3. Der Mann im Regen

„Freddie Faulig?", rief Stephanie völlig überrascht.
Darauf wusste Freddie vorerst nichts zu antworten, weil er sich immer noch die Beule am Kopf rieb. Ein wenig zittrig hockte er in einer Schlammpfütze.
Hastig legte Stephanie den Schläger beiseite. „Oh! Freddie. Hab ich dir wehgetan?"
„Haust du jeden eins über die Rübe?", beschwerte sich der Bösewicht.
„Woher hätte ich denn ahnen sollen, dass du es bist?", verteidigte sich das Mädchen. „Und überhaupt, wieso schleichst du nachts heimlich hier herum?"
„Ich will doch nur schlafen!", rief Freddie mit weinerlicher Stimme. „Warum kann das denn hier keiner verstehen?!"
Stephanie verschränkte die Arme und sah ihn streng an. „Du hattest also nicht wieder irgendetwas vor?"
Freddie war zu müde, um eine Diskussion anzufangen, außerdem klebte die Kleidung jetzt unangenehm auf seiner Haut und seine Schuhe waren gefüllt mit Matsch. Grummelnd und schimpfend angelte er nach seinem Kissen, dass er beim Sturz verloren hatte. Doch kaum stand er auf den Füßen, rutschte er erneut aus.
Das Mädchen sah ihn fragend an. „Kann ich dir irgendwie helfen?"
„Ach, halt du doch den Mund!", schimpfte Freddie und versuchte von neuem sich zu erheben, was bei dem ganzen glitschigen Rasen nicht so einfach war. Im nächsten Moment erhellte ein Blitz den Himmel, dicht gefolgt von einem lauten Donner. Der Mann sprang auf und flüchtete durch den Garten, doch dadurch wurde der Boden auch nicht begehbarer und Freddie landete mit einem Schlittern vor dem bepflasterten Gartenweg.
Schmunzelnd schüttelte Stephanie den Kopf. „Komm rein, Freddie."
Freddie hob verwirrt den Kopf, da er meinte sich verhört zu haben. „Was?"
Doch Stephanie war schon an der Haustür und öffnete sie. „Ich sagte, komm rein", wiederholte sie und winkte ihn zu sich ins Haus. „Du bist ja ganz nass. Willst du dich erkälten?"
Der Bösewicht verlagerte seine Beine im Schneidersitz und verschränkte bockig die Arme. „Ach nö, bleib weg, lass mich allein!"
Das Mädchen zuckte die Achseln und tat so als würde sie wieder die Türe zu machen. „Wie du willst. Dann pass aber auf, dass dich kein Blitz trifft."
Dieser Satz löste in Freddie eine Reaktion aus. Schnell sprang er auf, soweit ihm das bei seinen matschbesetzten Schuhen möglich war, und ging mit strammen, steifen Schritten zur Haustür. Dort blieb er triefendnass auf der Fußmatte stehen und schaute verwirrt auf das pinkfarbene Mädchen herab, dass die Tür wieder vollständig geöffnet hatte.
„Hältst du das wirklich für klug?", fragte er vorsichtig.
Stephanie sah ihn verwundert an. „Wieso?"
Freddie geriet etwas ins Stottern. „Na, du und ich … alleine … in einem Haus … alleine …"
Er war zwar kein Wildfremder für sie, war jedoch streng genommen ein Krimineller, wenn auch ein recht unbedeutend, eher harmloser. Oder halb-harmloserer. Zumindest war er keiner von der düsteren Sorte, jedoch war er ein er und sie eine sie …
Doch Stephanie lächelte ihn nur an. „Einen Freund lässt man doch nicht im Regen stehen."
„Freund?" Diese Bezeichnung verwirrte den Bösewicht für einen Moment.
„Na gut", korrigierte sie. „Kein enger Freund, aber ein Freund. Nun kommt schon rein."
Sie nahm in an der Hand und zog ihn in den Flur. Stephanie wusste später selber nicht, weshalb sie so sehr darauf bestand ihn hereinzubitten. Vielleicht war die Vorstellung danach wieder alleine im Haus zu hocken weitaus schlimmer. Besonders wenn noch zusätzlich draußen ein Gewitter tobte. Rein theoretisch hätte sie auch zu ihren Freunden gehen können. Doch ihnen gegenüber einzugestehen, dass sie sich alleine etwas fürchtete, hätte vielleicht nur für Lacher gesorgt.
„Äh, zieh deine Schuhe aus", meinte sie mit einem Blick auf die Fußabdrückte die Freddie hinterließ.
Grummelnd streifte Freddie sich die Schuhe ab, die ebenfalls voller Schlamm waren. Stephanie nahm sie ihm schnell ab und stellte sich neben die Haustür auf ein Tuch, damit nicht noch mehr schmutzig wurde.
Ratlos blieb Freddie nahe der Küche stehen und fragte sich, was er jetzt machen sollte. Er kam sich ziemlich unbeholfen vor.
Schließlich war es Stephanie, die sagte, was am besten als nächstes zu tun wäre. Sie legte die Stirn in Falten und sah Freddie nachdenklich an. „Besser du ziehst deine Sachen aus. Die sind ja voller Matsch."
„Hä?!" Freddie sah sie entsetzt an.
„Natürlich nicht hier", beruhigte sie ihn. „Im Bad."
„Und was soll ich danach anziehen?", fragte Freddie forschend. „Ich habe keine Ersatzkleidung in den Taschen."
Das Mädchen überlegte. „Mm, du könntest ein paar trockene Sachen von meinem Onkel ausleihen. Er ist eh nicht zuhause."
Der Mann machte große Augen. „Du verlangst allen Ernstes von mir, dass ich die Sachen vom Bürgermeister anziehe?"
„Hast du einen besseren Vorschlag?", fragte sie genervt. „Es sei denn, du willst die nassen Klamotten anlassen."
Seufzend gab Freddie sich geschlagen. „Und wo soll ich hin?"
„Ich zeig's dir."
Sie führte ihn zum Badezimmer, wo sie ihn anwies kurz auf sie zu warten. Anschließend eilte sie in das Zimmer von ihrem Onkel und holte ein paar Sachen heraus, wobei sie besonders darauf achtete nur Sachen herauszusuchen, die ihr Onkel so gut wie nie anzog. Als sie zum Bad zurückkehrte, stand Freddie immer noch an derselben Stelle.
„So hier, das kannst du anziehen." Mit diesen Worten drückte sie ihm die Anziehsahen von ihrem Onkel in die Hände. Freddie sah sie noch einen Moment verdattert an, dann verschwand er hastig im Badezimmer.

Stephanie musste nicht lange warten. Innerhalb kürzester Zeit, hatte Freddie sich umgezogen und kam wieder aus dem Bad heraus.
„Ich frag mich, ob das eine so gute Idee war, PinikiGir—" Freddie brach ab als seine zu breite Hose drohte herunterzurutschen. Onkel Meinhard war um einiges … vollschlanker als er, weshalb ihm die ausgeliehene Kleidung an seinem dünneren Körper herunterschlotterte. Neben der Hose trug er zusätzlich noch einen karierten Pullover, der auch nicht gerade von der Breite besser passte.
Stephanie kicherte, was Freddie gar nicht komisch fand. „Wenn du dir nicht was Besseres einfallen lässt", zischte er, „dann schließe ich mich im Bad ein!"
Das Mädchen räusperte sich entschuldigend. „Okay, keine Sorge. Hier, ich hab noch einen Gürtel dazu. Dann kann gar nichts mehr passieren."
Freddie kam sich danach zwar immer noch blöd vor. Selbst seine Verkleidungen sahen um einiges besser aus, als diese unattraktiven Klamotten, aber es hielt ihn wenigstens warm und trocken.
„So, und was jetzt?", fragte er nach einer Phase des Schweigens.
Stephanie sah sich um. „Willst du dich nicht setzen? Deinen Anzug stecke ich in die Maschine."
Freddie verzog kurz den Mund, dann nickte er ergeben „Na schön, aber nicht zu heiß waschen. Sonst passe ich da nicht mehr rein."
„Keine Sorge", beruhigte sie ihn, während sie ins Bad ging und seinen Anzug hervorholte. „Das ist nicht die erste Wäsche, die ich wasche. Kannst dich ja solange ins Wohnzimmer setzen."
Freddie sah sie einen Moment sprachlos an. Jetzt wusch das Mädel auch noch seine Wäsche. Grund sich zu beschweren hatte er zwar nicht, aber irgendwie war es ihm unangenehm, dass sie so … so wahnsinnig nett zu ihm war.
Da er vermeiden wollte, dass sie ihn noch irgendetwas fragte, verschwand er schnell ins Wohnzimmer.
Mit verschränkten Armen sah er sich um. „Nette Hütte", meinte er etwas eifersüchtig. Gegen die Einrichtung von seinem Zuhause hatte er zwar nichts, dennoch überlegte er in diesem Moment mal seinem Zimmer einen neuen Anstrich zu verpassen. Die hellen Farben der Wände und der Möbel vermittelten ein gemütliches Gefühl.
Sein Blick fiel auf einen Sessel. Kurz entschlossen setzte er sich darauf. Der Sessel war sogar irgendwie bequemer und gemütlicher als seiner. Mit Wohlbehagen ließ er sich darin einsinken und schrak zusammen, als Stephanie neben ihm auftauchte.
„So, dein Anzug ist in der Waschmaschine", verkündete sie heiter.
Freddie verzog den Mund. „Na fein."
„Warum bist du eigentlich nicht zuhause bei diesem Wetter?", wollte Stephanie wissen.
„Das hab ich doch schon gesagt", antwortete Freddie mit genervten Unterton, „weil ich nicht schlafen kann."
Das pinkfarbene Mädchen sah ihn verwundert an. „Und draußen im Regen kannst du besser schlafen?"
„Oh, wie dumm …!" Freddie biss die Zähne zusammen. So sehr ihn auch Stephies Fragen auf den Zeiger gingen, so wollte er sie nicht beleidigen, nachdem sie ihm Obdach gewährt hatte. „Ach, vergiss es."
Er verschränkte die Arme und schaute zur Seite. Die Sekunden der Stille, die darauffolgten, waren dem Mädchen etwas unangenehm und knüpfte an einen neuen Gedanken an.
„Hast du vielleicht Hunger?", fragte sie, da ihr gerade nichts anderes einfiel. „Ich hab noch ein paar Törtchen übrig."
Der Bösewicht schob gleichgültig das Kinn vor. „Garantiert mit Gesundzeug gefüllt."
„Nein, Mehl, Zucker, Milch und Schokolade. Das magst du doch, oder nicht?"
Jetzt spitzte Freddie doch die Ohren und sah sie erwartungsvoll an. „Hast du das wirklich?"
„Na klar." Damit eilte sie zum Kühlschrank. „Ich hab sie zusammen mit meinem Onkel gebacken."
Mit einem strahlenden Gesicht kehrte sie ins Wohnzimmer zurück und hielt Freddie ein Tablett mit drei Brownies hin. Der Stadtbösewicht schaute abwechselnd zwischen Gebäck und Mädchen. „Darf ich das wirklich essen?"
„Natürlich."
Freddie kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Und da ist auch kein Hacken dabei?"
Sie schüttelte den Kopf und hielt ihm das Tablett weiter vor. „Nimm ruhig."
Schnell schnappte er sich alle drei und aß sie in Rekordzeit. Es war zwar schon Nacht, aber gegen einen Mitternachtsimbiss hatte er noch nie was gehabt. Nachdem auch das letzte Törtchen weg war, lehnte er sich zurück und faltete die Hände über den Bauch zusammen. Stephanie hatte sich inzwischen auf der Couch daneben niedergelassen und sah ihn erwartungsvoll an. „Willst du etwas erzählen, oder dich unterhalten?"
Freddie rollte mit den Augen. „Worüber soll ich mich mit dir unterhalten?"
Auf eine Unterhaltung hatte er eigentlich keine Lust und er fragte sich, warum Kinder immer so viel plappern mussten. Es musste an den vielen Power-Zeug liegen, dass man den Kleinen eintrichterte. Vielleicht lebte er auch deswegen lieber alleine.
„Na ja, um sich etwas die Zeit zu vertreiben", sagte Stephanie ruhig.
Freddie kratzte sich kurz am Ohr und gähnte. „Ich vertreib mir lieber die Zeit mit Schlafen. Solltest du das nicht auch schon längst tun? Warum warst du eigentlich noch wach?"
„Ich … na ja, ich hab dich im Garten gehört und da hab ich eben nachgesehen", antwortete sie.
Freddie hob skeptisch die Augenbrauen. „So, du hast also keine … Angst gehabt?"
Stephanie richtete sich kerzengerade auf. „Nein, nein natürlich nicht!"
„Na, na, na", mahnte Freddie mit erhobenem Zeigefinger. „Hast du mir nicht mal gesagt, Lügen wäre falsch, hä?"
Das brachte Stephanie kurz ins Stocken. Schließlich erhob sie sich. „Ich schau mal nach der Wäsche." Und verschwand kurz in den Flur, was bei Freddie für ein lautes Schmunzeln sorgte.
Stephanie wusste nicht, ob sie Freddie gegenüber eingestehen sollte, dass sie sich allein schon etwas im Haus gefürchtet hatte. Still holte sie Freddies Anzug aus der Maschine und hing sie an eine Leine zum Trocknen auf. Als sie wieder ins Wohnzimmer kam und sich gegenüber Freddie nochmal verteidigen wollte, blieb ihr jegliches Wort im Hals stecken, als sie merkte, wie der Bösewicht im Sessel eingeschlafen war. Zuerst stemmte Stephanie die Hände in die Hüften, dann lächelte sie. Sie holte eine Decke hervor und deckte ihn damit zu. Freddie murmelte etwas, wachte aber nicht auf.
Auf Zehenspitzen verließ das Mädchen wieder das Wohnzimmer, doch als im nächsten Moment wieder ein leises Donnern von draußen ertönte, stieg in ihr wieder die Angst hoch, bei dem Gedanken wieder alleine im Zimmer zu sein.
Nach kurzem Überlegen ging sie rasch in ihr Zimmer und holte ihre Bettdecke und Kissen heraus. Dann schlich sie damit wieder ins Wohnzimmer und legte sich aufs Sofa. Nachdem sie alles gerichtet hatte, löschte sie das Licht.
Eine Weile blieb sie noch wach. Freddie rekelte sich kurz im Sessel, dann schlief er weiter. Stephanie lachte. Es machte ihr nichts aus, wenn er dabei etwas schnarchte. Das war zumindest besser als pure Stille, wo keiner da war. Sie hatte zwar ihr eigenes Zimmer, aber da wusste sie wenigstens, dass Onkel Meinhard in der Nähe war, falls was sein sollte.
Während draußen das Gewitter weiterzog, der Regen aber noch in voller Stärke aktiv war, hing sie ihren Gedanken nach. Am allermeisten beschäftigte sie, ob es wirklich so gut war, dass sie mit Freddie alleine im Haus war. Ob er vielleicht irgendwann aufwachte und ihr wieder einen üblen Streich spielen würde? Oder ihr vielleicht sogar noch schlimmere Sachen antat?
Stephanie richtete sie auf und sah Freddie nachdenklich an. Dann schüttelte sie den Kopf. Nein. Freddie war zwar die meiste Zeit ein Miesepeter, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass er ihr jemals ernsthaft weh tun würde. Manchmal fand sie es schade, dass sie nicht so gut immer miteinander klarkamen. Ständig beschwerte er sich über den Kinderlärm, aber auch über die Streiche, die er machte, konnten sich viele immer nur aufregen.
Seufzend ließ sie sich aufs Kissen sinken. Wenigstens war sie nicht mehr alleine. Es war irgendwie schon beruhigend einen Erwachsenen in der Nähe zu haben. Stephanie lächelte bei dem Gedanken, als sie und Freddie eine Floss-Tour gemacht hatten, um Trixie aus einer misslichen Lage zu retten. Freddie hatte sogar noch mehr Angst vor dem Meer gehabt als Stephanie. Aber wenigstens hatte sie ihn dazu überreden können, als Aufpasser mitzukommen. Allein schon deswegen konnte man ihn halbwegs als guten Freund bezeichnen.
Das Mädchen gähnte. Sie döste noch eine Weile bis sie endlich mit einem beruhigten Gefühl eingeschlafen war.