Eine richtige Black

„Ich habe dir gesagt, du sollst nicht direkt hierher apparieren!", blaffte Alastor sie an, kaum dass sie sich neben ihrem Mentor materialisiert hatte.

Tonks lachte, warf den Kopf zurück und fuhr sich durch das kurze bonbonfarbene Haar. „Du bist auch nicht grade unauffällig, mit diesem Hut … Aus welchem Jahrhundert stammt der?" Und sie deutete auf Alastors Bouler, der so schräg auf seinem Kopf thronte, dass er das magische Auge mehr schlecht als recht verbarg.

Er ignorierte Tonks' Bemerkung und stapfte über das vertrocknete Stück Rasen in der Mitte des Grimmauldplatzes auf das verschnörkelte Gartentor zu, an das Tonks sich noch vage aus ihrer Kindheit erinnern konnte.

Sie hastete ihm hinterher. „Wird es lange dauern? Ich hab heute Nachtschicht und sollte nicht schon wieder zu spät kommen ...", fragte sie beklommen.

Alastor hatte ihr nicht gesagt, weshalb sie hierher kommen sollte. Sie vermutete, es ging um die Bekämpfung irgendeines schwarzmagischen Wesens oder Artefakts. Das würde sie in diesem Haus überhaupt nicht überraschen.

Ihre Mutter Andromeda hatte sie einmal, als sie in London unterwegs waren, hierher geführt. Dass dieses herrschaftliche Gebäude, in dem damals noch tatsächlich Menschen gelebt hatten, Besitz ihrer Familie sein sollte, hatte die junge Tonks zunächst mit Stolz erfüllt. Doch dann hatte ihre Mutter ihr von den schrecklichen Bewohnern des Hauses erzählt, von den vielen unglücklichen Stunden, die sie als junges Mädchen hier hatte verbringen müssen. Andromeda erzählte auch, wie ihr Lieblingscousin, Sirius Black, von seinen Eltern schikaniert und schließlich, genau wie sie, aus dem Familienstammbaum der Blacks ausradiert worden war. Dieser Großcousin war einer der wenigen Verwandten, denen Tonks schon leibhaftig begegnet war. Sie erinnerte sich, wie sie den jungen Mann im Alter von sieben Jahren mit ihrer Mutter getroffen hatte. Andromeda hatte eigentlich alle Verbindungen zu ihrem früheren Leben durchtrennt und dabei auch für ihrem Lieblingscousin keine Ausnahme gemacht. Bis sie sich beide dem Orden des Phönix anschlossen und ihre alte Freundschaft wieder zum Leben erwachte.

Seitdem war Sirius öfter bei Familie Tonks zu Gast gewesen. Aus dieser Zeit hatte Tonks selbst viele schöne Erinnerungen an einen hübschen, abenteuerlustigen Mann, der seine Großcousine gerne mit kleinen Zaubertricks unterhielt. Doch diese Besuche fanden ein jähes Ende, als Du-weißt-schon-wer immer mehr Macht gewann und Sirius um das Leben seiner engsten Freunde, auch Ordensmitgliedern, fürchten musste und scheinbar alles in seiner Macht stehende tat, um vor allem seinen Patensohn Harry in Sicherheit zu wissen.

Entsprechend erschüttert waren Tonks und ihre Eltern deshalb auch gewesen, als sie von Sirius' Verrat und seiner Festnahme erfuhren. Andromeda hatte nicht nur schwer unter dem Verlust zweier guter Freunde, sondern auch unter dem Vertrauensbruch ihres Cousins gelitten.

Die Familie Tonks hatte sich natürlich sofort erboten, den kleinen Harry bei sich aufzunehmen und tatsächlich hatte das Baby einen Tag im Haus ihrer Familie verbracht, bis Dumbledore beschloss, es am besten bei seinen Muggelverwandten unterzubringen.

Diesen Tag würde Tonks nie vergessen. Zuerst, der Schock über Sirius Verrat, dann die freudige Nachricht von Du-weißt-schon-wems Ende und schließlich der bedrohliche Halbriese Hagrid, der mit einem schreienden Kind in den Armen von einem knatternden Motorrad im Vorgarten der Familie Tonks stieg. Tonks, die erst wenig vom Geschehen um sie her verstand, stellte den kleinen Harry ruhig, indem sie ihn mit immer neuen Grimassen und Haarfarben zum Lachen brachte. Um das Haus wimmelte es nur so von Eulen, diverse Ordensmitglieder schickten besorgte und hilfsbereite Nachrichten, den kleinen Zauberer betreffend. Schließlich erschien Albus Dumbledore höchstpersönlich und erklärte, er habe Minerva Mc Gonagall bereits zum Auskundschaften nach Little Whinging geschickt und Hagrid solle sich mit dem Baby ebenfalls sofort dorthin begeben. Tonks wollte natürlich wissen, was das für ein Ort war, an den der kleine Harry jetzt geschickt wurde, doch Dumbledore hatte ihr nur verschwörerisch durch seine Halbmondbrille zugezwinkert und dankbar die kleine Tüte Zitronenbonbons angenommen, die Tonks ihm als Wegzehrung geschenkt hatte.

Unwillkürlich griff Tonks in ihre Manteltasche und hielt Alastor eins unter die Nase. „Auch ein Zitronenbonbon?", fragte sie unschuldig.

Ihr Mentor wehrte mit misstrauischem Gesichtsausdruck ab. Seit er ein ganzes Schuljahr in seinem eigenen Koffer eingesperrt gewesen war, war er sogar gegenüber Tonks sehr argwöhnisch geworden, was Essen und Trinken anging.

Er machte einen entschlossenen Schritt vorwärts und stieß mit seinem knochigen Gehstock das Gartentor weit auf. Ein lautes Quietschen war zu hören. „War wohl länger keiner mehr hier!" sagte Tonks in betont munterem Tonfall, um sich ihr mulmiges Gefühl beim Anblick dieser Brutstätte von Überheblichkeit, Hass und Rassismus, der ihre Mutter vor Jahren ein für allemal den Rücken gekehrt hatte, nicht anmerken zu lassen.

Alastor erklomm, ohne auf Tonks' Bemerkung einzugehen, die drei Stufen zur Eingangstür der Nummer Zwölf und stieß einen reichverzierten Schlüssel in das verrostete Schloss. Die dunkle, mit einem schlangenförmigen Türklopfer versehene, Pforte schwang auf und gab den Weg in einen große, leeren Raum frei. Tonks betrat das Gebäude kurz nach Alastor und sah sich um. Bis auf die, für ein Stadthaus völlig untypische, Größe der Eingangshalle und der geschwungenen Treppe, die in die oberen Stockwerke führte, war vom ehemaligen Glanz des Anwesens nichts mehr zu sehen.

Spinnweben bedeckten die kristallenen Lüster und alten Gemälde, die Teppiche waren mottenzerfressen und der große Schirmständer in einer Ecke, der - wie Tonks mit Ekel feststellte - aus einem abgetrennten Trollbein gefertigt war, zeugte von einer Zeit, in der die Trolljagd noch ein beliebte Freizeitaktivität reicher Zaubererfamilien gewesen war.

Vorsichtig tat Tonks ein paar kurze Schritte in die Halle. Das alte Parkett knarrte unter ihren Füßen, Staub wirbelte auf, als sie den verschlissenen grünen Teppich betrat.

Alastor stellte gerade seinen knorrigen Gehstock in den trollfußförmigen Schirmständer. „Ich hoffe, er weiß noch, dass wir kommen ...", knurrte er vor sich hin.

Tonks drehte sich zu ihm um. „Wer?", flüsterte sie, von der düsteren Atmosphäre des Hauses eingeschüchtert.

Doch Alastor ignorierte ihre Frage und nickte nur stumm Richtung Treppe. Gemeinsam stiegen sie hinauf in den ersten Stock, vorbei an einer Leiste abgetrennter Hauselfenköpfe, bei deren Anblick Tonks sich am liebsten übergeben hätte. Sie hielt inne und drehte sich zu Alastor um, um ihm endlich den Grund für ihren Ausflug zu entlocken.

Da hörte sie ein Geräusch, eine Bewegung im Stock über ihr, die da nicht sein sollte. Zu laut für Ratten oder anderes Ungeziefer. Mit der antrainierten Schnelligkeit eines erstklassigen Aurors riss Tonks den Zauberstab aus ihrem Mantel und entwaffnete die große Gestalt, die soeben in einer Tür im ersten Stock erschienen war. Der machtvolle Blitzstrahl, der aus der Spitze von Tonks' Zauberstab schoss, traf den Fremden so unvorbereitet, dass seine Wucht ihn umwarf und gegen den dunklen Türrahmen schleuderte.

„Mensch, Mad-Eye! Hast du den nicht kommen seh'n?", fuhr Tonks ihren Mentor gereizt an, während sie sich schon – mit ausgestrecktem Zauberstab – langsam die Treppe hinauf bewegte, um ihr Opfer näher zu betrachten.

Es war ein hochgewachsener Mann um die vierzig, mit schulterlangem dunklem Haar und eingefallenen Wangen. Seine Augen waren weit aufgerissen und er atmete schwer von dem Aufprall.

Er kam ihr bekannt vor.

Tonks beugte sich vorsichtig zu ihm herunter. Kein Zweifel. Sie fuhr hoch und richtete ihren Zauberstab entschieden auf die Gestalt am Boden.

„Nymphadora! Nicht!", schrie Alastor hinter ihr.

Tonks hielt verblüfft inne. Mit mühsam kontrollierter Stimme rief sie, ohne sich zu Mad-Eye umzudrehen: „Was soll das, Mad-Eye? Verdammt, das ist Sirius Black!"

Einen Moment herrschte Stille. Tonks hielt Blacks verwirrtem Blick Stand, bis sie Alastors knorrige Pranke auf ihrem Oberarm spürte, die sie mühelos von dem gesuchten Massenmörder wegzog.

„Warte doch mal!", knurrte er unwillig. Tonks wollte ihren Augen kaum trauen, als sie sah, wie ihr Tutor, der erklärte Gegner aller schwarzmagischen Künste, Alastor Moody, sich zu Sirius Black, dem Verräter, Mörder und Todesser allererster Güte, hinab beugte und ihm grummelnd auf die Füße half.

„Sirius.", grüßte der alte Auror und zu Tonks' immer größer werdenden Verblüffung klang seine Stimme … besorgt.

Black erwiderte den Gruß mit einem Kopfnicken und richtete seinen Blick dann wieder auf Tonks, die nun ein paar Stufen unterhalb der beiden Männer stand und nicht daran dachte, ihren Zauberstab zu senken.

Selbst wenn Alastor den Verstand verloren hatte, selbst, wenn er sie absichtlich in eine Falle gelockt hatte, sie würde dennoch alles tun, um ihn vor Black zu beschützen. Doch allein würde ihr das nicht gelingen.

„Weg von ihm! Ich rufe Kingsley Shacklebolt!", drohte sie. Kingsley war der Leiter der Aurorenabteilung, Tonks' ehemaliger Ausbilder und ganz speziell mit der Verfolgung von Sirius Black betraut.

Nun warf besagter Verbrecher einem von Tonks engsten Vertrauten einen hilfesuchenden Blick zu.

„Was, bei Merlin, geht denn hier vor?", schrie Tonks nun beide an.

„Das würde ich auch gerne wissen.", setzte eine ruhige, aber gut vernehmliche Stimme hinzu. Tonks wirbelte herum und sah einen weiteren Mann, der einige Stufen unter ihr ebenfalls auf der Treppe stand und wie sie seinen Zauberstab gezückt hatte.

Seine Hand war vollkommen ruhig und sein Gesicht zeigte einen vernünftigen, intelligenten Ausdruck. Doch sein Zauberstab deutete genau auf Tonks Herz und er wirkte nicht so, als sei er gewillt, von seinem Standpunkt abzuweichen.

Die Männer waren in der Überzahl und sie hatten Alastor auf ihrer Seite, den Tonks unter keinen Umständen verletzen würde. Black trug zwar keinen Zauberstab mehr, war aber dennoch sicher sehr gefährlich.

Verzweifelt ließ Tonks ihren Arm sinken und fühlte sich nunmehr furchtbar schutzlos. Sie hatte das starke Gefühl, einen entscheidenden Teil des Geschehens nicht mitbekommen zu haben. Irgendwas lief hier ganz falsch. Noch einmal wandte sie sich an Alastor, diesmal flehentlich. „Bitte, was ist hier los?"

Alastor hob beruhigend die Hände und kam, begleitet von dem charakteristischen Klonk seines Holzbeins, langsam auf sie zu.

Er sah sie an, sprach aber mit dem Fremden in ihrem Rücken. „Dies ist Nymphadora Tonks, eine der wenigen Blacks, die uns wohlgesonnen sein wird. Nymphadora ...", er redete nun wieder mit Tonks, „Ich bitte dich, uns zuzuhören. Wir werden eine Lüge enthüllen, die viel zu lange aufrecht erhalten wurde." Mit seiner knorrigen Hand deutete er auf Black, der nun völlig ungedeckt in Tonks Schusslinie stand.

Alastor sah sie eindringlich an, als er sagte: „Sirius Black ist unschuldig."


„Aber wieso? Wieso hat er sich dann jahrelang versteckt? Wieso das Land mit seinem Ausbruch in Angst und Schrecken versetzt? Wieso nie versucht, seine Unschuld zu beweisen?" Tonks raufte sich das kurze strubbelige Haar, dass sich durch ihre Verwirrung und Furcht dunkelgrau wie ein Gewittersturm verfärbt hatte.

Sie vermied es, Black direkt anzusehen, sprach nur mit Alastor, während sie unter den misstrauischem Blicken des fremden Mannes im grün tapezierten Salon der Blacks auf und ab lief.

Auch sie musterte ihn hin und wieder kritisch. Er hatte ein schmales kantiges Gesicht, einen Dreitagebart, helle Augen und ergraute Schläfen. Aus seiner Haltung sprach sorgsam kontrollierte Anspannung und sein stechender Blick glich dem eines Raubtiers.

Black hingegen hatte sich wieder einigermaßen von seinem Schock erholt und lehnte fast lässig an dem Kaminsims aus schwarzem Marmor. Alastor hatte sich auf dem einzigen Möbelstück des heruntergekommenen Raumes niedergelassen, einem alten Sessel aus rissigem Leder mit verschnörkelten Armstützen, und erzählte Tonks in aller Seelenruhe eine schier unglaubliche Geschichte.

Tonks schüttelte den Kopf. „Das sind zu viele unbeantwortete Fragen. Wie soll ich diese Märchen glauben?"

Nun erhob Black die Stimme. „Dora, du kennst mich doch. Wo ist der unerschütterliche Glaube in das Gute im Menschen, den deine Mutter dich gelehrt hat?"

Tonks scheute sich, Black anzusehen, besonders als er ihren Spitznamen aus Kindertagen so selbstverständlich in den Mund nahm, als lägen seine unbeschwerten Besuche im Haus ihrer Eltern nur wenige Tage zurück.

Leise sagte sie: „Dieses Vertrauen wird oft genug enttäuscht. Gerade du solltest das wissen, wenn auch nur die Hälfte von dem, was Mad-Eye erzählt hat, wahr ist. Es hat keinen Zweck, sich schöne Lügen für die Realität zurechtzulegen."

Nun richtete Black sich doch auf und kam einen Schritt auf Tonks zu, die sich Mühe gab, nicht zurückzuweichen.

„Ich habe mich in Peter furchtbar geirrt. Aber so wirst du dich nicht in mir irren. Sag's ihr Moony!" rief er plötzlich und wandte sich an den fremden Mann. „Sag ihr, wieso du mir glaubst! Ich hätte die wichtigsten Menschen in meinem Leben doch niemals an Voldemort verraten. James und Lily Potter waren die besten Freunde, die ich je hatte und ihr Sohn … Harry, es gab – es gibt niemanden auf der Welt, der mir mehr bedeutet."

Bei diesen Worten sah er Tonks so aufrichtig und ehrlich an, zeigte ihr all den Schmerz, der in seinem Innern glühte, dass sie nicht anders konnte, als zu nicken.

Der Mann, den Sirius 'Moony' genannt hatte, richtete sich nun auf und erhob die Stimme. Er klang zwar zurückhaltend aber bestimmt.

„Mir ging es jahrelang nicht anders als dir.", sagte er an Tonks gerichtet. „Ich habe erlebt, wie einer meiner besten Freunde zum Verbrecher erklärt wurde, weil er der falschen Person vertraut hat. Seit ich die Wahrheit kenne, fällt es mir schwer irgendwem auch nur die geringste Kleinigkeit anzuvertrauen. Aber so kommen wir nicht weiter im Kampf gegen Voldemort. Wir müssen unsere Freunde vorsichtig auswählen, das ist sicher. Aber das letzte Risiko, das bleibt, müssen wir in Kauf nehmen."

„Ich war mir am Anfang nicht sicher, ob wir dich als eine der ersten einweihen sollten ...", sagte Sirius leise. „Aber Mad-Eye hier hat sich für dich verbürgt. Hat gesagt, er würde dir sein Leben anvertrauen."

„Und ich hatte verdammt recht!", knurrte Alastor. „Du hast mich vorhin nicht angegriffen, obwohl jede einzelne Richtlinie des Ministeriums dir das Gegenteil vorgeschrieben hätte. Du wusstest, dass du mir trauen kannst."

„Jeden anderen, der so was gebracht hätte, hätte ich sofort umgelegt." stimmte Tonks ihm grimmig zu.

Sirius ließ ein bellendes Lachen hören. „Darin bist du sehr gut!", sagte er und rieb sich demonstrativ die Schulter, mit der er gegen den Türrahmen gestoßen war.

Tonks Haar verfärbte sich langsam wieder pink und sie schlug peinlich berührt die Augen nieder. „Tut mir Leid?", sagte sie verunsichert. Dann fiel ihr Sirius' Blick auf, der leicht ungehalten auf ihrer linken Hand ruhte, die noch immer seinen Zauberstab umklammert hielt. Sie schaute fragend Alastor an, der nur kurz mit dem Kopf ruckte, was sie als Nicken interpretierte.

Langsam machte sie einen Schritt auf Black zu, innerlich betend, gerade keinen schrecklichen Fehler zu begehen, und gab ihm den Zauberstab zurück.

Der Fremde, der das Geschehen die ganze Zeit genau beobachtet hatte, entspannte sich merklich, als sein Freund die Waffe wieder erhielt.

Sirius seufzte vernehmlich und wirbelte den Stab beschwingt durch die Luft, sodass er Funken versprühte. „Hab den hier noch nicht allzu lange. Hat Mad-Eye mir besorgt.", sagte er wie beiläufig. Doch Tonks hörte den dankbaren Ton in seiner Stimme und sie dachte mit Schaudern darüber nach, wie sie sich fühlen würde, wenn ihr selbst der Zauberstab genommen würde. Und das beinahe zwölf Jahre lang.

Nun trat auch der fremde Mann, der inzwischen überzeugt schien, dass von Tonks keine Gefahr mehr ausging, auf sie zu und reichte ihr die Hand. Sie fühlte sich kalt aber stark an. „Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Nymphadora -", „Tonks!", entfuhr es ihr unwillkürlich. „Entschuldigung, aber bitte nennen Sie mich Tonks.", fügte sie errötend hinzu.

Der Mann schien kurz verwirrt, fuhr dann aber fort: „Gut, Tonks. Mein Name ist Remus Lupin."

„Professor! Das ist Professor R. J. Lupin!", warf Sirius, der wieder seinen Platz am Kamin eingenommen hatte, ein. „Wirklich, ich hätte nie gedacht, dass aus dir mal ein Lehrer wird, Remus."

Der Angesprochene ignorierte diese Bemerkung und sagte ernst: „Ich gehöre zum Orden."

Tonks riss überrascht die Augen auf. „Der Orden des Phönix? Der wurde doch aufgelöst!"

Alastor erhob sich und stapfte auf die beiden zu. „Schon, aber wir sind hier, um ihn wiedererstehen zu lassen.", sagte er kryptisch und zog eine Fotografie aus der Tasche seines Reiseumhangs. Sie war alt und an den Rändern bräunlich verfärbt. Doch die Gesichter der Hexen und Zauberer auf dem Bild strahlten noch immer dem Betrachter entgegen.

„Als Du-weißt-schon-wer das erste Mal vor über fünfzehn Jahren an die Macht kam, taten sich diese Leute zusammen und gründeten den Orden des Phönix. Über die Hälfte von ihnen ist nun tot. Aber Du-weißt-schon-wer ist zurückgekehrt.", erklärte Alastor.

Tonks lief es kalt den Rücken hinab. „Dann stimmt es also wirklich?", hakte sie nach.

Sirius schnaubte ungehalten. „Natürlich ist es wahr. Dumbledore glaubt Harry, wieso sollten wir es dann nicht auch tun?"

„Vielleicht, weil ich in erster Linie dem Zaubereiministerium unterstehe und die sagen da etwas ganz anderes.", gab Tonks zurück. „Wieso ist Dumbledore denn aus dem Zaubergamot ausgeschlossen worden, wenn er noch alle Tassen im Schrank hat?"

„Der Gamot untersteht doch ebenfalls dem Ministeium, beziehungsweise den zwielichtigen Machenschaften von Lucius Malfoy. Der Prophet schreibt, was dem Ministerium nützt und die Leute glauben es.", versetzte Alastor.

Tonks fühlte sich in die Enge getrieben und sah wieder hinab auf das Foto. Sie erkannte das junge Gesicht ihrer Mutter, das von Alastor, Rubeus Hagrid, Dumbledore und auch die von Sirius und Remus Lupin.

„Sind sie das? … Die Potters?", fragte sie leise und legte ihren Finger auf ein lachendes Paar, ein Brillenträger mit verstrubbeltem schwarzem Haar und eine hübsche rothaarige Frau mit grünen Augen.

Sirius und Lupin nickten beide. Auf ihren Gesichtern zeichnete sich Verlust, Trauer und kalte Wut ab.

„Wir wollen zu Ende bringen, was wir vor Jahren begonnen haben. Wofür so viele unserer Freunde ihr Leben gelassen haben.", sagte Lupin mit heiserer Stimme und die Liebe und Entschlossenheit darin beeindruckten Tonks.

„Und … ich soll dabei sein?", fragte sie.

„Ja, verdammt, sonst hätte ich dir sicher nicht gerade den Eingang zu unserem Hauptquartier gezeigt.", knurrte Alastor.

„Warte!" Tonks sah sich in dem düsteren Raum dessen Innenausstattung etliche Schlangenmotive und Symbole für das Haus Slytherin aufwies. „Das hier soll euer Hauptquartier sein? Dieser alte Kasten ist der Inbegriff von Rassismus und inzestuöser Reinblütigkeit!"

„Guten Tag, junge Herrin. Wie freut sich Kreacher, ein Ebenbild der guten Madame Bellatrix in ihrem Haus begrüßen zu dürfen."


Tonks blickte in die hervorquellenden Augen eines überaus alten, überaus hässlichen Hauselfs, dessen Mund sich zu einem schleimigen Grinsen verzogen hatte.

Wie vom Donner gerührt wandte sie sich zu Sirius um. „Was hat der gerade gesagt?"

Sie wusste nur wenig über ihre Tante Bellatrix Lestrange. Doch was ihre Mutter von ihrer verhassten Schwester erzählt hatte, genügte Tonks, um sagen zu können, dass es niemanden auf der Welt gab, dem sie weniger gern ähneln würde. Bellatrix war eine glühende Verehrerin Voldemorts, eine der ersten Frauen in seinem Gefolge und fest davon überzeugt, Andromeda hätte mit ihrer Entscheidung, einen Muggel zu heiraten, ihr Recht auf Leben verwirkt.

Sirius stellte sich vor Tonks und schirmte sie so vor den Blicken des Elfen ab. „Kreacher, verschwinde! Sie will nichts mit dir zu tun haben!", fuhr er ihn an.

„Verräter seines Blutes, Schande für die ganze Familie, unwürdiger Bastard ...", röchelte Kreacher, der nun mit drohendem Finger auf Sirius zeigte. „Wie wagt er es, sich zwischen Kreacher und seine junge Herrin zu stellen, die der alten Herrin doch so sehr gleicht ..."

„Das reicht!" Mit einem Schwung seines Zauberstabes ließ Sirius die Tür zum Flur mit einem lauten Knall zufallen und sperrte den Elfen so aus.

Er drehte sich mit immer noch zornigem Gesichtsausdruck zu den anderen um. „Das tut mir Leid, er war immer noch hier, als ich vor ein paar Wochen zum ersten Mal wieder herkam. Ich kann ihn nicht wegschicken, er könnte mich verraten ..."

Doch Tonks hörte nicht zu. Mit dem Schließen der Flügeltüren des Salons hatte sich der reichverzierte Stammbaum, der sich von deren Innenseite aus über die restliche Wand erstreckte, vervollständigt. Direkt neben der Klinke sah sie die detailreichen Porträts der Schwestern Bellatrix, Andromeda und Narzissa Black. Zumindest zwei davon. Dort, wo das Gesicht und der Name ihrer Mutter sein sollten war nur ein großer runder Brandfleck. Tonks' Vater Ted war zwar nicht aufgeführt, dafür aber das Bild eines kleinen Mädchens mit blassem herzförmigem Gesicht und großen grauen Augen, das seiner dunkelhaarigen Tante zum Verwechseln ähnlich sah.


„Ich kann das nicht." sagte Tonks entschieden und ließ ihre Haare einen trotzigen Rotton annehmen. Ohne Spiegel wagte sie nicht, auch ihr Gesicht zu verändern, obwohl sie das im Moment wirklich gern getan hätte. Stattdessen wuchs sie lieber ein paar Zentimeter, bis sie Sirius, der ihr am nächsten stand, überragte.

„Hier bleib ich ganz sicher nicht. Und wenn ihr glaubt, meine Eltern würden auch nur einen einzigen Schritt hier rein setzen, dann irrt ihr euch!"

„Muggel kommen hier gar nicht rein.", bemerkte Sirius leise. „Unaufhebbarer Muggelabwehrzauber … hat meine Mutter schon vor Jahrzehnten eingeführt."

Tonks lachte bitter. „Ein weiterer Grund, diesen Ort zu meiden! Oder fühlst du dich hier etwa wohl? Nach allem, was hier passiert ist?"

Sirius' Gesichtsausdruck wurde hart und ein Schatten legte sich über seine Züge. „Natürlich nicht ...", sagte er und wirkte, als wolle er noch etwas hinzusetzen. Er bremste sich aber und sagte stattdem nach einer Pause: „Aber als Hauptquartier für eine geheime Organisation, die im Untergrund agieren muss, ist es ideal. Wir haben einen Apparierschutz, Anschluss ans Flohnetzwerk, genügend Gästezimmer und große Räume für Versammlungen."

„Damals, als Du-weißt-schon-wer das erste Mal die Macht ergriff, hatten wir Räume des Ministeriums zur Verfügung und haben auch manche Treffen in Hogwarts abgehalten. Aber jetzt, wo der Minister gegen uns arbeitet und die Schulräte, allen voran Lucius Malfoy, die Raumverwaltung der Schule kontrollieren, müssen wir Alternativen finden. Und niemand von uns hat so ein großes Haus, wie Sirius hier.", erläuterte Alastor geduldig.

Tonks schrumpfte wieder auf ihre normale Größe zurück und verschränkte unbehaglich die Arme vor der Brust. „Und die noch lebenden Blacks haben nie versucht, das Haus wieder einzunehmen?", fragte sie besorgt.

„Das haben wir uns auch gefragt.", sagte Lupin, der nun am Fenster stand und misstrauisch den Einbruch der Dämmerung mitverfolgte. Er wandte sich von der schmalen Mondsichel, die langsam am Himmel erschien, ab und fuhr fort: „Wir vermuten allerdings, dass Narzissa Malfoy und Bellatrix Lestrange mit ihrer Heirat und dem Ablegen des Namen Black keinerlei Rechte mehr an dem Haus haben. Ungerecht und altmodisch zwar, aber in unserem Fall doch recht nützlich. Das Haus lässt nur ein, wem sein Besitzer – Sirius – oder dessen Gesandter – Mad-Eye – den Weg zu seiner Pforte zeigt. Diesen Mechanismus wollen wir noch zusätzlich mit einem Fideliuszauber verstärken."

Tonks nickte erleichtert. Dann fiel ihr noch etwas ein. „Was ist mit deinem Bruder, Sirius?" Sie warf einen Blick auf den Stammbaum. „Regulus, genau! Was ist mit ihm?"

Sirius warf ihr einen irritierten Blick zu. „Regulus ist tot. Er war ein Todesser … hat das Pack in dieses Haus eingeladen, als es ihm dann endlich gehörte, und grausame Aufträge für Voldemort ausgeführt." Sirius schüttelte resigniert den Kopf. „Hat ihm aber nichts gebracht. Noch zwei Jahre, bevor Voldemort verschwand, wurde er von seinen Anhängern umgebracht. Wollte vermutlich fliehen. Hatte Angst vor dem Krieg, wollte sein eigens Leben nicht aufs Spiel setzen."

„Doch seine Leiche wurde nie gefunden.", setzte Lupin hinzu.

Sirius sah ihn genervt an, so als hätten die beiden schon öfter über dieses Thema diskutiert.

Lupin erwiderte seinen Blick stur und sprach weiter: „Wir wissen nicht, weshalb die Todesser ihn umgebracht haben oder, ob sie es überhaupt waren."

Sirius verdrehte die Augen. „Jedenfalls ist er nicht mehr am Leben. Hier, fühl' mal."

Er nahm Tonks Hand und legte sie auf die Stofftapete mit dem Abbild des Familienstammbaums, direkt auf den Namen seines Bruders, Regulus Arcturus Black. Die Stelle war kalt, unnatürlich kalt und Tonks erschauderte. Sirius führte ihre Hand weiter zu ihrem eigenen Namen und Tonks konnte fühlen, wie sich die Wand unter ihren Fingern erwärmte, bis sie an der Stelle ihres Porträts fast zu glühen schien.

Fasziniert strich Tonks über den Stoff und legte ihre Hand auf verschiedene Namen und Gesichter, um schließlich festzustellen, dass es außer ihr, Sirius, ihrer Mutter, deren Schwestern und einem Draco Malfoy, den sie nicht kannte, keine überlebenden Blacks mehr gab.

Das hatte sie nicht gewusst. Aber statt Bedauern fühlte Tonks nur eine Art … Erleichterung? Erleichterung darüber, dass sie der Schatten ihrer Familie nicht ihr Leben lang verfolgen würde, wie ihre Mutter es manchmal empfand, wenn steinalte Ladenbesitzer in der Winkelgasse oder Tonks' Lehrer, die Andromeda noch aus Kindertagen kannten, sie achtungsvoll Madame Black nannten.

Tonks ließ die Hand sinken. Sie mochte keine richtige Black sein – und das wollte sie auch nicht – aber ihre Mutter und Sirius waren welche. Sie würde nicht zulassen, dass dieser Name in Zukunft auch weiterhin nur voller Furcht, Abscheu oder geheuchelter Hochachtung ausgesprochen wurde. Sie würde, wenn nötig alleine, dem Namen einen ehrenvollen Platz in den Geschichtsbüchern einbringen.

Einen Platz, nicht mit List und reinem Blut erschlichen, sondern mit Tapferkeit und Mut verdient.