? Ich bete dich einfach an! Reiß mir die Haare gleich büschelweise aus, leg mich bei Wasser und Brot in Ketten, fessle mich an den Mast und gib mir die neunschwänzige Katze zu schmecken wie die Skipper in der guten alten Zeit – nichts wird daran je etwas ändern. Also mach mit mir, was du willst, und mach es schnell, bevor das Schicksal uns wieder auseinanderreißt. Schlag mich, beiß mich, küss mich hier und jetzt!"

„Alberner Kerl!"

Jessamy musste lachen, aber die Versuchung, wenigstens auf sein letztes Angebot einzugehen, war ziemlich groß. Magisch angezogen von der hypnotischen Leuchtkraft seiner grünen Augen, beugte sie sich ein wenig vor und Zev kam ihr entgegen …

Der Abstand zwischen ihren Lippen war gerade dabei, auf null zusammenzuschrumpfen, als direkt hinter Jessamy ein sehr leises und diskretes Räuspern zu hören war. Sondra hatte es offenbar aufgegeben, nach stromlinienförmigen Schatten, dreieckigen Rückenflossen und ähnlich beklemmenden Lebenszeichen der einheimischen Unterwasserfauna Ausschau zu halten, und Jessamy kam mit leisem Bedauern zu dem Schluss, dass dies nicht der richtige Augenblick für einen Erstkontakt der ganz besonderen Art war …

„Also, was ist? Gehst du jetzt mit mir eine Runde schwimmen oder nicht?" fragte sie betont munter in Sondras Richtung, nachdem sie wieder einen kleinen Sicherheitsabstand zwischen sich und einen ziemlich frustrierten Zev gebracht hatte. (Der seinen Gefühlen natürlich sofort mit Märtyrerblicken und brunnentiefen Seufzern Luft machte!)

„Ach nein, lieber nicht", sagte Sondra zögernd, was in Wirklichkeit ,Auf gar keinen Fall!' bedeutete, wie Jessamy inzwischen nur zu gut wusste. „Ich hab's dir ja vorhin schon gesagt, ich bin eben keine Sportkanone. So besonders gut schwimmen kann ich auch nicht. Und wenn ich genau weiß, dass ich keinen Grund mehr unter den Füßen habe …"

„Keine Sorge, ich pass schon auf dich auf."

Doch Sondras skeptischer Blick verriet, dass sie nicht dazu bereit war, die Probe aufs Exempel zu machen und darauf zu vertrauen, dass Jessamy im Notfall rechtzeitig genug zur Stelle sein würde, um sie buchstäblich vor dem Untergang zu retten.

So viel Zaghaftigkeit brachte Zev hitziges Temperament, das ohnehin schon die ganze Zeit auf Sparflamme vor sich hinbrodelte, zum Überkochen.

„Meine Güte, du bist vielleicht ein Angsthase! Wenn du so weitermachst, werfe ich dich irgendwann einfach rein, mit Kleidern und allem."

Es war schwer zu sagen, ob das ernst gemeint war oder nicht, aber es bestand nicht der leiseste Zweifel daran, dass Sondra es ernst nahm, denn es war diese Drohung, die sie endlich zu einem längst fälligen Geständnis bewegte und sie nach einer Schrecksekunde verlegen stammeln ließ: „Eigentlich ... eigentlich kann ich überhaupt nicht schwimmen."

„Was?! Du wohnst dein ganzes Leben lang direkt an der Küste, keine zwanzig Minuten von kilometerlangen Traumstränden entfernt, und kannst nicht einmal schwimmen? Das hält man ja im Kopf nicht aus!" stöhnte Zev und griff sich unwillkürlich an die Stirn.

Doch Jessamy sah das Problem von einem ganz anderen Standpunkt aus und vielleicht bekam ihre Stimme deshalb sofort einen leicht metallischen Beiklang und wurde damit zu einem ziemlich deutlichen Echo von Lieutenant-Sorkin-auf-dem-Kriegspfad.

„Wenn ich das heute Morgen schon gewusst hätte, hätte ich dir gleich als allererstes eine Schwimmweste verpasst", sagte sie. „Immerhin habe ich die Verantwortung für dich, so lange du auf meinem Boot bist. Stell dir bloß mal vor, du wärst uns unterwegs über Bord gegangen ... Also wirklich, Sondra, das hättest du mir ruhig ein bisschen früher sagen können!"

„Tut mir Leid, Sam", stammelte Sondra und brachte das Kunststück fertig, unter Jessamys vorwurfsvollem Blick kleiner und kleiner zu werden.

Sie war gerade im Begriff, in ein Stadium relativer Unsichtbarkeit zu entschwinden, als irgendjemand schrie: „He, ihr da drüben! Was ist bloß los mit euch? Kein Salutschuss? Nicht mal Jubelgeschrei? Was für ein lahmer Empfang! Wir sind schwer enttäuscht!"

Die angebliche schwere Enttäuschung wurde sofort durch einen mehrstimmigen Chor aus Gelächter widerlegt.

„Überraschung, Überraschung!" rief Zev und feixte, als Jessamy sich verblüfft umdrehte und die beiden anderen Boote entdeckte, deren Ankunft sie im Eifer des Gefechtes gar nicht bemerkt hatte.

Auch Jessamys Miene hellte sich wieder auf, als sie die Neuankömmlinge sah, die jetzt unter großem Hallo längsseits kamen. Wie sich herausstellte, hatte Zev den letzten Abend nicht nur mit Einkaufen verbracht, sondern auch noch so viele Seglerfreunde wie möglich für ein Treffen bei Tirna Nook zusammengetrommelt – natürlich nur mit den besten Absichten und garantiert ohne jeden Hintergedanken, wie er Jessamy bei der erstbesten Gelegenheit allen Ernstes ins Ohr wisperte.

Jessamy quittierte diese ziemlich gewagte Behauptung mit einem verständnisinnigen Grinsen – sie kannte Zev bis in die Fingerspitzen und fiel auf diesen Unschuldsblick nicht mehr herein. Gemäß dem alten Sprichwort, nach dem zwei Leute eine Gesellschaft und drei eine Menschenmenge waren, hatte Zev wohl kurzerhand beschlossen, diese Menschenmenge einfach noch um ein paar angenehme Zeitgenossen zu bereichern. Wenn die erhoffe traute Zweisamkeit mit Jessamy sowieso schon durch Sondras Anwesenheit mehr oder weniger torpediert wurde, konnte man ebenso gut gleich eine richtige Party daraus machen – auf diesen oder ähnlichen Bahnen mussten sich Zevs Gedankengänge irgendwo zwischen der Supermarktkasse und dem nächstbesten Kom bewegt haben. Aber es war eine gelungene Überraschung und schon deshalb war Jessamy gerne bereit, soviel schlitzohrige Scheinheiligkeit mit Nachsicht zu betrachten …

Eine richtige Party wurde es dann auch, wofür vor allem Zevs quirlige Schwestern verantwortlich waren, die zu guter Letzt auch noch mit ihrer Catai eintrudelten und einen ganzen Schwarm von aufgekratzten Teenagern anschleppten.

In dem allgemeinen Trubel, der nun einsetzte, verlor Jessamy Sondra ein wenig aus den Augen, obwohl sie irgendwie und irgendwann zwischen dem ständigen Hin- und Herklettern von Boot zu Boot, den wilden Wasserballschlachten, dem einen oder anderen gemütlichen Plausch bei einem Glas Eistee, den üblichen Witzeleien und den immer wieder spontan ausbrechenden Frisbee-Turnieren den Eindruck gewann, dass der Begriff „Stimmungskanone" genauso wenig auf Sondra anzuwenden war wie der Begriff „Sportkanone". (Sie beteiligte sich an keinem einzigen Spiel und war nach allem, was Jessamy am Rande mitbekam, außergewöhnlich erfolgreich darin, jedem aus dem Weg zu gehen, der versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Und es war schon eine bemerkenswerte Leistung, einen so hartnäckigen Schürzenjäger wie Wes Adonay loszuwerden – wenn er es sich in den Kopf gesetzt hatte, eine Frau zu becircen, war er nämlich so dickfellig wie ein Banthabulle und so klebrig wie ein Honigbonbon.)

Aber Tatsache war, dass Jessamy während dem Sonnenbad, das sie sich nach einem anstrengenden Wettschwimmen mit Lelja und Godis Gilfoy auf der Catai gönnte, einschlief und deshalb den genauen Ablauf der Dinge verpasste.

Als sie die Augen öffnete, fand sie lediglich Zev neben sich, der seine langen Beine in einem verzwickt aussehenden und bestimmt nicht völlig schmerzfreien Lotossitz verknotet hatte, aber trotzdem eine stille Selbstzufriedenheit ausstrahlte, die Jessamy unwillkürlich an ihren Kater erinnerte, wenn es ihm gelungen war, in einem unbeobachteten Augenblick auf den Frühstückstisch zu springen und ein oder zwei verbotene Schinkenscheiben zu erbeuten.

„Hab sie doch noch erwischt", verkündete Zev prompt, als er sah, dass Jessamy langsam wieder zum Leben erwachte.

Jessamy reckte und streckte sich und versuchte vergeblich, die Sommernachmittags-Schlaftrunkenheit abzuschütteln, die sie immer noch fest im Griff hatte.

„Wen hast du erwischt?" fragte sie zwischen zwei Gähnattacken träge.

„Sondra. Hab mich einfach von hinten an sie herangeschlichen und geschrien: ,Keine Bewegung!' Sie dreht sich natürlich prompt zu mir um – und zack! Schon war das holde Antlitz der scheuen Maid verewigt!"

Zev kicherte vor sich hin; sogar seine Sommersprossen schienen vor Übermut zu blinken.

Jessamy sann über diese Lausejungen-Mentalität nach, die neben heftigen Testosteronschüben alle männlichen Wesen der Galaxis bis an ihr Lebensende beherrschte, ganz egal, ob sie auf zwei oder vier Beinen unterwegs waren. Nun ja, vielleicht nicht alle männlichen Wesen der Galaxis, aber immerhin.

„Musste das unbedingt sein?" fragte sie schließlich.

„Ja!" sagte Zev schlicht, aber mit einem entwaffnenden Grinsen, das von einem Ohr bis zum anderen reichte.

„Du bist einfach unmöglich! Hat sie sich sehr aufgeregt?"

„Keine Ahnung. Sie hat keinen Mucks von sich gegeben. Hat einfach nur da gehockt und ein langes Gesicht gemacht – genau wie jetzt", fügte Zev hinzu und spähte über Jessamy hinweg in Richtung Nivess.

Jessamy drehte sich auf den Bauch und sah ebenfalls zu der Nivess hinüber, wo Sondra – natürlich alleine – auf dem Kajütdach kauerte und vor sich hinstarrte. Von einem langen Gesicht konnte nicht die Rede sein, eher von einem völlig ausdruckslosen.

„Also wirklich, Zev!"

„Was ist? Sie wird es überleben. Außerdem wird es ihr eine Lehre sein – in Zukunft wird sie vielleicht nicht mehr wegen jeder Kleinigkeit herumzicken.

Ach, jetzt sieh mich doch nicht gleich so an, Sam. Ich habe sie ja nicht mal ins Wasser geschubst – und die Versuchung war groß, das kann ich dir sagen. Warte mal ... weißt du eigentlich, dass du richtig niedlich aussiehst, wenn du diesen finsteren Blick draufhast? Die Kerle auf der Warbride sind zu beneiden. Du musst einfach unwiderstehlich sein, wenn du wirklich wütend wirst … He! Okay, das mit dem Niedlichsein nehme ich zurück. Hörst du? Sam! Ich nehme es zurück. Ich ... SAM!"

Was auch immer er noch an Protestgeschrei hervorzubringen hatte, ging in den anfeuernden Zurufen von Lelja und Godis und verschiedenen anderen Zuschauern unter, als er in ein Gerangel verwickelt wurde, aus dem Jessamy dank einem regelmäßig absolvierten Kampfsporttraining als überlegene Siegerin hervorging, ohne auch nur schneller zu atmen.

„Und? Sind die Kerle auf der Warbride immer noch zu beneiden?" fragte sie zuckersüß, als sie rittlings auf ihrem keuchenden und auch sonst ziemlich überwältigten Opfer saß.

„Mehr denn je", japste Zev und lachte oder versuchte es wenigstens.

Jessamy verharrte noch eine Weile in ihrer überaus befriedigenden Position und studierte seine mit Sommersprossen gesprenkelte Nase, die aus dieser Perspektive wie eine exotische Sternenkarte aussah. Dann befreite sie Zev aus ihrem Hebelgriff und von ihrem Gewicht und stand auf. Sie reichte ihm großmütig die Hand, um ihm beim Aufstehen zu helfen, und Zev war seinerseits großmütig genug, ihre Hilfe mit einem Grinsen anzunehmen. Aber seine jüngeren Schwestern, die im Hintergrund immer noch kicherten, bekamen trotzdem einen scharfen Blick ab.

„Wie spät ist es eigentlich?" fragte Jessamy, was als rein rhetorische Frage gemeint war – sie hatte selbst ein Chrono – , aber Zev antwortete, bevor sie danach sehen konnte. „Was, schon? Wie schnell die Zeit vergeht … Wir sollten uns bald auf den Heimweg machen, Zev. Heute ist Neumond und ich will nicht unbedingt am Nordkap vorbeigondeln, wenn es stockfinster ist."

Das leuchtete Zev ein – nicht zuletzt deshalb, weil es ihm einen hervorragenden Vorwand bot, sofort seinen Rang als stellvertretendes Familienoberhaupt herauszukehren.

„Habt ihr das gehört, ihr Krabben? Ihr macht euch am besten auch gleich auf die Socken ... und vergesst ja nicht, vorher die ganze Rasselbande wieder einzusammeln", mahnte er.

Lelja schleuderte mit einem Ruck ihren fast hüftlangen kupferfarbenen Zopf über ihre Schulter und fragte angriffslustig: „Was heißt hier die ganze Rasselbande?"

„Das heißt, dass Sam und ich keine Lust haben, schon wieder ein paar vergessene Mitglieder von eurem wandernden Flohzirkus nach Hause zu kutschieren, Süße. Wir sind nicht eure Kindermädchen …"

„Ach ja? Warum benehmt ihr euch dann so?" sagte Godis frech und streckte ihm die Zunge raus. (Genau wie Lelja war sie Zev so ähnlich, dass sie wie eine ins Weibliche verkehrte Miniaturausgabe von ihm aussah und diese Ähnlichkeit beschränkte sich keineswegs nur auf ihr Äußeres. Es war kein Wunder, dass die drei sich so oft in die Haare bekamen – was natürlich vor allem dann der Fall war, wenn Zev versuchte, auf seinen Status als Respektsperson zu pochen.)

„Eins zu null für den Flohzirkus, Zev", sagte Jessamy, die sich köstlich amüsierte.

Zev verdrehte die Augen und stieß einen tiefen nachsichtigen Seufzer aus, um allen Anwesenden klarzumachen, dass er auch diese Niederlage mit einer Mischung aus Würde und Humor einstecken würde.

Godis legte ihre Hände vor den Mund wie ein Sprachrohr und schrie mit sich überschlagender Sopranstimme einer lärmenden Gruppe junger Leute im Wasser zu, dass sie gefälligst zurückkommen sollten und das innerhalb der nächsten zehn Minuten, falls sie nicht den Wunsch verspürten, mutterseelenallein auf Tirna Nook ausgesetzt zu werden.

Sie freute sich diebisch, als ihre besten und zweitbesten Freundinnen sofort unter großem Gekreische aus dem Wasser flüchteten und hastig an Bord kletterten. Die besten und zweitbesten Freunde folgten etwas langsamer, aber doch noch hastig genug. Es dauerte keine zehn Minuten, bis alle genau dort waren, wo sie sein sollten, lachend und schwatzend und mit ohrenbetäubender Begeisterung einen Ohrwurm singend, den irgendein Radiosender im Hintergrund vordudelte. Der Geräuschpegel war unglaublich. Das Gedränge aus viel zu vielen sonnengebräunten Gesichtern, Armen und Beinen zwischen klammen Badehandtüchern und diversen Kleidungsstücken auch …

„Worauf wartest du noch, Bruderherz? Runter von unserem Boot – oder fährst du etwa mit uns zurück?" überschrie Godis den allgemeinen Tumult.

„Lieber würde ich mich mutterseelenallein auf Tirna Nook aussetzen lassen, Schwesterherz", erwiderte Zev liebenswürdig und schwang sich über die Reling, gefolgt von Jessamy.

„Was meinst du, waren wir auch mal so jung?" fragte er kopfschüttelnd, als sie wieder auf der Nivess waren.

„Noch viel jünger", sagte Jessamy weise.

Als sie sich von ihren eigenen Freunden verabschiedeten, die noch bleiben wollten, glitt die Catai schon davon, und bis sie die Nivess startklar gemacht hatten, war das Boot der Gilfoys nur noch ein weißer Fleck am Horizont.

„Ich staune immer wieder darüber, wie schnell die Catai ist. Sie werden lange vor uns zu Hause sein", sagte Jessamy, als die Nivess Fahrt aufnahm und sie Tirna Nook hinter sich ließen.

„Na, hoffentlich. Und daheim werde ich mal ein Wörtchen mit ihnen reden müssen. Diese Kinder sind wirklich verrückt – wie können sie nur so viele Leute in dieser Nussschale zusammenpferchen?"

„Vielleicht hätten wir doch ein paar von ihnen auf der Nivess mitnehmen sollen."

„Auf keinen Fall! Wenn sie es unbedingt so gemütlich haben wollen wie die Ölsardinen in der Büchse, na, von mir aus. Außerdem ..." Zevs Stimme sank zu einem verschwörerischen Flüstern herab, „… außerdem hätte ich dann ja überhaupt keine Chance mehr bekommen, dich wenigstens ein paar Minuten lang für mich alleine zu haben."

Jessamy lachte. „Und das sagst ausgerechnet du! Wer hat denn ungefähr tausend Leute eingeladen?"

„Na ja, irgendwie musste ich ja die Zeit totschlagen, aber jetzt …" Aus dem Verschwörerflüstern wurde ein seidiges Raunen, das eine gewisse Ähnlichkeit mit einem zufriedenen Katerschnurren aufwies, „... jetzt sind wir ganz unter uns."

„Nicht ganz", erinnerte Jessamy und sah zu Sondra hinüber, die immer noch auf dem Kajütdach saß, regungslos und ohne einen Laut von sich zu geben und das schon seit einer ganzen Weile. Ob sie auch eingeschlafen war?

„So gut wie", entschied Zev, als er Jessamys Blickrichtung bis zum erklärten Störfaktor jedes romantischen Intermezzos verfolgt hatte. „Man sollte günstige Gelegenheiten immer nützen. Also … was hältst du davon, die Nivess für ein Viertelstündchen oder so dem Autopiloten zu überlassen, während wir zwei nach unten gehen und uns mal in aller Ruhe unterhalten?"

Jessamy konnte es nicht lassen, ihn ein wenig aufzuziehen, obwohl der berühmte Schmetterlingsschwarm gerade wieder in Aktion getreten war.

„Und worüber wollen wir uns unterhalten?" fragte sie mit großem unschuldsvollen Augenaufschlag.

„Über seeehr viele, seeehr wichtige Dinge."

„Na, dann habe ich ja wohl keine andere Wahl."

„Du sagst es!"

So viel Einigkeit, gepaart mit einer doppelten magnetischen Anziehungskraft, konnte natürlich nur in einem Kuss enden und endete auch tatsächlich darin, sobald sie unter Deck waren. Und dem ersten Kuss folgte ein zweiter … und dann ein dritter … Und dann hörte das Universum auf, um seine unsichtbare Achse zu rotieren, und die Zeit stand still ... Für ein Viertelstündchen ... Oder auch ein bisschen länger ...

... Bis ein leiser Aufschrei und ein ziemlich lautes Platschen zu hören war!

Jessamy löste sich leicht benommen aus einem Augenblick der Ewigkeit und der gegenseitigen Umklammerung. „Was war das?"

„Sogar wenn du jetzt gefragt hättest ,Wer war das?' wäre es immer noch eine vollkommen überflüssige Frage", murrte Zev leise und versuchte sie wieder an sich zu ziehen.

Doch Jessamy trat einen Schritt zurück, legte den Kopf zur Seite und lauschte aufmerksam nach draußen, wo es jetzt verdächtig still war.

„Alles in Ordnung, Sondra?" rief sie beunruhigt.

Aber es kam keine Antwort …

„Vielleicht hat sie ja doch noch Lust auf ein kleines Bad bekommen und ist einfach über Bord gesprungen", sagte Zev hoffnungsvoll.

„Das ist nicht komisch!"

„Ach, reg dich doch nicht gleich wieder auf. Der passiert schon nichts. Sie hat doch jetzt eine Schwimmweste an. Und überhaupt …"

Aber Jessamy war schon auf dem Weg nach draußen.

Obwohl die Sonne inzwischen schon ziemlich tief stand, war es immer noch so hell, dass sie eine Sekunde lang geblendet war, bis sich ihre von dem Schummerlicht in der Kajüte geweiteten Pupillen wieder verengt hatten. Erst dann sah sie Sondra, die wie eine falsch platzierte Galionsfigur auf dem Vordeck stand und am Bugspriet vorbei ins Meer hinunter starrte, als hätte sie dort mindestens einen versunkenen Kontinent entdeckt.

Halb verärgert, halb erleichtert rief Jessamy: „Sondra! Wir haben schon gedacht, dir wäre irgendwas passiert. Warum um Himmels willen schreist du erst hier herum und gibst dann keinen Mucks mehr von dir, wenn man nach dir ruft?"

Sondra drehte sich langsam um. Vielleicht lag es nur an dem Gegenlicht, aber das schmale Gesicht in der windzerzausten Halo aus dunklem Haar wirkte so weiß wie der Schaum auf den Wellenkämmen und seltsam angespannt.

„Es tut mir ja so Leid, Sam!" stammelte sie.

„Was ist jetzt wieder?"

„Zevs Rucksack", klang es zaghaft zurück. „Ich wollte ihn doch nur wegstellen, damit er nicht nass wird. Er war ja direkt hier vorne an der Reling, wo dauernd Gischt reinspritzt, und er war schon ganz feucht. Ich hab's nur gut gemeint, Sam, ehrlich."

„Was ist denn mit dem Rucksack?"

„Da war plötzlich so eine Bö ... und das Boot ist irgendwie hin und her geschlingert ... und ich bin gestolpert ... und da habe ich ihn fallen lassen. Ich wollte ihn noch oben an der Tragschlaufe festhalten, aber der Stoff war ja klitschnass und da ist er mir einfach aus der Hand gerutscht. Ich konnte es nicht verhindern, Sam, ehrlich."

Es dauerte einen Augenblick, bis Jessamy realisierte, was Sondra ihr damit de facto sagen wollte.

„Er ist ins Wasser gefallen?"

Sondra nickte unglücklich. „Ich dachte, dass er vielleicht nach oben treibt und dass ich ihn einfach wieder rausfischen kann, aber er ist sofort untergegangen wie ein Stein."

„Was ist untergegangen wie ein Stein?" fragte Zev aus dem Hintergrund alarmiert.

Sondra warf Jessamy einen flehenden Blick zu. Jessamy stieß einen kleinen Seufzer aus, ließ aber Gnade vor Recht ergehen und übernahm es selbst, Zev über die Situation aufzuklären.

Seine Reaktion überraschte sogar sie. Er starrte Sondra eine volle Minute lang wortlos an – und diese Sprachlosigkeit war an sich schon ein schlechtes Zeichen bei einem für gewöhnlich ziemlich redseligen jungen Mann, der sein Herz auf der Zunge trug und nur selten ein Blatt vor den Mund nahm. Doch dann kam ein gefährliches Wetterleuchten in seine Augen – hätten sie Blitze geschleudert, es hätte Jessamy nicht weiter gewundert.

„Es tut mir so Leid", sagte Sondra kläglich.

„Ach ja?" sagte Zev so eisig, als wäre ein klirrend kalter Frosthauch aus Devons Polarregionen direkt in seine Stimmbänder implantiert worden.

„Ich hab's doch nur gut gemeint."

Ach ja?!"

„Können wir ihn nicht irgendwie wieder da rausholen?" fragte Sondra verzweifelt.

Und das brachte Zev endlich zu der längst überfälligen Explosion.

"Rausholen?! Wie soll ich denn das Ding da wieder rausholen? Wir sind auf See, Sondra! Laut Nav-Karte und Echolot haben wir hier gut und gerne tausend Fuß Wasser unterm Kiel – falls das einer so hoffnungslosen Landratte wie dir überhaupt irgendwas sagt!

Also was soll ich deiner Meinung nach jetzt machen? Soll ich vielleicht die Küstenwache anfunken oder das Ozeanographische Institut in Delamere, damit sie mir eben mal ganz kurz eins von ihren U-Booten ausleihen? Oder soll ich lieber darauf warten, dass irgendwann eine nette Meerjungfrau auftaucht, die mir einen Gefallen tut? Ich könnte mich natürlich auch einfach in einen Delphin verwandeln und selber da runtertauchen … DAS IST BESTIMMT KEIN PROBLEM FUR MICH, WENN ICH MIR WIRKLICH MÜHE GEBE!"

In seinem Zorn war er mit jedem Satz lauter geworden, aber erst für den letzten setzte er sein ganzes Lungenvolumen ein. Er schrie so laut, dass ein paar Feenschleierpelikane, die ganz in der Nähe friedlich in der Dünung hin und her schaukelten, aufgescheucht wurden und mit klatschenden Flügelschlägen davonflatterten.

Sondra war so niedergeschmettert, dass sie kein Wort mehr herausbrachte. Sie klappte den Mund auf und wieder zu wie ein Fisch auf dem Trockenen und sah sich dann hilfesuchend nach Jessamy um.

Jessamy fand auch, dass eine Einmischung angebracht war – bevor die Situation endgültig eskalierte. Sie sagte schnell: "Dein Rucksack ist eben futsch, Zev. Aber Sondra wird ihn dir natürlich ersetzen."

"Oh ja, das werde ich, Zev, ganz bestimmt. So schnell wie möglich. Du musst mir nur sagen, was da alles drin war und was es gekostet hat und ich gebe es sofort an meinen … äh … an meine Haftpflichtversicherung weiter. Wir ... also die Versicherung kommt für alles auf", plapperte Sondra aufgeregt.

Niemand konnte daran zweifeln, dass sie sich die größte Mühe gab, ihr Missgeschick wieder gutzumachen – niemand außer Zev, der von diesem Versöhnungsversuch offensichtlich überhaupt nicht beeindruckt war.

Er stand einfach nur regungslos da und starrte Sondra an und die Art und Weise, wie er es tat, gefiel Jessamy gar nicht. Er taxierte Sondra mit seinem Blick, er maß sie ab, er kalkulierte, bewertete und rechnete zusammen, was er sah. Es war der Blick eines Fechters, der kurz vor einem entscheidenden Duell die Stärken und Schwächen seines unbekannten Gegners einzuschätzen versuchte. Es war der Blick eines Soldaten, der dem Feind endlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, die Hand schon am Griff seines Blasters, kampfbereit. Es war ein Blick, den Jessamy noch nie in seinen Augen gesehen hatte und auch nie wieder sehen wollte.

„Zev …", sagte sie so behutsam, als müsste sie einen Schlafwandler ansprechen, der nicht zu abrupt aufgeweckt werden durfte. „Hast du nicht gehört, was Sondra gesagt hat?"

Er atmete tief durch, sichtlich um Selbstbeherrschung ringend, dann sagte er gepresst: "Ich habe ganz genau gehört, was sie gesagt hat, Sam – und im Gegensatz zu dir habe ich sie sogar verstanden!"

Mit dieser kryptischen Bemerkung wandte er sich ab und schickte sich an, wieder in die Kajüte hinunterzugehen.

„Zev!" rief Sondra bestürzt hinter ihm her.

„Vergiss es, Sondra, okay? Vergiss es einfach!" fauchte er, ohne sich auch nur nach ihr umzudrehen. Aber das war auch gar nicht nötig. Sogar sein stocksteifer Rücken sah wütend aus, als er im Niedergang verschwand.

"Oh Gott, er ist so böse auf mich, dass er nicht mal Geld von mir will. Was soll ich jetzt bloß machen, Sam?"

„Im Moment gar nichts. Lass ihn einfach eine Weile in Ruhe. Er beruhigt sich schon wieder und wenn er sich erst ein bisschen abreagiert hat, wird er anders darüber denken", erwiderte Jessamy, obwohl sie sich in diesem Punkt gar nicht so sicher war.

Sie konnte sich nicht daran erinnern, Zev je so aufgebracht gesehen zu haben. Und was zum Henker sollte diese Anspielung? Was glaubte er im Gegensatz zu ihr verstanden zu haben? Aber wenn sie eine Antwort auf diese Frage haben wollte, dann würde auch sie warten müssen, bis Zev sich wieder beruhigt hatte …

"Es tut mir so Leid", wiederholte Sondra zum x-ten Mal.

Wenn überhaupt irgendwas, dann ist das ihr Leitmotiv, dachte Jessamy müde.

„Ich weiß", seufzte sie.

Sie ließ dem erhitzten Gemüt fast eine Stunde Zeit zur Abkühlung, bevor sie das Ruder erneut dem Autopilot übergab und unter Deck ging, um mit Zev zu reden, aber sie sah auf den ersten Blick, dass sich seine Laune nicht wesentlich gebessert hatte.

Er brütete in der Sitzecke neben der Pantry vor sich hin und sein Gesicht unter dem Kopftuch war so grimmig, dass er aussah wie ein Kumpan von Van'Dal dem Grausamen, einer blutrünstigen Seeräuberlegende aus Delameres wild bewegter und keineswegs nur romantischer Vergangenheit. Es fehlte eigentlich nur noch die obligatorische schwarze Augenklappe oder ein Krummsäbel in seiner Hand, um das Bild zu vervollständigen. Jessamy rechnete jeden Augenblick damit, ihn in einen Schwall von Flüchen in dem bildgewaltigen Idiom des siebzehnten Jahrhunderts prä-imperialer Zeitrechnung ausbrechen zu sehen.

„Hallo", sagte sie betont beiläufig und erntete für ihren Gruß nur ein Knurren. „Ich brauche jetzt unbedingt etwas Kaltes zu trinken, ich bin völlig ausgedörrt. Was ist mit dir?"

Zevs Antwort bestand in einer Grimasse, die man nur noch als Zähnefletschen bezeichnen konnte. Doch immerhin akzeptierte er das gefüllte Glas, das sie trotzdem vor ihm auf den Tisch stellte, ohne ihr gleich den Kopf abzureißen, was Jessamy für einen Fortschritt hielt.

Als er sich dann sogar dazu herabließ, das Glas in die Hand zu nehmen und es hin und her zu drehen, so dass die Eiswürfel in dem Rangoonasaft sachte vor sich hin klingelten, sagte sie sich, dass er möglicherweise schon wieder zu einem mehr als einsilbigen Akt der Kommunikation bereit war – anderenfalls hätte er das Ding wahrscheinlich einfach an die Wand geworfen, um seinem Frust wenigstens symbolisch Luft zu machen.

„Können wir darüber reden?"

Noch ein Knurren ...

Irgendwo in der Nähe von Jessamys Zwerchfell blubberte Heiterkeit aufwärts wie Grundwasser in einem artesischen Brunnen und drohte, sich in einer Fontäne aus Gekicher zu entladen, was von Zev natürlich sofort bemerkt und ziemlich finster zur Kenntnis genommen wurde.

„Na gut. Dann lass wenigstens mich darüber reden, ja?" sagte sie, als sie den spontanen Lachreiz zusammen mit ihren Gesichtsmuskeln wieder einigermaßen unter Kontrolle gebracht hatte.

Dieses Mal blieb das Knurren aus, was sie der Einfachheit halber als Zustimmung wertete.

„Okay. Die Fakten. Erstens: Dein Rucksack geht Sondra natürlich überhaupt nichts an und hätte sie einfach die Finger davon gelassen, wäre er auch nicht im Wasser gelandet. Zweitens: Ja, sie ist ein Tollpatsch, aber das ist ja schließlich kein Kapitalverbrechen. Drittens: Niemand ist unfehlbar, nicht mal du. So was hätte jedem von uns passieren können. Es war einfach nur Pech, ein dummer kleiner Zufall."

„War es das?" schnappte Zev.

Und Jessamy erkannte endlich den Kern des Problems. „Glaubst du etwa, sie hat das mit Absicht gemacht?"

„Ich glaube es nicht, ich weiß es."

„Ach, Unsinn!"

„Bist du dir da wirklich so sicher, Sam?"

„Natürlich. Das ist doch absurd. Warum sollte Sondra deinen Rucksack über Bord werfen?"

„Hm, lass mich mal nachdenken. Könnte es vielleicht sein, weil irgendetwas in ihm war, etwas ganz Bestimmtes, das ich ungefähr zehn Minuten vorher direkt vor Miss Pechvogels spitzer Nase eingepackt habe? Na, und was glaubst du wohl, was das war? Dreimal darfst du raten."

„Deine VidCam?"

„Der Kandidat hat hundert Punkte", verkündete Zev verdrossen und leerte sein Glas in einem Zug, bevor er es mit einem Knall wieder auf der Tischplatte absetzte.

„Also das glaube ich einfach nicht. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Sondra …"

„Sie wollte nicht, dass ich sie filme, oder? Aber ich habe es trotzdem getan. Und jetzt liegt meine VidCam zusammen mit meinem ganzen anderen Zeug auf dem Grund des Meeres – na, wenn das kein Zufall ist!" gab Zev mit beißendem Sarkasmus zurück.

„Warum sollte sie so etwas machen?" beharrte Jessamy.

„Warum, warum – woher soll ich das wissen?" rief Zev ungeduldig. „Vielleicht ist sie ja irgend so eine durchgeknallte Sekten-Braut und bildet sich ein, dass ihr Astralkörper Pickel bekommt oder dass sie bei ihrer nächsten Reinkarnation als Blutegel wiedergeboren wird, wenn ein ungläubiger Sünder wie Zev Gilfoy Bilder von ihr macht.

Vielleicht kann sie mich einfach nicht leiden und wollte mir eins auswischen. Vielleicht hat sie auch irgendeinen anderen Grund, auf den kein normaler Mensch je kommen würde. Aber wen interessiert das schon? Für mich zählt hier nur eines: Diese Frau tickt doch irgendwie nicht ganz richtig. Pass bloß auf, Sam, mit der wirst du noch dein blaues Wunder erleben!"

Und bei dieser Meinung blieb er, egal, was Jessamy zu diesem Thema sagte. (Und sie hatte noch eine ganze Menge dazu zu sagen!)

Auf dem letzten Teil der Heimfahrt herrschte eine ziemlich gedrückte Stimmung auf der Nivess. Zev grollte und schmollte schweigend auf dem Vordeck vor sich hin, wenn er nicht gebraucht wurde. (Jessamys Weigerung, seine messerscharfe und natürlich völlig vorurteilsfreie Logik anzuerkennen und die in seinen Augen lückenlose Beweiskette für Sondras doppelzüngige Hinterhältigkeit zu akzeptieren, hatte ihn schwer getroffen.)

Sondra kauerte von Schuldgefühlen gebeutelt auf ihrem üblichen Platz und schien jederzeit bereit zu sein, in Tränen auszubrechen. Und Jessamy saß am Ruder und meditierte über Fragen von kosmischer Bedeutung: Warum mussten sogar vollkommene Tage immer wieder mit einem Paukenschlag enden? Warum führten selbst die besten Absichten grundsätzlich direkt in eine mittelprächtige Katastrophe? Und warum entpuppte sich jeder Mann, den sie kannte, früher oder später als kompliziertes und halsstarriges Wesen mit einem deutlichen Hang zur Paranoia? Ach ja, das Leben war hart und ungerecht – vielleicht nicht immer, aber immer öfter!

Sie war heilfroh, als sie mit Einbruch der Dunkelheit endlich im Yachthafen von Delamere einliefen und dicht neben der Catai, die tatsächlich vor ihnen eingetroffen war, am Pier anlegten. Zev hatte inzwischen schon die Segel geborgen und die schützenden Persennings mit riesigen Knoten befestigt, die er so straff anzog, als sollten sie bis ans Ende aller Zeiten halten.

Jetzt warf er Godis, die sie auf dem Kai erwartete, um ihnen beim Vertäuen zu helfen, die Bugleine mit einem so aggressiven Schwung zu, dass das Mädchen sich unwillkürlich erschrocken duckte.

„He! Was soll denn das?" schimpfte sie.

„Hör auf zu jammern und mach vorwärts! Na los, wird's bald?" herrschte Zev sie an.

„Na, du hast vielleicht eine Laune … Sklaventreiber … Blödmann!" maulte Godis, die fünfzehn und damit gerade in einer kritischen Phase war, in der sie auf jede Form von Druck instinktiv mit Meuterei reagierte.

„Noch ein Wort und du kannst morgen zu Hause bleiben, junge Dame! Mom hat erst gestern wieder gesagt, dass du in letzter Zeit einfach unerträglich bist und dass dir ein bisschen Hausarrest mal ganz gut tun würde. Und Dad sucht sowieso noch nach einem Glücklichen, der ihm beim Anpinseln vom Gartenpavillon helfen darf. Also pass bloß auf, du verzogenes Gör, wie du mit deinem großen Bruder sprichst, der immer nett, verständnisvoll und vor allem höflich zu dir ist!"

Der eklatante Widerspruch zwischen dieser Aussage und seinem aktuellen Verhalten schien ihm im Augenblick der Erregung gar nicht aufzufallen.

Jessamy schüttelte den Kopf, ersparte sich aber eine entsprechende Bemerkung. Sie ließ die Nivess nach achtern absacken, damit auch die Heckleine am Poller festgemacht werden konnte, eine Aufgabe, die Lelja übernahm, die gerade im Scheinwerferlicht des Kais aufgetaucht war und ihr fröhlich zuwinkte.

Sobald die Nivess ordnungsgemäß vertäut war, sprang Zev auf die Mole hinüber – er schien es gar nicht mehr erwarten zu können, von Bord zu kommen. Der Abschied von Jessamy fiel entsprechend kurz und ziemlich ungnädig aus; Sondra wurde nicht eines Blickes gewürdigt.

Als er mit seinen Schwestern auf und davonging, sehr steif und aufrecht und sehr, sehr verschnupft, hörte Jessamy, wie Lelja ihn neugierig fragte: „Was ist denn los mit euch Turteltäubchen? Habt ihr euch gezankt?"

Woraufhin ihr großer Bruder auch den letzten Zweifel an seinem netten, verständnisvollen und vor allem höflichen Wesen erfolgreich zerstreute, in dem er gereizt „Ach, halt die Klappe!" brummte.

Leljas Antwort fiel scharf und wortreich aus, wurde aber teilweise von Godis' ziemlich schrillen Feststellungen über Erwachsene im allgemeinen und nur scheinbar erwachsene Brüder im besonderen übertönt. Das Letzte, was Jessamy an diesem Abend von den Gilfoys sah, war eine Dreiergruppe aus heftig gestikulierenden und lautstark streitenden Schatten, die in der Dunkelheit hinter dem hellerleuchteten Restaurant des Nautilus-Clubs verschwand.

„Ich hab euch den ganzen Tag verdorben", sagte eine weinerliche Stimme hinter Jessamys Rücken.

Und vielleicht nicht nur diesen einen Tag, dachte Jessamy düster, denn sie war selbst gerade dabei, in eine Art Weltuntergangsstimmung hineinzurutschen und hatte daher weder den Wunsch noch die Energie, sich mit der neuesten Version von Sondras endlosen seelischen Tiefflügen zu befassen.

„Lass uns hier Schluss machen und einfach nach Hause fahren, okay?"

Und genau das taten sie dann auch …

Vardiss:

„Ich weiß immer noch nicht, ob Sondra das mit Absicht gemacht hat oder nicht. Ich meine, mir ist bis heute kein halbwegs vernünftiger Grund eingefallen, warum sie es getan haben sollte. Aus reiner Gehässigkeit? Das traue ich ihr nicht zu. Aber Zev hat nie damit aufgehört, solche Theorien auszubrüten." Jessamy lächelte ein wenig. „Er hat eine blühende Phantasie."

Breghala quittierte diese nebensächliche Information mit einem beiläufigen Nicken. Er hielt es für vollkommen überflüssig, Sorkin darauf hinzuweisen, dass sie mit all ihrer Intelligenz das wahrscheinlichste Motiv von Rakoshs Verhaltensweise genauso übersehen hatte wie ihr ziemlich leicht entflammbarer Freund mit seiner ganzen blühenden Phantasie.

Er erwiderte Sorkins Lächeln, voller wohlwollender Nachsicht für die erfrischende Naivität braver gesetzestreuer Bürger, die in ihrer Arglosigkeit gar nicht erst auf die Idee kamen, dass schon jeder kleine Durchschnittsgauner einen sehr vernünftigen Grund hatte, eine Krise zu bekommen, wenn seine künftigen Opfer sich anschickten, Bilder oder Filmaufnahmen von ihm zu machen.

Und für Rebellen, die schon etwas mehr waren als nur kleine Durchschnittsgauner – wenn auch nicht sehr viel mehr! –, galt natürlich dasselbe. Man konnte wohl davon ausgehen, dass nicht einmal eine so drittklassige Amateurspionin wie Sondra Rakosh es einfach zulassen würde, dass ihr Konterfei eines Tages in die Datenbanken des imperialen Geheimdienstes wanderte und vielleicht sogar auf den Fahndungsdisplays erschien, die auf allen öffentlichen Plätzen ausgehängt waren.

„Damals habe ich jedenfalls keinen Gedanken mehr daran verschwendet", fuhr Jessamy fort. „Natürlich war ich auch viel zu sehr damit beschäftigt, die vielen gesträubten Federn um mich herum wieder glatt zu streicheln – vor allem Zevs Federn."

Ihr Lächeln wurde strahlender und ihre Augen leuchteten auf wie immer, wenn sie seinen Namen aussprach. Breghala, der mit leicht zerstreuter Belustigung die Symptome hochgradiger Verliebtheit registrierte, dachte, dass dieser Gilfoy-Junge absolut keinen Grund hatte, Sorkins Kollegen von der Warbride zu beneiden – wenn überhaupt irgendjemand in dieser Geschichte zu beneiden war, dann er selbst.

„Aber das ist ja auch nicht so wichtig. Wichtig ist nur, dass Zev felsenfest davon überzeugt war und dass er Sondra von diesem Tag an nicht mehr über den Weg getraut hat. Das ging so weit, dass er sie jedes Mal, wenn er bei mir war, die ganze Zeit über mit Argusaugen beobachtet hat.

Das ist mir manchmal ganz schön auf die Nerven gegangen, aber heute bin ich eigentlich froh darüber. Denn wäre er Sondra gegenüber nicht so misstrauisch gewesen, hätte ich mir später, als ich selber langsam gemerkt habe, dass da etwas nicht stimmt, wahrscheinlich sofort eingeredet, dass ich mir das alles nur einbilde.

Aber dazu kommen wir noch – es hat schließlich noch eine ganze Weile gedauert, bis es bei mir so weit war.

Tja, was soll ich sagen? Als mir zum ersten Mal wirklich aufgefallen ist, dass die Sache irgendwie anfängt aus dem Ruder zu laufen, habe ich es einfach nur für eine von Sondras Macken gehalten …"


Fortsetzung folgt ...