Kapitel 2 - Bami
„Warum wolltest du unbedingt hier her?", fragte Kaito nachdem sie ihre Getränke an der Bar bestellt hatten.
Mit „hier her" meinte Kaito das Bantam und nicht wie üblich ihre Stammkneipe Tender. Da es Freitagabend war, war es in dem Irish Pub ziemlich voll und die Gäste drängten sich in Scharren in die Kneipe. Normalerweise vermieden sie überfüllte Läden, aber heute war es auf Torus Bitte hin nicht anders gegangen.
„Ich wollte ungestört mit dir reden."
Ein Grinsen stahl sich über Kaitos Gesicht und er warf Toru einen wissenden Blick zu. „Soso. Lief etwa mehr mit Mari?"
Irritiert sah Toru ihn an. „Mit Mari? Natürlich nicht! Wie kommst du darauf?"
Der Barkeeper schob den beiden zwei Biere über den Tresen und Kaito genehmigte sich einen kräftigen Schluck. „Yagami hat erzählt, dass sie dich gestern die ganze Zeit angegraben hat und du bist heute irgendwie so ... beschwingt. Es würde mich freuen. Wie lange bist du nun schon Single?"
Toru spürte, wie er rot wurde. Er hatte nicht erwartet, dass Kaito gleich so mit der Tür ins Haus fallen würde, andererseits war er ihm auch ganz dankbar dafür, weil er nicht gewusst hatte, wie er es hätte ihm erzählen sollen.
„Mit Mari ist gar nichts passiert und ich habe auch kein Interesse an ihr", sagte er und ignorierte damit seine Frage. Er warf Kaito einen vorsichtigen Blick zu. Unwillkürlich begann er leicht in Deckung zu gehen. „Ich habe Saori nach Hause gebracht."
Das Grinsen auf Kaitos Gesicht fror ein. Er sah verwirrt aus und es war ihm regelrecht anzusehen, dass es in seinem Kopf arbeitete. „Saori?", wiederholte er und schließlich wurde er nachdrücklicher: „Unsere Saori? Hoshinos Saori?"
Toru seufzte. „Ja."
„Okay." Kaito runzelte die Stirn. Sein Blick wurde eindringlicher, fast schon bedrohlich. „Du hast sie nach Hause gebracht und bist dann auch nach Hause gegangen."
Toru wich ihm schuldbewusst aus und presste die Lippen aufeinander. Er hatte gewusst, dass Kaito es nicht gut aufnehmen würde. Wieso sollte er auch?
„Das. Hast. Du-", polterte Kaito laut los und wurde sich dann dessen bewusst, dass sie nicht zu zweit bei ihm Zuhause saßen. Die ersten Gäste warfen ihnen bereits neugierige Blicke zu. Kaito senkte seine Stimme wieder. „Das hast du nicht getan?!", zischte er ihn wütend an. „Hoshino will sie heiraten!"
„Hat sie Ja gesagt?", fragte Toru erschrocken.
Er konnte an seinem Gesichtsausdruck erkennen, dass Kaito ihm daraufhin am liebsten eine übergezogen hätte. „Sie wird Ja sagen, wenn er sie gefragt hat!"
Toru seufzte. „Hör zu, es ist nicht so, als wäre ich stolz darauf. Ich konnte den Kerl noch nie leiden, aber ich wollte ihm auch keines auswischen. Das ist mehr als Sex gewesen. Ich bin verrückt nach ihr. Schon lange."
„Ich fasse es nicht." Man sah Kaito an, dass er es nicht richtig begreifen konnte und er nach wie vor darauf hoffte, Toru würde mit der versteckten Kamera um die Ecke kommen. „Was war es für Saori?"
„Danach habe ich nicht gefragt. Ich wollte sie nicht bedrängen."
„Vielleicht war es nur ein Ausrutscher. Ein Abenteuer."
Kaito stellte das relativ nüchtern fest, als hätte ihm Toru nicht gerade eröffnet, dass er Gefühle für sie hatte.
„Autsch."
„Ich will nur, dass du realistisch bleibst. War Vollmond?"
„In der Dusche heute Morgen kam es mir nicht so vor, als wäre es für sie nur eine einmalige Sache gewesen", erwiderte er trocken. Er hatte sich provozieren lassen.
„Ihr habt zwei Mal?!"
„Hör zu, ich habe dir das nicht erzählt um anzugeben oder den Kopf gewaschen zu bekommen. Ich brauche dich als Freund. Aktuell weiß ich nämlich nicht wie ich damit klarkommen soll, wenn es für sie nicht mehr war."
„Bist du dir sicher, dass du dich da nicht in etwas verrannt hast? Ich habe gemerkt, dass du schon länger scharf auf sie bist, aber Gefühle sind nochmal eine andere Sache."
„Seit gestern weiß ich es mehr denn je."
Toru musste wohl verzweifelt genug gewirkt haben, denn Kaitos Blick wurde weicher. Er seufzte.
„Ich weiß nicht was in Saoris Kopf vorgeht, aber sie ist Anwältin. Leute wie sie bewahren Leute wie uns vor dem Knast. Du kannst ja schon froh sein, dass du endlich wieder ein Konto bei der Bank haben darfst."
Toru war geknickt. Insgeheim hatte er sich aufbauende Worte – vielleicht sogar Bestätigung – von Kaito erhofft, auch, wenn ihm klar gewesen war, dass die Chancen dafür gleich gegen Null gegangen waren. „Ich weiß, dass sie in einer anderen Liga spielt."
„So habe ich das nicht gemeint. Ich will nur nicht, dass du enttäuscht wirst. Du bist ein guter Kerl und hast das Herz am rechten Fleck. Sie könnte sich glücklich schätzen dich an ihrer Seite zu haben, aber für Hoshino gilt das eben auch."
Toru wusste, dass Kaito Recht hatte. Er hatte dem nichts mehr hinzuzufügen.
„Versprich mir bitte eines", fuhr Kaito fort. „Ich kann kein Drama an meiner Hochzeit gebrauchen. Wir wollen eine schöne Zeit haben."
Tatsächlich hatte Toru Kaitos Hochzeit komplett verdrängt gehabt und der Gedanke daran, dass sie in nur wenigen Wochen eigentlich ein Wochenende gemeinsam verbringen und das Eheglück von Kaito und Mikoko feiern wollten, war plötzlich gar nicht mehr so reizvoll für ihn. Die harte Realität traf ihn wie ein kleiner Schock. Wie würden sich die Dinge bis dahin entwickeln?
Vier Wochen später war der August verstrichen. Es war Mitte September, die Blätter inzwischen bunt geworden und die Sonne tauchte sogar das farbenfrohe Kamurocho überwiegend in edles Gold. Toru wusste nun auch die Antwort auf all die Fragen, die er sich nach der Nacht mit Saori gestellt hatte. Es war kurz und knapp in wenigen Worten zu beschreiben: Nichts würde sich entwickeln. Er hatte Saori seither nicht mehr zu Gesicht bekommen und sie hatte ihm weder geschrieben, noch ihn angerufen. Fairerweise musste man sagen, dass er ebenfalls die Option gehabt hätte sich bei ihr zu melden, allerdings war sie diejenige in einer Beziehung – nicht er, und, wie er über Kaito mitbekommen hatte, hatte sich daran auch nichts verändert.
Toru hatte glaubt sich damit mittlerweile ganz gut abgefunden zu haben, aber nun stand er auf dem Balkon seines Hotelzimmers in Okinawa, hatte trotz eines fantastischen Blicks über das Meer schlechte Laune und die Zigarette wollte ihm einfach nicht schmecken. Ihm wurde sogar schlecht davon. Frustriert seufzte er und presste sie in seinem Aschenbecher wieder aus.
„Schmeckt es nicht?"
Als er die vertraute Stimme neben sich hörte machte sein Herz einen Sprung. Überrascht schnellte sein Blick zur Seite und er sah neben dem spärlichen Sichtschutz Saori auf dem Balkon nebenan stehen.
Ihm war klar gewesen, dass er sie relativ bald zu Gesicht bekommen würde, aber er hatte sich nicht vorgestellt, dass er bereits eine halbe Stunde nach seiner Ankunft feststellen musste, dass sie ausgerechnet das Zimmer neben ihm bewohnte. Innerlich war er auf diese Situation noch nicht vorbereitet gewesen und Saori, die wie immer in dieser Hinsicht eine absolute Wundertüte war, sah unverschämterweise auch noch hinreißend aus. Er verfluchte sie innerlich dafür, dass sie in engen Jeans und einem kurzen weißen Top all ihre weiblichen Reize perfekt in Szene setzte. Außerdem sah es so aus, als hätte sie sich die Haare geschnitten. Es endete nun im Nacken und ihr Pony fiel ihr nicht mehr ins Gesicht. Verdammt sexy.
Eine Welle des Ärgers überkam Toru. Er wurde sich dessen bewusst, dass er sie viel zu lange angestarrt hatte und musste den Drang unterdrücken sofort zurück ins Zimmer zu verschwinden. „Hübsche Frisur", kommentierte er knapp.
„Danke", erwiderte sie. „Wo ist deine Sonnenbrille?"
Die Anspielung auf ihre gemeinsame Nacht tat weh. Er hätte nicht damit anfangen dürfen. Toru versuchte zu analysieren was sie dachte, aber wie immer war ihr Gesicht ein perfektes Pokerface. Saori kam näher an die Abtrennung der Balkone heran, doch er verharrte entschlossen dort wo er war.
„Ich teile mir ein Zimmer mit Mafuyu", sagte sie unvermittelt.
Toru konnte sie nur anstarren. Er wusste nichts mit dieser Information anzufangen und hatte das Gefühl sich vor ihr schützen zu müssen. Welche Reaktion erwartete sie von ihm? Nach wie vor war sie in einer Beziehung mit Hoshino. Aus Macht der Gewohnheit zündete er sich eine neue Zigarette an, obwohl er die vorherige bereits nach nur zwei Zügen verschmäht hatte. Er brauchte die Ablenkung und musste seine Hände beschäftigen. Nachdem er den Rauch tief inhaliert und in die Luft geblasen hatte, fühlte er sich wieder in der Lage ihr in die Augen zu sehen. „Ich habe nicht danach gefragt."
Wobei Toru zugeben musste, dass der Gedanke daran, dass sie nicht im Zimmer neben seinem die Nacht mit Hoshino verbrachte, doch etwas beruhigend war. Er wollte sich gar nicht vorstellen wie oft sie seitdem Sex mit ihm gehabt hatte. Allein die Vorstellung, dass er sie auch so küssen und berühren konnte, wie sie es miteinander getan hatten, verbitterte ihn. Er wollte sie allerdings jetzt hassen, nicht ihr dankbar sein. Sie nicht begehren, aber vor allem nicht lieben. Es fiel ihm immer schwerer seinen Ärger nicht offenkundig zu zeigen.
„Ich würde gerne mit dir Wahrheit oder Pflicht spielen", sagte er. Toru verkaufte es als Bitte, aber er würde ihr keine Wahl lassen.
Saori sah ihn unschlüssig an. Er konnte in ihren Augen sehen, dass sie sich mit dieser Aufforderung nicht wohl fühlte, doch sie nickte. „Pflicht."
Nicht das was er hatte von ihr hören wollen.
Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen. „Blas mir einen", sagte er herausfordernd.
Ihm war bewusst, dass er zu weit ging und sich wie ein Arschloch verhielt, aber sein Bedauern darüber hielt sich in Grenzen. Das wochenlange Hoffen und Warten hatte ihn gequält und zermürbt. Er war frustriert und der Wunsch nach Abreaktion brach in ihm durch.
Sofern Saori seine dreiste Aufforderung überrascht hatte oder sie deswegen verärgert war, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Verdammtes Pokerface. Er wollte doch nur irgendeine Reaktion von ihr.
„Dann nehmen wir lieber Wahrheit", entgegnete sie gelassen.
„Warum hast du dich nicht gemeldet?"
„Ich wollte dich nicht verärgern." Saori wirkte aufrichtig überrascht und das stachelte ihn nur noch mehr an. War es denn so abwegig davon auszugehen, dass er verletzt war?
„Hättest du mich wirklich nicht verärgern wollen, dann hättest du dich gemeldet. Es wäre zumindest fair gewesen zu klären was das zwischen uns gewesen ist."
Saori stützte sich am Geländer des Balkons ab. Toru registrierte, wie ihre Hände dabei leicht zitterten. „Ich wusste nicht wie ich damit umgehen sollte."
„Und jetzt weißt du es?", fragte er monoton, doch er glaubte die Antwort bereits zu kennen.
„Issei ist ein guter Mann", erklärte sie. „Er hat das nicht verdient."
„Und was bin ich? Habe ich das verdient?", fragte er wütend.
„Natürlich nicht!" Saori wirkte frustriert. „Hör zu, können wir nicht einfach versuchen uns dieses Wochenende so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen? Ich kann nicht ungeschehen machen was passiert ist, aber ich kann aktuell versuchen das Beste daraus zu machen."
„Okay, wenn dich das glücklich macht dann schönes Wochenende noch."
Toru hatte genug gehört und musste raus aus dieser Situation. Er ließ sie am Balkon stehen. Sie rief ihm hinterher, doch er schloss die Tür hinter sich ohne darauf zu achten. Dass es so wehtat, traf ihn relativ unvorbereitet. Er hatte nicht erwartet, dass die Unwissenheit der letzten vier Wochen eher ein Segen gewesen war und sich der Aufprall auf dem Boden der Wahrheit so hart anfühlen würde. Irgendjemand musste ihn da oben wohl auch besonders hassen, weil sie ausgerechnet das Zimmer neben seinem belegte.
Toru verfluchte die ganze Welt als er eine Stunde später zum Abendessen erschien und bis auf Saori, Hoshino und Mafuyu noch niemand anwesend war. Am liebsten hätte er rücklings wieder kehrt gemacht und wäre eine rauchen gegangen, allerdings wollte er sich auch keine Blöße geben. Zumindest hatte Toru den Eindruck, dass Saori um die Nase ein wenig blasser geworden war und das verschaffte ihm immerhin einen Hauch Genugtuung.
Auf Mafuyu war aber Verlass. Sie überstrahlte mit guter Laune die schlechte Stimmung, die sein Auftauchen erzeugt hatte. „Ihr seht alle so gut aus! Da kommt man sich glatt underdressed vor", rief sie, nachdem sie ihn von oben bis unten gemustert hatte. Natürlich übertrieb Mafuyu maßlos. In ihrem kurzen schwarzen Sommerkleid sah sie fantastisch aus.
Toru setzte sich neben sie und ihr Blick blieb unverhohlen an seinem Gesicht hängen. „Du solltest öfter auf deine Sonnenbrille verzichten. So ein Gesicht sollte man eigentlich nicht verstecken."
„Ich mag es, wenn man dein Gesicht sieht."
Unwillkürlich glitt Torus Blick an Mafuyu vorbei zu Saori, die leicht unzufrieden wirkte und ihm sofort mit ertappter Miene auswich. Er wusste nicht was er mit Mafuyus schönen Worten anfangen sollte, aber er genoss es, dass es Saori zu ärgern schien. „Danke für die Blumen. Ich werde es mir merken", antwortete er ihr mit einem Zwinkern.
Zum Glück trudelte nun Yagami mit Sugiura, Tsukumo und Genda im Schlepptau ein und als endlich das zukünftige Brautpaar Kaito und Mikiko zusammen mit Jun erschien, wurden sie von der Gruppe im großen Jubel begrüßt. Kaito und Mikiko hatten für die gemeinsamen Essen einen Gemeinschaftsraum mit langer Tafel gemietet und trotz Torus Unbehagen wegen Saoris und Hoshinos Anwesenheit, wurde es ein wunderbarer Abend mit gutem Essen und voller lustiger Geschichten, den die Männer und Frauen schließlich getrennt voneinander im Onsen ausklingen ließen.
Vor dem Schlafen gehen rauchte Toru noch eine letzte Zigarette auf dem Balkon und genoss die warme Abendluft, während die Wellen leise in der Dunkelheit vor sich hin rauschten. Er konnte durch den Sichtschutz die schwache Beleuchtung im Zimmer nebenan erkennen. Ein kleiner Teil in ihm hoffte, Saori würde rauskommen und ihm Gesellschaft leisten, aber ihm war bewusst, dass das im Hinblick auf heute Nachmittag ein abwegiger Gedanke war – und schon gleich gar nicht passieren wurde, wenn sie nicht alleine war. Unweigerlich fragte er sich, ob Saori Mafuyu auch ins Vertrauen gezogen hatte, so wie er es bei Kaito getan hatte, aber er bezweifelte es. Sie hatte etwas zu verlieren, würde ihr kleines Geheimnis rauskommen.
Toru verfluchte sich, als ihm bewusst wurde, dass seine Gedanken schon wieder bei Saori gelandet sind und sich eine Sehnsucht nach ihr in ihm breit machte, die fast schmerzte. Er tat einen letzten Zug und verschwand in seinem Zimmer. Kaito hatte ihm inzwischen mehrmals geraten sich nach einer anderen Frau umzusehen oder sich zumindest etwas Ablenkung zu suchen. Vielleicht hätte er diesen Rat wirklich beherzigen sollen.
Die Trauung von Kaito und Mikiko fand am nächsten Tag gegen Mittag am Strand statt. Beide waren in weiß gekleidet, sahen fantastisch aus und strahlten mit der warmen Herbstsonne um die Wette. Toru versuchte so gut es ging den Blick auf Saori zu vermeiden, die ein senfgelbes Kleid mit weitem Saum und großzügigem Rückenausschnitt trug, dass sein Blut regelrecht in Wallung brachte. Die Zeremonie war schön und er wollte ihr den nötigen Respekt zollen, aber eigentlich wollte er nur Saori dieses Kleid vom Körper reißen und in sie eindringen. Er dachte daran wie sie nackt mit wildem Blick auf ihm gesessen und ihn so heftig geritten hatte, als würde ihr Leben davon abhängig sein – und im nächsten Moment schämte er sich dabei, dass sein bester Freund gerade die Liebe seines Lebens heiratete und er an nichts anderes als an Sex denken konnte. Es war zum Haare raufen. Toru hoffte, dass er ihr zumindest nach diesem Wochenende eine Zeitlang würde aus dem Weg gehen können. Er brauchte die Zeit um zu heilen und sie endlich zu vergessen.
Da Kaito und Mikiko mit Ausnahme von Jun keine Familie hatten, war die Hochzeitgesellschaft sehr überschaubar, aber das hinderte die Freunde nicht daran die beiden gebührend zu feiern. Tatsächlich machte es sogar die anschließende Feier umso intimer. Sie verbrachten den restlichen Tag und Abend in einer kleinen Lounge des Hotels im Außenbereich, aßen viel und gut, lachten, sangen und tanzten.
Toru sah fast schon voller Eifersucht dabei zu wie Saori tatsächlich mit allen ausgelassen und fröhlich tanzte. Er konnte es nur auf den Alkohol schieben, denn das war nicht die sonst so beherrschte Frau, die er kannte. Sie mieden einander natürlich wie der Teufel das Weihwasser, wobei es wahrscheinlich schon fast auffälliger wirkte, dass sie in dieser kleinen Gruppe so auf Abstand zueinander gingen.
Überraschenderweise stellte sich aber Mafuyu als ziemlich gute Feierbegleitung heraus. Je mehr Zeit er mit ihr verbrachte, desto besser verstanden sie sich und Toru konnte nicht umhin den netten Nebeneffekt zu genießen, dass er damit zumindest Yagami etwas auf die Nerven ging, wie er an dessen finsteren Seitenblicken erkennen konnte. Wahrscheinlich spornte ihn noch zusätzlich die Hoffnung an, auch Saori würde es eine Reaktion entlocken, aber entweder bekam sie es gar nicht richtig mit oder sie war tatsächlich cooler als jeder Eisberg. An die dritte Option, dass es ihr schlichtweg egal war, wollte Toru gar nicht denken.
„Ich muss schon sagen, du bist ein verdammt guter Tänzer. In dir stecken ungeahnte Fähigkeiten", lachte Mafuyu nach einem ihrer Tänze atemlos. Ihr war warm und sie wedelte mit den Händen vor ihrem Gesicht herum. „Ich brauche jetzt etwas zu trinken."
„Dann lass uns was holen."
Er drehte sich um und als er Saori bei den Getränken stehen sah, bereute er diesen Entschluss sofort. Mit einem unguten Gefühl im Bauch stieß er mit Mafuyu zu ihr, Hoshino und Sugiura.
„Ihr beide habt ja ziemlich viel Spaß", sagte Hoshino zur Begrüßung und klang etwas spitzfindig dabei.
Eigentlich spielte er damit aber Toru nur in die Karten. Er ignorierte den Drang Saori anzusehen um zu prüfen, ob sie sich daran störte.
„Higashi ist ein besserer Tänzer als du, Hoshino", sagte Mafuyu unverblümt. „Vielleicht solltest du dir ein bisschen was von ihm abschauen."
Hoshino wurde rot. Er wirkte verärgert.
„Die Stimmung zwischen euch ist mal wieder bombastisch", stellte Sugiura fest. „Heute wäre der Tag der Tage um endlich Frieden zu schließen, meint ihr nicht?"
„Nein", sagten Toru und Hoshino zeitgleich in kühlem Tonfall. Zumindest darin waren sie sich einig – wobei sie sich streng genommen eigentlich in ziemlich vielem einig waren. Allen voran bei Saori.
Sugiura lachte und hob beschwichtigend die Arme. „Okay, okay."
„Was haltet ihr von Karaoke?" Mikiko erschien neben Sugiura, hakte sich bei ihm ein und sah hoffnungsvoll in die Runde.
Mafuyu klatschte begeistert in die Hände und Hoshino wirkte so als würde er einfach nur „Ja" sagen, weil er froh um den Themenwechsel, dass Toru ein besserer Tänzer als er sei, war.
„Wollen wir uns ein Lied aussuchen?", fragte Mafuyu Toru.
Er war leicht überfordert mit dieser Frage. Karaoke gehörte nicht unbedingt zu seinen liebsten Hobbys. „Meinetwegen."
„Ich geh mich kurz frisch machen", sagte Saori. Sie hatte sich die ganze Zeit über im Hintergrund gehalten und löste sich nun von der Gruppe um nach drinnen zu gehen.
Toru widerstand dem Drang ihr sofort nachzulaufen. Unwillkürlich musste er sich fragen, ob er mit seiner Zweisamkeit mit Mafuyu etwas übertrieben hatte, allerdings wollte er sich auch nicht zu viel einbilden und Dinge sehen, die womöglich gar nicht vorhanden waren.
Als Stars des Abends startete Mikiko gemeinsam mit Kaito ein Duett, danach grölte ein ziemlich betrunkener Tsukumo ihnen recht schief die Ohren voll, aber Saori blieb weiterhin verschwunden. Toru beschloss, dass nun genug Zeit vergangen war um nach ihr zu sehen und er wusste sofort wo er sie finden würde.
Er ging in sein Zimmer und musste sich kurz sammeln, ehe er die Tür zum Balkon öffnete und wieder hinaus in die Nacht trat. Wie erwartet stand sie auf der anderen Seite der Absperrung in ihrem gelben langen Kleid. Heute Mittag hatte ihn ihr Anblick so scharf gemacht, dass er ihr das Kleid am liebsten vom Körper gerissen hätte, jetzt sah sie so verletzlich aus, dass er sie gerne einfach nur in den Arm nehmen wollen würde. Dieses Wechselbad der Gefühle machte ihn fertig.
Saori sah nicht zu ihm hinüber, aber er wusste, dass sie sich seiner Anwesenheit bewusst war. Er war nicht zu überhören gewesen.
„Magst du kein Karaoke?", fragte er.
„Nicht wirklich."
„Ich bin auch kein großer Fan davon."
„Hast du mich gesucht?", wollte sie wissen.
„Nein, ich wusste wo du bist."
Saori sah ihn nun doch an. Erst nachdenklich, dann wurde ihre Miene entschlossen. „Jetzt bin ich dran mit Wahrheit oder Pflicht!", verlangte sie.
Toru hob die Augenbraue. Es musste am Alkohol liegen, dass er sich heute nicht so streitlustig wie gestern fühlte. „Okay, wobei man durchaus in Frage stellen könnte, ob du dich so gut darin geschlagen hast, dass du jetzt an der Reihe sein darfst", versuchte er sie aufzuziehen.
Saori ignorierte ihn. „Tanz mit mir."
Er sah sie verdutzt an, doch Saori wirkte nicht so als hätte sie einen Scherz gemacht. „Ich habe noch gar nichts von Pflicht gesagt?"
„Das habe ich für dich entschieden." Sie blieb gnadenlos.
Toru zögerte noch einen Moment, dann schwang er entschlossen sein Bein über das Balkongeländer.
„Was machst du da?", rief Saori erschrocken.
„Du wolltest einen Tanz."
„Mein Zimmer hat eine Tür. Ich wollte nicht, dass du dir den Hals brichst!"
Er blieb unbeirrt. Geschickt kletterte er zu ihrem Balkon hinüber und kam dort sicher wieder auf dem Boden zum Stehen. Ohne zu zögern zog er Saori in seine Arme und legte seine Hand auf ihren nackten Rücken. Sein Herz raste, als er ihre kühle weiche Haut unter seinen Fingern spürte. An ihr hing der leichte Geruch von Alkohol und ihrem Parfum. Mit großen Augen sah sie ihn an, als er langsam mit ihr zu tanzen begann. Von der Ferne konnte er den schiefen Gesang ihrer Freunde wahrnehmen, doch für ihn war es, als würde sie eine ganz eigene und viel schönere Musik begleiten, die nur sie hören konnten. Toru konnte kaum beschreiben wie es sich anfühlte sie endlich wieder dicht an sich gedrängt zu spüren. Es war fast magisch. Unter anderen Umständen wäre es der perfekte Moment gewesen sie zu küssen, doch er wollte die unsichtbare Barriere zwischen ihnen respektieren und sie vor allem nicht verschrecken.
„Jetzt Wahrheit", flüsterte Saori.
Er schmunzelte. „Du willst beides? Ich habe auch nicht beides bekommen."
Wieder blieb sie unbeeindruckt. Wenn sie eines konnte, dann war es ihren Willen durchsetzen. Ihre Augen taxierten ihn regelrecht. „Liebst du mich?"
Kurz blieb für Toru die Zeit stehen. Die Frage traf ihn unvorbereitet. Für einen Moment dachte er daran zu lügen, doch was würde es ihm bringen ihr etwas vorzumachen?
„Ja", flüsterte er fast atemlos.
Saori schwieg. Er konnte ihr nicht ansehen was sie bei dieser Information empfand, aber er konnte ihr ansehen, dass sie noch dabei war sie zu verarbeiten.
Toru hatte Angst, dass sein Geständnis den schönen Moment zwischen ihnen zerstören würde, sobald ihr bewusst wurde, wie sie damit umgehen wollte. „Du hast auch noch eine Pflichtaufgabe offen", sagte er schnell um von seinen Gefühlen abzulenken.
„Das Thema hatten wir doch schon."
Sie stöhnte auf und wollte sich ihm entziehen, doch Toru hielt sie weiterhin fest in seinen Armen.
„Ich möchte, dass du ein glückliches Leben führst."
Mit mir, fügte er in Gedanken hinzu. Diese Worte würden aber seine Lippen nie verlassen.
Kaum hatte er die Bitte ausgesprochen kam er sich schrecklich theatralisch vor. Tatsächlich meinte er es durchaus ehrlich. Im Grunde wollte er nur, dass es ihr gut ging. Der Augenblick und vielleicht auch ein wenig der Alkohol hatten ihn dazu hinreißen lassen. Saori wirkte jedoch nicht so, als würde sie ihn als dramatisch empfinden, sondern sah getroffen aus. Er bemerkte, wie sich Tränen in ihren Augenwinkeln sammelten. Wahrscheinlich wäre ihr jetzt doch lieber gewesen, er hätte von ihr einfach wieder einen Blow Job verlangt. Dann könnte sie ihn wenigstens verteufeln und müsste ihn nicht so traurig ansehen, wie sie es gerade tat.
„Ich habe mich die letzten Wochen die ganze Zeit versucht darauf vorzubereiten dich wiederzusehen", erklärte sie.
„Hat es geklappt?"
„Deine Rehaugen haben mich ruiniert. Wer hat dir überhaupt erlaubt deine Sonnenbrille Zuhause zu lassen?"
Toru schmunzelte. Er genoss das Gespräch mit der alkoholisierten Saori. Wäre sie vollkommen nüchtern, würden sie niemals so locker und ungehemmt miteinander flirten. „Ich habe Rehaugen?"
„Du weißt genau, dass nur Bambi höchstpersönlich dir Konkurrenz machen könnte."
„Schade, ich ging immer davon aus man erliegt meiner Sexiness und meinem Charme."
„Nein."
Saori war fast schon zu entschlossen, als sie den Kopf schüttelte. Als wäre das ein ganz abwegiger Gedanke. Toru versuchte nicht beleidigt zu sein.
„Nein? Was war es dann?", fragte er.
„Du hast das alles. Stärke, Attraktivität, Charme – aber das war es nicht." Sie legte die Hand auf seine Brust, direkt über sein Herzen. Er hielt den Atem an. „Es war deine Wärme. Du hast mich aufgefangen. Ich fühlte mich geborgen."
Toru hatte aufgehört mit ihr zu tanzen und konnte sie lediglich nur anstarren. Da sein Griff um ihren Körper lockerer geworden war, löste sich Saori. Sie wollte wieder auf Abstand gehen, doch gerade im letzten Moment bekam er ihre Hand, die gerade noch auf seiner Brust gelegen hatte, zu fassen.
„Warte", bat er.
Neugierig sah sie ihn an.
„Ich habe dir ehrlich geantwortet, also will ich es auch wissen. Liebst du mich?"
„Saori, bist du da?", rief plötzlich Mafuyus Stimme aus ihrem Zimmer, ließ beide erschrocken zusammenzucken und katapultierte sie in die harte Realität zurück.
Saori entriss ihm ihre Hand und im nächsten Moment stand Mafuyu bereits in der Balkontür und sah die sie überrascht an. Toru war enttäuscht und war sich sicher, dass ihm das anzusehen war. Er fühlte sich leer. Zerstört der Moment, vorbei die Chance. Er hätte gar nicht sehr viel mehr Zeit mit Saori haben müssen, aber ihre Antwort hätte ihm noch vergönnt sein sollen. Wenn sie doch nur ein paar Minuten mehr gehabt hätten.
„Stör ich gerade?", fragte Mafuyu zögerlich. Ihr Blick glitt verwirrt zwischen ihnen hin und her.
Toru unterdrückte den Drang zu antworten und Saori presste schnell ein hastiges „Nein" hervor. Selbst für eine alkoholisierte Saori war es viel zu hoch und sogar er wusste, dass es offensichtlich eine Lüge war – ihre beste Freundin würde sie so sicher niemals täuschen können. Tatsächlich sah Mafuyu nicht überzeugt aus und Toru beschloss, dass es an der Zeit war zu gehen.
„Karaoke wartet auf mich", sagte er so gelassen wie möglich.
Mafuyu machte ihm den Weg ins Zimmer frei. Als er auf den Hotelflur hinaustrat und die Tür hinter sich schloss, hörte er noch ihre fragende Stimme: „Was hast du hier alleine mit Higashi gemacht?"
Toru ging davon aus, dass Saori Mafuyu die Wahrheit erzählte, denn die beiden bekam man noch eine ganze Weile nicht auf der Feier zu Gesicht und als sie dann gegen Ende schließlich wieder auftauchten, war Mafuyu nicht mehr zum Scherzen und Tanzen aufgelegt, sondern sah ernst aus.
„Man will nur einen Blick und bekommt manchmal nicht mal das, nicht wahr?", sagte sie, als sie sich wieder zu ihm gesellte.
Toru wusste sofort, dass sie von Yagami sprach und erkannte wie ähnlich ihre beiden Situationen sich aktuell waren. Am liebsten hätte er sie sofort danach gefragt was Saori ihr alles erzählt hatte, aber sie war ihre beste Freundin und er versuchte dieses Vertrauensverhältnis zwischen ihnen zu respektieren.
„Du warst eine hervorragende Gesellschaft."
Auf ihr Gesicht schlich sich ein kleines Lächeln. „Das Kompliment kann ich nur zurückgeben. Sollte man mich je zu einer Tanzshow einladen, dann würde ich auf dich als Partner bestehen."
Er versuchte ihr Lächeln zu erwidern, aber scheiterte kläglich daran. Der Tag hatte ihn nicht nur körperlich angestrengt, sondern auch mental einiges an Kraft gekostet. Allmählich konnte er nicht mehr erwarten, dass sie Morgen endlich wieder abreisen würden. Das Wochenende war im unendlich lange vorgekommen.
Mafuyu registrierte wie geknickt er war. „Tut mir leid, dass ich euch vorhin gestört habe."
„Schon okay." Toru zuckte mit den Schultern. „Wenn wir ehrlich sind, hätte sich ohnehin nichts verändert. Hätte sie es wollen, wäre es schon lange passiert."
„Du bist ihr nicht egal."
„Aber auch nicht wichtig genug."
„Ich kann dazu nichts sagen", erwiderte Mafuyu.
Toru seufzte. „Keine Sorge, ich frage dazu auch nichts. Du bist ihre beste Freundin, nicht meine."
Der Abend endete schließlich ganz grandios damit, dass Mikiko ihren Brautstrauß für alle Gäste warf und er zynischerweise unter dem lauten Jubel ihrer Freunde auch noch zielsicher in Hoshinos Armen landete. Bei seinem verlegenen, fast aufgeregten Gesicht Richtung Saori, die von der ganzen Situation überfordert schien, hätte sich Toru am liebsten übergeben.
Und wie bereit er dafür war endlich nach Hause zu fahren.
Fortsetzung folgt …
