Kapitel 3 - Sehnsucht

Wenige Tagen waren seit dem Hochzeitswochenende vergangen und der Arbeitsalltag hatte alle wieder zurück. Saori verbrachte gerade die Mittagspause zusammen mit Hoshino, Yagami und Kaito in Gendas Kanzlei und schob sich ihr letztes Stück Sushi in den Mund, als ein Klingelton ihr angeregtes Gespräch unterbrach.

Kaito brummte mit vollem Mund „Wer stört beim Essen?" und wollte den Störenfried auf seinem Telefon wegdrücken, doch mit einem Blick auf das Display entschied er sich doch dafür ranzugehen. „Higashi, ich esse!", beschwerte sich Kaito zur Begrüßung.

Saoris Herz machte einen Sprung und ihr Puls beschleunigte sich augenblicklich. Vor ihrem inneren Auge stand sie wieder mit Higashi auf dem Balkon in Okinawa und tanzte. Inzwischen kam es ihr so surreal vor, als wäre alles es ein Traum gewesen.

Liebst du mich?"

Ja."

„Krankenhaus?", hört sie plötzlich Kaito sagen. Saori wurde unsanft aus ihrem Tagtraum zurück in die Realität gerissen und sie horchte auf. Kaito sah blasser aus. „Natürlich, ich komme sofort."

Er legte auf. „Higashi hatte einen Unfall. Ich muss ihn aus dem Krankenhaus abholen."

Saori stand sofort auf. Zu schnell, zu energisch, zu auffällig. Alle Augenpaare waren verwirrt auf sie gerichtet. Sie verfluchte sich dafür sich nicht besser unter Kontrolle gehabt zu haben.

„Ich begleite dich. Vielleicht ein Fall fürs Zivilrecht. Es wäre gut, wenn seine Anwältin da wäre", erklärte sie schnell. Was für eine lächerliche Ausrede es doch war, aber alle schluckten es – zumindest kommentierte niemand ihr Verhalten.

„Dann mal los, Frau Anwältin", seufzte Kaito und warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf sein noch übrigens Bento.

Kurze Zeit später saß Saori mit ihm im Taxi auf dem Weg ins Krankenhaus. Sie wippte unruhig mit dem Fuß und drehte innerlich durch, während sich der Fahrer fast quälend langsam durch den belebten Tokioter Stadtverkehr kämpfte.

„Higashi selbst hat angerufen. Er liegt nicht im Sterben."

Kaito war ihre Anspannung wohl nicht entgangen. Er warf ihr einen besorgten Seitenblick zu. Saori fühlte sich ertappt.

„Für mich musst du diese Scharade nicht aufrecht halten. Ich weiß was vorgefallen ist", fügte er anschließend hinzu.

Natürlich hatte ihm Higashi alles erzählt. Saori hätte sich darüber ärgern müssen, fühlte sich aber sogar erleichtert ihm nichts vorspielen zu müssen. Sie hielt bereits so lang dieses Theater aufrecht, dass sie allmählich das Gefühl bekam sich selbst zu verlieren.

„Er leidet, weißt du?", fuhr Kaito fort. „Und ich bin mir sicher, dass Hoshino auch mitbekommen hat, dass etwas nicht stimmt. Wenn ich ehrlich bin, hast sogar du schon mal glücklicher ausgesehen. Vielleicht wäre es endlich an der Zeit eine Entscheidung zu treffen."

Saori blieb weiterhin stumm. Sie war schon lange nicht mehr hin- und hergerissen. Eigentlich seit der gemeinsamen Nacht mit Higashi auch nie gewesen, aber sie hatte gehofft der Abstand könnte ihre überraschenden Gefühle im Keim ersticken. Es würde Hoshino den Boden unter den Füßen wegziehen und zu allem Überfluss waren sie beide in der gleichen Kanzlei beschäftigt. Sie drückte sich davor die Verantwortung für all das zu tragen, wohl wissend, dass es beiden gegenüber nicht fair war.

„Aber geht mich auch alles nichts an", seufzte Kaito, nachdem Saori weiterhin hartnäckig geschwiegen hatte.

Sie hatte nicht gewusst, wie sie ihm hätte all das erklären können und versank stattdessen tiefer im Autositz, als würde sie dadurch ganz verschwinden können.

Im Krankenhaus angekommen dauerte es nicht lange, ehe sie Higashi in der Notaufnahme gefunden hatten. Ein Pfleger führte die beiden in den Wartebereich, wo er bereits geduldig mit einer Schürfwunde im Gesicht und Schiene am Bein wartete. Er sah verdutzt aus, als er Saori entdeckte, die mit aufgewühlter Miene und schnellen Schritten auf ihn zukam, vor ihm stehen blieb und einen leichten Klaps auf seinem Oberarm austeilte.

„Bitte hören Sie auf meine Patienten zu schlagen", rief der Pfleger aufgebracht hinter ihr.

Saori ignorierte ihn. Sie holte tief Luft, um das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen. „Mach mir nie wieder solche Angst, hörst du?", verlangte sie von Higashi und fiel ihm dann um den Hals. Etwas unbeholfen und offensichtlich mit der Situation überfordert tätschelte er ihr vorsichtig den Rücken.

„Vielleicht solltest du dich öfter von einem Auto anfahren lassen, damit dir die Frauen verfallen", spöttelte Kaito hinter Saori liebevoll.

Saori blinzelte sich schnell die Tränen aus den Augenwinkeln, während sie sich von Higashi wieder löste und trat wieder in den Hintergrund. Sie vermied seinen Blick, spürte jedoch, wie er sie nicht aus den Augen ließ. Die ganze Zeit war ihr bewusst gewesen was für eine dumme Idee es überhaupt von ihr gewesen war mitzukommen. Ihre sehr offensichtliche, vielleicht auch etwas übertriebene Sorge war ihr nun unangenehm.

Kaito klopfte Higashi auf die Schulter. „Gut, dass dir nichts Schlimmes passiert ist."

„Ich wäre schon längst wieder auf dem Weg nach Hause", brummte Higashi und darf einen finsteren Blick auf den Pfleger, der noch immer Saori einen wachsamen Blick zuwarf, als konnte sie jederzeit wieder auf Higashi losgehen. Higashi griff nach den Krücken neben sich und hievte sich mit diesen auf die Beine. „Man wollte mich aber nicht ohne Babysitter gehen lassen."

„Sehr vernünftig", lachte Kaito. „Dann wollen wir dich mal nach Hause bringen, kleiner Toru."


Es war bereits später Nachmittag, als Saori zurück in die Kanzlei kam. Die tiefstehende Herbstsonne durchflutete den Raum und füllte ihn mit einer angenehmen Wärme. Hoshino war noch da. Da Genda frei hatte, waren sie alleine im Büro. Er hob den Kopf, als sie hereinkam. Eigentlich schenkte er ihr zur Begrüßung immer ein breites Lächeln, doch dieses Mal blieb sein Gesichtsausdruck neutral. Für seine Verhältnisse sogar relativ kühl. Saori wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Unschlüssig verharrte sie im Raum. Fühlte sich ertappt. War ihre Aktion heute Mittag doch eine Spur zu auffällig gewesen?

„Geht es Higashi gut?", fragte er neugierig.

Saori wurde flau im Magen und ein Schauer überkam sie. Ja, war sie.

Hoshino stand auf. Er setzte sich in die Sitzecke im Eingangsbereich der Kanzlei und ließ sie dabei nicht aus den Augen.

„Er hat sich das Bein gebrochen", antwortete Saori.

Er nickte. Man sah ihm an, dass ihn diese Information eigentlich wenig interessierte. Saori schlug das Herz bis zum Hals. Sie hatte sich im vergangenen Monat oft vorgestellt ihm die Wahrheit zu sagen, allerdings niemals so. Es war, als wäre er ihr bereits einen Schritt voraus und plötzlich bereute sie ihr hartnäckiges Schweigen.

„Wir müssen reden", sagte er schließlich ernst.

So ruhig wie möglich setzte sich Saori ihm gegenüber, während sie sich fieberhaft fragte, wie viel er wusste oder, ob er nur etwas ahnte.

„Ich habe schon länger das Gefühl, dass du dich mit mir nicht mehr wohl fühlst", begann Hoshino und sein Gesichtsausdruck wurde traurig. „Bist du noch glücklich?"

Nein.

Saori hatte es so gerne ausgesprochen, doch sie bekam das Wort nicht über die Lippen. Hoshino genügte aber auch ihr Schweigen als Antwort. Er sah verletzt aus.

„Du redest so wenig darüber was in deinem Kopf vorgeht. Ich war in letzter Zeit ständig verunsichert und wusste nicht woran ich bei dir bin. Dauernd habe ich mich gefragt was ich falsch mache und was zwischen uns passiert ist", sagte er vorwurfsvoll.

Saori ertrug es zurecht. In allem was er sagte hatte er einen Punkt und sie konnte ihm nicht widersprechen. Geknickt schaffte sie es nicht mehr seinem Blick standzuhalten und starrte auf ihre Hände, die sich schmerzhaft in ihrem Schoß verkrampften.

„Ich habe es mir nicht erklären können", fuhr er fort und klang plötzlich verbittert. „Nicht, bis zum Wochenende in Okinawa."

Ihr wurde schlecht. Er wusste tatsächlich alles. So hätte es wirklich nicht laufen dürfen.

„Ich habe euren Streit gehört, weißt du? Du hast mit ihm geschlafen!"

Saori zuckte zusammen, als er das letzte Wort förmlich ausspuckte. Verzweifelt sah sie ihn an. Sie konnte nicht fassen, dass er alles gewusst und es dennoch geschafft hatte sie weiterhin anzulächeln und zu schweigen. „Es tut mir so leid", presste sie hervor.

„Erst dachte ich, es wäre ein schlechter Scherz, aber dann habe ich alles begriffen. Warum ich dich seit Wochen nicht mal mehr anfassen darf! Ich habe zum ersten Mal bewusst gesehen wie du ihn ansiehst. So hast du mich noch nie angesehen. Ich bin so dumm gewesen. Irgendwie dachte ich bis heute, dass wir es vielleicht trotzdem schaffen könnten." Hoshino versuchte sich an einem kleinen Lächeln, aber er scheiterte kläglich. Tränen begannen ihm über die Wangen zu laufen. „Was hat er was ich nicht habe? Warum liebst du mich nicht?"

Ihn weinen zu sehen brach Saori das Herz. Sie spürte, wie sie ihre Tränen ebenfalls nicht mehr zurückhalten konnte. Ihr wurde schmerzhaft bewusst, dass sie ihn nur benutzt hatte. Seine entschlossene und unerschütterliche Zuneigung zu ihr hatte ihr imponiert und sie hatte sich einfach mitreißen lassen, aber nie aus voller Überzeugung sagen können, dass sie ähnlich tiefe Gefühle hegte und es über Freundschaft hinausging. Ihr ganzes Leben lang war sie schon immer sehr einsam gewesen und er war plötzlich aufgetaucht und hatte ihr die Hand gereicht. Er hatte es verdient, dass sie seine Gefühle erwiderte – so viel Gutes hatte er verdient, aber nicht das.

„Ich weiß es nicht", gab sie ehrlich zu. Saori wusste es wirklich nicht. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als ihn aufrichtig lieben zu können und, dass die Beziehung zwischen ihnen funktioniert hätte.

Hoshino brach mit ihrer Antwort endgültig in sich zusammen. Mit bebenden Schultern vergrub er den Kopf in den Händen und weinte bitterlich. Saori hätte ihn so gerne in den Arm genommen, aber sie hatte das Gefühl, dass sie die letzte Person war, von der er Trost brauchte. Also verharrte sie starr in ihrem Sessel und weinte mit ihm mit, während die Septembersonne versuchte beide mit ihren warmen Strahlen zu trösten.


Saori hatte fristlos gekündigt und bereits am nächsten Tag ihren Schreibtisch geräumt. Genda war geschockt gewesen. Sie hatte nicht erzählt was vorgefallen war, aber er hatte es sich wahrscheinlich denken können. Für sie war es nur die logische Konsequenz, dass sie sich aufgrund der Geschehnisse eine neue Arbeitsstelle suchte – wenn sie dann die mentalen Kapazitäten dafür hatte. Aktuell trauerte sie noch zu sehr um Hoshinos Verlust in ihrem Leben und auch um ihren Arbeitsplatz, den sie so sehr geliebt hatte. Sie vermisste Hoshino als Freund und bereute sehr, dass sie sich damals so gedankenlos auf diese Beziehung eingelassen hatte. Hätte sie es nicht getan, hätte sie nun nicht beides verloren.

Eines Abends, als ihr Selbstmitleid mal wieder auf dem Höhepunkt gewesen war, klingelte es an Saoris Wohnungstür und weckte diese unsanft aus ihrem Nickerchen auf der Couch. Saori brummte und hätte es am liebsten ignoriert, aber das Klingeln blieb hartnäckig und sie wusste genau zu wem es gehörte. Genervt stampfte sie zur Tür und öffnete.

„Du siehst schrecklich aus!", begrüßte Mafuyu sie unverblümt.

Saori musste Mafuyu Recht geben. Immerhin hatte sie es geschafft zu duschen, allerdings waren die graue Jogginghose und das rote Sweatshirt bereits die ganze Woche treue Begleiter. Wie so oft war ihr ihre Optik aber auch heute ziemlich egal.

„Ich habe geschlafen", erklärte Saori knapp.

Mafuyu ging unbekümmert an ihr vorbei in ihre Wohnung und hob demonstrativ die Papiertüte in ihrer Hand in die Höhe. „Ich habe etwas zu Essen mitgebracht. Du bist dünn geworden."

„Danke, aber ich habe keinen Hunger", erwiderte Saori. Sie ließ sich wieder auf die Couch fallen und kuschelte sich unter die Decke. Mittlerweile war es Oktober geworden und heute regnete es in Strömen. Das perfekte Wetter für einen Tag an dem man leiden wollte.

„Es ist Curry und dein Lieblingskuchen. Du wirst es bereuen", versuchte es Mafuyu weiter, doch Saori zeigte sich nach wie vor unbeeindruckt – genauso wie Mafuyu. Sie bediente sich in ihrer Küche und kam kurze Zeit später mit zwei dampfenden Schüsseln voller Curry zu ihr. Saori schaffte es gerade noch rechtzeitig ihre Füße einzuziehen, ehe sich Mafuyu gnadenlos in die Polster plumpsen ließ.

„Wie lange soll das jetzt noch so weitergehen? Es ist zwei Wochen her. Es wäre zumindest gut, wenn du dich nach einer neuen Stelle umsehen würdest."

Natürlich hatte Mafuyu wieder einmal Recht. Ihr Leid so demonstrativ auszuleben war eigentlich auch so gar nicht Saoris Art und ihr Erspartes würde nicht ewig reichen, aber all die Rückschläge auf einmal waren selbst für sie zu viel.

„Vielleicht suche ich ab Morgen", erwiderte Saori, klang dabei aber wenig motiviert.

„Das hast du letzte Woche bereits gesagt."

„Vielleicht werde ich es nächste Woche auch noch sagen", brummte sie herausfordernd.

Mafuyu schnalzte verärgert mit der Zunge. Sie drückte ihr Stäbchen und die Schüssel Curry in die Hand. „Dann iss wenigstens."

„Ja, Mama." Ergeben begann Saori sich lustlos den Reis in kleinen Häppchen in den Mund zu schieben und Mafuyu tat es ihr gleich.

„Ich nehme an, dass du dich noch nicht bei Higashi gemeldet hast?", fragte sie schließlich irgendwann vorsichtig.

Saori wurde das Herz schwer. Bereits vor ihrer Trennung hatte sie so oft vor ihrem Smartphone gesessen und eine Nachricht an ihn begonnen, aber jedes Mal fehlte der letzte Funke Mut sie auch abzuschicken.

„Was soll ich ihm denn sagen? Hätte es Hoshino nicht herausgefunden, wären wir wahrscheinlich immer noch zusammen. Ich will nicht, dass er denkt, dass ich mich mit ihm tröste. Und was soll Hoshino denken, wenn er das dann mit Higashi erfährt?"

Saori fühlte sich in einer Zwickmühle. Sofern Higashi überhaupt noch Interesse an ihr hatte, wollte Saori Hoshino nicht das Gefühl vermitteln, dass sie ohne ihn endlich frei und glücklich sein konnte – selbst wenn es tatsächlich so wäre. Es kam ihr schäbig vor.

„Hör zu, irgendwann wird Higashi wahrscheinlich über dich hinwegkommen und dich nicht mehr von der Ferne aus anhimmeln. Es könnte eine andere geben, willst du das?"

Saori wurde schlecht. Der Gedanke an eine andere Frau in seinem Leben tat verdammt weh, aber sie wollte Mafuyu nicht schon wieder Recht geben müssen.

„Bist du mit Yagami nicht in der gleichen Situation?", versuchte sie ihr auszuweichen und das Thema zu wechseln.

Mafuyu seufzte und wurde traurig. Plötzlich tat es Saori leid, dass sie das überhaupt angesprochen hatte. Eigentlich hätte sie es besser wissen müssen, aber es gehörte wohl zu ihren neuen Hobbies auf den Herzen ihrer Mitmenschen herumzutrampeln.

„Das ist viel komplizierter. Es ist so viel passiert", sagte Mafuyu.

Saori tat zwar immer genervt, aber insgeheim war sie Mafuyu für ihre fast täglichen Besuche seit der Trennung dankbar. Es tat gut zu sprechen. Wenn auch sehr langsam, fühlte es sich nach Heilung an. Schließlich tat sie etwas für sie sehr Ungewöhnliches. Sie stellte ihre Schüssel beiseite und zog Mafuyu in ihre Arme.

„Mein Essen!", quiekte diese dabei erschrocken und hätte fast alles über Saoris Couch verteilt.

„Danke, dass es dich gibt", murmelte Saori. „Wirklich."


Toru fluchte, als ihm der volle Ordner aus der Hand glitt und unter lautem Krachen auf dem Boden aufschlug. Er sprang auf und vereinzelt flogen Blätter heraus. Mit Mühe und Not schaffte er es mit seinem geschienten Bein auf die Knie zu gehen. Im selben Moment wurde die Tür geöffnet, er verlor das Gleichgewicht und landete auf seinem Hintern.

„Dich kann man wirklich keine Minute aus den Augen lassen", hörte er Kaitos Stimme hinter sich sagen. Kaito half ihm wieder auf die Beine und hob den Ordner auf. „Wollen wir was trinken gehen?", fragte er.

„Eigentlich muss ich mich um die Buchhaltung kümmern", seufzte Toru frustriert.

„Komm schon. Das läuft dir nicht davon."

Er gab sich geschlagen und die beiden verließen das Charles auf dem Weg Richtung Bantam. In letzter Zeit entwickelte sich das Irish Pub zu ihrer neuen Stammbar, da es immer recht belebt war, sodass man selten auf neugierige Ohren stieß. Noch immer hatte Toru seine liebe Mühe damit Mari auf Abstand zu halten, wobei ihm auch schon manchmal verbittert der Gedanke gekommen war es einfach zuzulassen und das Warten endlich aufzugeben.

Toru war erleichtert, als sie endlich dem kalten Regen entkamen und sie die kuschlige Wärme des Pubs umfing. Er sah sich mit Kaito nach einem freien Platz um, als er plötzlich zwei bekannte Gesichter unter den Gästen entdeckte. Saori und Mafuyu registrierten die beiden in gleichen Moment, in dem Toru Kaitos Ärmel packen und ihn wieder aus dem Pub ziehen wollte. Kaito grinste die beiden an, schritt unbeirrt an ihren Tisch und setzte sich neben Mafuyu. Diese erwiderte sein Lächeln, doch Saori war kreidebleich und sah aus als hätte man ihr gerade ins Glas gespuckt. Er konnte es ihr nicht verübeln. Über Kaito hatte er mitbekommen, dass Hoshino sich von ihr getrennt hatte und er wusste auch, dass es ihr aktuell überhaupt nicht gut ging. Toru konnte nicht umhin anzunehmen, dass er etwas mit ihrem Leid zu tun hatte und sie wollte aktuell sicher nicht der Ursache dafür über den Weg laufen.

Zögerlich hüpfte Toru auf seinen Krücken ebenfalls an ihren Tisch und setzte sich auf den freien Platz neben Saori. Sein Herz raste. Er fühlte sich alles andere als wohl. Wäre er doch nur bei seiner Buchhaltung geblieben. Irgendwie beschlich ihn der Verdacht, dass Kaito ihn ordentlich übers Ohr gehauen hatte.

„Wie geht es deinem Bein?", fragte Saori ihn und strich sich eine Strähne ihres Ponys aus dem Gesicht.

Interessiert sah sie ihn an, doch er konnte die Distanz zwischen ihnen spüren. Es bereitete ihm fast körperliche Schmerzen sie so nah bei sich zu haben, aber vor allem sie so geknickt zu sehen. Unter ihren Augen lagen leichte Schatten der Erschöpfung.

„Es ist nervig, aber ich komme gut klar", erwiderte Toru. Gerne hätte er sie auch gefragt wie es ihr ging, aber er wollte keine überflüssigen Fragen stellen, deren Antworten sehr offensichtlich waren.

Es wurde unangenehm still zwischen ihnen, während sich Kaito und Mafuyu angeregt über die Musik unterhielten. Die beiden waren es Teufels, dachte Toru bitter.

„Ich will nur, dass du weißt, dass ich davon nichts wusste."

Irritiert sah Saori ihn an.

„Dass ihr hier sein würdet, meine ich. Wenn, dann ist das alles auf Kaitos Mist gewachsen."

„Ich nehme an, dass Mafuyu auch nicht ganz unschuldig daran ist. Sie war heute ziemlich hartnäckig." Saori wich seinem Blick wieder aus und wirkte kurz, als wäre sie mit den Gedanken ganz weit weg. „Ich denke, ich will nach Hause gehen. Begleitest du mich vielleicht ein Stück? Natürlich nur, wenn das mit deinem Bein überhaupt geht."

Er hatte mit vielem gerechnet, aber eher mit Saoris kalter Schulter, als mit dieser Bitte. „Klar", erwiderte er verdutzt.

Hastig stand er auf und stützte sich wieder auf seine Krücken. Saori warf sich ihren dünnen Mantel über und die beiden verabschiedeten sich von Kaito und Mafuyu. Sie spannte ihren Regenschirm auf, nachdem sie das Pub verlassen hatten. Zusammen drängten sie sich darunter und schlenderten ziellos dicht and dicht die belebte Straße entlang.

„In deinem Zustand müsste ich eigentlich dich heute nach Hause begleiten."

Saori hatte einen Scherz machen wollen, doch Toru blieb ernst und schenkte ihr lediglich einen langen Blick. Die Sehnsucht nach ihr war so groß, dass er sich nichts anderes wünschen konnte. Es war riskant, es war verwegen, aber es konnte auch nicht ewig so weitergehen. Sein Puls beschleunigte sich. Er setzte alles auf eine Karte.

„Begleitest du mich denn?", fragte er.

Sie blieb stehen. Ihre Blicke trafen sich. Sie wirkte überrumpelt. Es war ihr anzusehen, dass es in ihr arbeitete und er fragte sich kurz, ob er zu weit gegangen war. Zu seiner Überraschung nickte sie plötzlich. Torus Brust fühlte sich an als würde sie gleich zerspringen.

Den ganzen Weg zum Charles zurück herrschte eine angespannte Stille zwischen ihnen, die niemand zu unterbrechen wagte. Toru bezog über seiner Spielhalle ein kleines Apartment. Es war nicht groß, aber da er ohnehin selten Zuhause war, reichte es für seine Bedürfnisse. Er war erleichtert, dass er heute erst etwas aufgeräumt hatte. So konnte er nun ohne schlechtes Gefühl die Tür zu seiner Wohnung aufsperren und Saori seine vier Wände zeigen.

Nachdem sie Schuhe ausgezogen und die Jacken abgelegt hatten, warf sie einen kurzen Blick über Küche, die Couch, Fernseher und zum Raumtrenner, hinter dem sich das Bett und ein Kleiderschrank befand, ehe sie an seiner kleinen Pflanzenecke im Wohnbereich innehielt.

„Du hast einen grünen Daumen?", fragte sie anerkennend.

„Ich will mich nicht zu sehr loben, aber Pflanzen wachsen bei mir ganz gut", erwiderte Toru.

Saori ging zu seinem Bücherregal und betrachtete neugierig die Titel darin. Sie lächelte, als sie ihn wieder ansah. „Man erfährt wirklich ständig neues über dich. Was verbirgst du sonst noch?"

Toru erwiderte ihr Lächeln. „Ich bin ein ganz passabler Koch."

„Gibt es auch Dinge, die du nicht kannst?"

Dich vergessen.

„Ich mache hier doch keine schlechte Werbung für mich", scherzte er.

„Ich würde lieber gleich gestehen. Ich finde alles heraus."

„Ganz die Anwältin, was?"

Der neckische Ausdruck in ihrem Gesicht verschwand. Sie wurde wieder ernster und Toru ärgerte sich über sein Fettnäpfchen.

„Tut mir leid, das war gedankenlos von mir."

Tapfer sah sie ihn an. „Überhaupt nicht. Ich bin aktuell wohl einfach etwas durch den Wind und reagiere zu empfindlich."

„Kann ich dir etwas zu trinken anbieten? Du hast immer noch nicht meinen tollen Tee probiert!"

Saori quittierte seinen Themenwechsel mit einem dankbaren Lächeln. „Dazu kann ich wohl nicht Nein sagen."

Sie setzte sich auf seine Couch, während Toru begann in der Küche alles für den Tee vorzubereiten. Er spürte, wie ihr Blick abwechselnd durch die Wohnung und wieder zu ihm flog, als würde sie ihn studieren wollen. Es wäre eine Lüge zu sagen, dass ihn das nicht nervös machte. Da Toru aktuell nicht gut zu Fuß war übernahm Saori das Tragen der dampfenden Tassen. Sie stellte sie auf dem Kaffeetisch ab und zusammen ließen sich die beide auf seine Couch fallen.

Toru liebte ihren Anblick im Pullover auf seiner Couch. Sie sah zufrieden aus und schien sich offensichtlich wohl zu fühlen. Es wirkte, als würde sie hierhergehören. Zu ihm. Ein Glücksgefühl machte sich in seiner Brust breit. Die ganze Zeit hatte er mit sich gerungen sie auf ihre Trennung anzusprechen, aber es hing wie ein Damoklesschwert über ihnen und war der unvermeidbare Elefant im Raum. Er musste den Grund des Augenblicks nutzen, selbst wenn es wieder für schlechte Stimmung sorgen würde. Es war zu quälend.

„Eigentlich habe ich bis heute gedacht, dass du mich wegen eurer Trennung hassen würdest", gestand er ihr vorsichtig, woraufhin sie ihn verwundert ansah.

„Wie kommst du darauf?"

„Wenn ich nicht gewesen wäre-"

„Nein", unterbrach Saori ihn schnell. „Also klar, es war wohl nicht die beste Idee mit dir zu schlafen-"

Autsch.

„-aber wahrscheinlich wäre es irgendwann sowieso passiert." Sie wurde still und senkte kurz den Blick, ehe sie ihm wieder in die Augen sah. „Ich habe ihn nicht geliebt."

Toru schwieg, während ihre letzten Worte bedeutungsschwanger in der Luft hingen. Eigentlich war es ein Grund zur Freude das zu hören, allerdings war es nicht gleichbedeutend damit, dass sie Gefühle für ihn hegte. Er dachte daran zurück wie er sie nach ihren Gefühlen gefragt hatte, an Mafuyus perfektes Timing und die Tatsache, dass sie sich trotz der Trennung nicht bei ihm gemeldet hatte.

„Aber dir geht es nicht gut", stellte er fest.

„Er fehlt mir, ja", gestand sie. „Ich vermisse meine Arbeit. Und-" Saori brach wieder ab. Sie schien erneut nach Worten zu suchen, wirkte unsicher. „ich bin traurig wegen dir."

„Wegen mir?", wiederholte Toru verwirrt.

„Ich hätte nicht nur zu ihm ehrlich sein müssen, sondern auch zu dir."

„Heißt das, wenn ich dir jetzt wieder diese Frage stellen würde, würdest du sie mir ehrlich beantworten?", fragte er fast atemlos.

„Das heißt, dass ich dich liebe. Schon die ganze Zeit." Ihr Geständnis war nur ein leises Flüstern gewesen und die anschließende Luft war zum Zerreißen gespannt. Es war ihr anzusehen wie viel Mühe es sie kostete seinem Blick standzuhalten. „Ich habe sowas noch nie zu jemandem gesagt."

Toru reagierte, ehe die Bedeutung ihrer Worte überhaupt richtig zu ihm durchgedrungen war. Endlich brach die unsichtbare Barriere zwischen ihnen. Er beugte sich über die Couch hinweg und küsste sie, spürte erst ihre Überraschung, aber dann öffneten sich ihre Lippen. Fast zwei Monate lang quälende Sehnsucht nach Saori hatte sich ihn ihm aufgestaut. Es kostete ihn Mühe sich zurückzuhalten, nicht hungriger zu werden und seine Hände bei sich zu behalten. Atemlos trennten sie sich wieder, doch ihre Gesichter verharrten nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.

„Bleib bei mir", bat Toru mit rauer Stimme und sah sie erwartungsvoll an.

Saori setzte sich auf seinen Schoß. Sie zog sich das Sweatshirt über den Kopf und strich sanft mit dem Daumen über seinen Mund.

„Ich könnte Bambi niemals eine Bitte ausschlagen", sagte sie und küsste ihn wieder.

Sie blieb.

Nicht nur für diese Nacht – für immer.


Ende