VI.


Devon:

Die drückende Hitze des Spätsommerabends entlud sich gerade in einem halbherzigen Gewitter, als Jessamy von der Straße in die angenehm temperierte Halle des Shaalizaar Inns flüchtete. Doch die dumpfe abgestandene Luft, die ihr aus ihrer Wohnung entgegen wehte, sobald sie die Tür aufschloss, war auch nicht viel besser als das schwül-feuchte Waschküchenklima, das draußen dank dem prasselnden Regenschauer herrschte. Sondra hatte völlig vergessen, die Umweltkontrollen einzuschalten, bevor sie ausgegangen war. Dafür hatte sie vergessen, ein anderes Gerät auszuschalten, wie Jessamy gleich darauf feststellte, als ihr aus dem Halbdunkel des Flurs eine einzelne rote Leuchtdiode entgegenglühte wie ein winziges Dämonenauge.

„Licht an. Thermostat auf Stufe vier", sagte sie laut.

Als prompt sämtliche Deckenfluter gleichzeitig aufflammten und die Klimaanlage leise ächzend eine sehr willkommene kühle Brise durch die stickigen Räume zu hecheln begann, setzte Jessamy ihre Reisetasche ab – und das beinahe auf den Kopf des vierbeinigen Empfangskomitees, das gerade lautlos zum üblichen Begrüßungszeremoniell angehuscht war! Danach nahm sie ihren Reader in die Hand, der mit der Rückseite nach oben auf der Greelholzkommode neben der Garderobe lag. Sie wollte das Lesegerät gerade abschalten, als ihr Blick auf die erste Textzeile auf dem handtellergroßen Bildschirm fiel.

Und ich hörte, wie Sirenen nach mir riefen, zeitloser Zauber aus kristallklaren Tiefen ...

Diese Worte waren Jessamy so geläufig, dass es eigentlich gar nicht nötig war, sich über ihren Ursprung zu vergewissern. Trotzdem klickte sie ganz mechanisch und ohne weiter darüber nachzudenken das Hauptmenü des Buchchips auf und von dort aus das Inhaltsverzeichnis, wo der Name des Autors und der Titel des Buches in anmutig verschnörkelten Lettern direkt über der Kapitelübersicht standen. Natürlich war es Edramareks Palast der Winde – was hätte es auch sonst sein sollen? Sondra war inzwischen wohl zu dem Schluss gekommen, dass auch ihr literarischer Horizont dringend erweitert werden musste. Und natürlich hatte sie ausgerechnet mit Jessamys neuestem Kauf durchgestartet – oder doch nicht?

Einer plötzlichen Eingebung folgend, wechselte Jessamy mit einem weiteren Tastendruck in die Systemsteuerung des Readers und von dort aus in ein Unterverzeichnis, in dem eine statistische Auflistung aller zuletzt geöffneten Dateien mit Datum und Uhrzeit abgespeichert war. Und was sie dort vorfand, übertraf ihre kühnsten Erwartungen!

Nach der Zahl der Eintragungen zu urteilen, hatte Sondra wesentlich mehr getan, als Edramareks unsterbliche Balladensammlung einfach nur zu lesen. Allein Die Windsbraut, das Poem, aus dem der Vers stammte, den Jessamy auf der Nivess zitiert hatte, war innerhalb der letzten zwei Wochen sage und schreibe siebenundzwanzigmal geöffnet worden.

Davon muss sie ja wirklich begeistert sein, wenn sie es gleich auswendig lernt, dachte Jessamy amüsiert.

Aber das war noch lange nicht alles …

Sie zögerte einen Augenblick lang. Noch vor einer Minute hatte sie nichts anderes im Sinn gehabt, als sich so schnell wie möglich aus ihrer verschwitzten Uniform herauszuschälen, die wie eine zweite Haut an ihr klebte, und unter der Dusche zu verschwinden, wo sie so lange zu bleiben gedachte, bis die Zimmertemperatur auf höchstens dreiundzwanzig Grad abgesunken war. Außerdem war es höchste Zeit für ein kleines Abendessen, sie kam fast um vor Hunger.

Aber es gab nun einmal Momente, wo man die Zähne zusammenbeißen und sich um Dinge kümmern musste, die viel wichtiger waren als die Befriedigung von kleinen persönlichen Bedürfnissen – zum Beispiel die Befriedigung einer sehr persönlichen und gar nicht so kleinen Neugier.

Kurzentschlossen trabte sie in ihr Wohnzimmer hinüber und nahm sich dort das Regal vor, wo dank Sondra jetzt alles so übersichtlich angeordnet war, dass Jessamy die Stapel transparenter kubusförmiger Chips in ihren beschrifteten und bunt bebilderten Kunststoffhülsen einfach nur noch mit der Reader-Statistik vergleichen musste.

Doch das Ergebnis dieser sorgfältigen Prüfung war nur eine Bestätigung für das, was Jessamy schon nach dem allerersten Blick auf den Textschirm des Readers vermutet hatte: Sondra hatte die Monate seit ihrem Einzug damit verbracht, sich systematisch durch Jessamys ganze Bibliothek hindurchzuarbeiten.

Sie hatte jedes einzelne Buch gelesen, das sie vorgefunden hatte, einfach alles, manches davon sogar mehrmals wie zum Beispiel die beiden Ratgeber für Katzenhalter (Deine Katze das unbekannte Wesen und Mit einem Raubtier auf Du und Du), verschiedene Reisebeschreibungen (unter anderem Veetan — Wege durch die Wildnis oder Gelebte Geschichte auf Celja III) und sozusagen als Sahnehäubchen obendrauf noch eine ganze Phalanx von grässlich kitschigen Abenteuer- und Liebesromanen, die eigentlich Kaye Drumheller gehörten, aber in der Hektik ihrer ziemlich überstürzten Abreise zurückgeblieben waren (Schatten über Coruscant, Die Hexenkönigin von Dathomir, In den Fängen der Jedis, Die Sklavin des Sith-Lords und ähnlich haarsträubende Herz-Schmerz-Schmonzetten).

Sondra hatte nicht einmal vor dem Handbuch Allgemeine Vorschriften für imperiales Militärpersonal, überarbeitete Ausgabe, Band I bis III oder dem Standard-Leitfaden für Flottenoffiziere Halt gemacht, obwohl diese buchstäblich bedeutungsschweren Werke mit Sicherheit das genaue Gegenteil von dem waren, was man unter einem interessanten oder geistig anregenden Lesestoff verstand.

Tatsächlich hatte zu Jessamys Akademiezeiten die klassische Bestrafung von allzu vorwitzigen Kadetten darin bestanden, sie fünfzig Absätze aus den Allgemeinen Vorschriften abschreiben zu lassen,und das auf echtem Papier und mit einem echten, speziell für dieses Martyrium vorgesehenen Füller, einem fast schon prähistorischen Schreibutensil aus dunklen, barbarischen Zeiten, das mit einer als Tinte bezeichneten Flüssigkeit verwendet wurde und immer dann, wenn man am wenigsten damit rechnete, hässliche Kleckse produzierte!

Diese von tödlicher Langeweile erfüllte Tortur hatte sogar den hartgesottensten Frechdachs bemerkenswert schnell zu aufrichtiger Reue veranlasst und ihn, so weit Jessamy das beurteilen konnte, ziemlich nachhaltig zur Räson gebracht.

Und was den Standard-Leitfaden anging, so kannte Jessamy jemanden, der schwor, mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie der hochdekorierte Commander einer TIE-Jäger-Staffel unter dem paralysierenden Einfluss dieser mühseligen Lektüre vorübergehend ins Wachkoma gefallen war …

Die bloße Vorstellung, dass sich irgendjemand die ebenso wortgewaltigen wie gehirnlähmenden Kopfgeburten irgendwelcher Stabsstellen-Schreibtischhengste freiwillig zu Gemüte führte, erfüllte Jessamy mit einem Gefühl ungläubiger Ehrfurcht. Und doch bestand kein Zweifel daran, dass Sondra sie genauso verschlungen hatte wie all ihre anderen Bücher auch – welcher seltsame Impuls auch immer sie dazu getrieben haben mochte …

„Verstehst du das?" fragte Jessamy den Kater, der schmeichelnd um ihre Beine strich und sie immer wieder auffordernd mit dem Kopf in die Kniekehlen knuffte, um die Aufmerksamkeit seiner Dosenöffnerin in die einzig richtige Richtung zu lenken.

Der Kater warf ihr einen konzentrierten topasfarbenen Blick zu und maunzte einmal kurz, was man als eindeutiges ,Nein!' interpretieren konnte – oder auch als Aufforderung, sofort eine kleine Rückenmassage und einen vollen Futternapf rüberwachsen zu lassen.

Jessamy, die ihre Katzen-Ratgeber noch öfter gelesen hatte als Sondra (was man von den Allgemeinen Vorschriften und dem Standard-Leitfaden nicht unbedingt behaupten konnte!) und sich daher keinerlei Illusionen über die Prioritäten dieses ganz bestimmten unbekannten Wesens machte, interpretierte seine Botschaft richtig und widmete sich ausgiebig dem vernachlässigten Wohlbefinden ihres anschmiegsamen Mini-Raubtieres, bevor sie endlich den Weg in Badezimmer und Küche fand, um nach einer ausgiebigen Reinigung in eigener Mission den Kühlschrank zu plündern.

Doch ihre Entdeckung konnte sie weder unter dem sanften lauwarmen Geriesel der Dusche noch vor ihrem mit Appetithappen gefüllten Teller vergessen. Und so kam es, dass sie ihr Abendessen sofort im Stich ließ und sich selbst in ein Empfangskomitee verwandelte, als sie die Wohnungstür aufgehen hörte …

„Hallo Sondra. Sag mal, warum hast du …"

Jessamy brach jäh ab, als sie ihre Untermieterin erblickte, die regungslos vor der Tür stand, den Codeschlüssel noch in der Hand, und nach einer Schrecksekunde sofort wie das personifizierte schlechte Gewissen aussah. Und dazu hatte Sondra auch allen Grund, denn das fesche lindgrüne Kleid, das sie gerade trug, passte ihr zwar wie angegossen, war aber leider nicht ihr Eigentum …

Sieh mal einer an, dachte Jessamy in dem betäubten, aber fragilen Schweigen, das sich jetzt wie eine schillernde Seifenblase zwischen ihnen ausdehnte, jederzeit bereit zur Implosion. Sie ist auf den Zentimeter genauso groß wie ich ...

Sie starrte unwillkürlich von Sondras schmaler Taille, die von einem breiten weißen Gürtel besonders vorteilhaft zur Geltung gebracht wurde, auf ihre Füße hinunter, die in zierlichen, ebenfalls verdächtig bekannt wirkenden Sandaletten steckten.

Alles an ihr ist auf den Zentimeter genauso groß wie ich!

„Oh Gott! Sam … Ich wusste nicht … Ich hatte ja keine Ahnung, dass du heute schon zurückkommst", hauchte Sondra schließlich verlegen.

„Ja, das sehe ich. Jetzt komm schon rein oder willst du da draußen Wurzeln schlagen?" sagte Jessamy mit einer Schärfe, die sie selbst überraschte.

Sondra huschte sofort herein und schloss leise die Tür hinter sich. „Ich kann alles erklären, Sam."

„Ach ja?"

Jessamy verschränkte die Arme über der Brust und musterte ihr Gegenüber noch einmal von oben bis unten, was zur Folge hatte, dass sie auch noch eine feine Goldkette mit einem Medaillonanhänger an Sondras Hals entdeckte, die sie zum letzten Mal in ihrem eigenen Schmuckkästchen gesehen hatte. Und irgendwie setzte das der ganzen Angelegenheit die Krone auf, denn diese Kette war das letzte Winterfest-Geschenk, das Jessamy von ihren Eltern bekommen hatte. Das Medaillon enthielt ein winziges Holo – das letzte gemeinsame Holo von Jeoff und Elissa Sorkin überhaupt! – und es bedeutete ihr schon aus diesem Grund sehr viel.

„Na, auf die Erklärung bin ich jetzt aber gespannt!"

Sondra knetete nervös ihre Finger. „Hör zu, Sam, ich weiß, dass du wütend bist, aber versuch wenigstens, es zu verstehen …"

„Was soll ich verstehen? Dass du hinter meinem Rücken in meinen Sachen herumschnüffelst oder dass du sie dir einfach nach Lust und Laune ausleihst?"

„Ich hab's nicht böse gemeint. Ich hätte ja auch alles sofort wieder zurückgegeben."

„Oh! Jetzt fühle ich mich natürlich gleich viel besser!"

„Ich weiß, ich hätte das nicht tun dürfen …"

„Da hast du verdammt Recht!"

„Es tut mir wirklich sehr, sehr Leid. Es war ja auch nur dieses eine Mal und …"

„Nur dieses eine Mal? Ach, komm schon, Sondra – glaubst du wirklich, dass ich nicht gemerkt habe, dass du meinen ganzen Kleiderschrank umorganisiert hast?"

„Na schön, ich geb's ja zu. Aber es war nicht so, wie du denkst, Sam. Ich wollte eigentlich nur eine von deinen Blusen aufhängen, die ich mitgewaschen habe, und dabei ist rein zufällig eine andere vom Bügel runtergerutscht … und weil ich schon mal dabei war ... na ja ... da habe ich eben gleich ein bisschen aufgeräumt."

„Wie nett von dir!"

„Ich dachte, du würdest dich darüber freuen."

„Würdest du dich darüber freuen, wenn ich rein zufällig in deinem Schrank herumkrame?"

„Sei bitte nicht böse auf mich, Sam. Es ist nur … Du siehst immer so schick aus, ohne dir große Umstände zu machen. Und ich habe gedacht ... Ich habe einfach gedacht, wenn ich deine Sachen mal anprobiere – nur um zu sehen, wie sie an mir wirken –, dann würde ich vielleicht ... Na ja, du weißt schon."

„Du meinst, du wolltest rausfinden, wie man sich in Schale wirft, ohne dir erst einen Berg neue Klamotten kaufen und dafür einen Haufen Credits aus dem Fenster werfen zu müssen?"

„Ja – so ungefähr."

„Aber ich habe dich nicht nur bei einer kleinen Modenschau vor dem Spiegel erwischt, Sondra. Ich habe dich dabei erwischt, dass du in meinen Sachen unterwegs warst, den ganzen Tag, vielleicht sogar schon die ganze Zeit über!

Vielleicht findest du jetzt, dass ich einen Riesenwirbel darum mache. Aber es geht mir gar nicht mal so sehr darum, dass du dir etwas von mir ausgeliehen hast. Nein, der springende Punkt ist, dass du es dir einfach klammheimlich genommen hast. Du hättest mich wenigstens vorher fragen können."

„Aber du warst doch gar nicht da."

„Dann hättest du eben warten müssen, bis ich wieder heimkomme!"

Sondra biss sich auf die Lippen. „Du hast ja Recht, Sam. Ich hätte das nicht tun sollen. Es ist nur ... Heute war ein ganz besonderer Tag für mich und da wollte ich eben ganz besonders gut aussehen."

Wenn es ihre Absicht gewesen war, mit diesem Geständnis Jessamy den Wind aus den Segeln zu nehmen, dann hatte sie es geschafft. Jessamy war von einem Augenblick auf den anderen völlig entwaffnet. Als sie Sondra so vor sich stehen sah, ebenso demütig wie reumütig und irgendwie wehrlos wie ein sehr junges Mädchen, das ganz alleine den ersten unsicheren Schritt in die Untiefen der Erwachsenenwelt wagte, fühlte sie förmlich, wie ihr Ärger dahinschmolz und sich in nichts auflöste.

Etwas milder sagte sie: „Du wolltest dich für ein Date aufbrezeln?"

„So eine Art Date, ja."

Jessamy fragte sich, wie ein Rendezvous aussehen und ablaufen mochte, das hinterher mit der leicht ominösen Klassifizierung „so eine Art" abgetan wurde, aber Sondras Beziehungskisten gingen sie Gott sei Dank überhaupt nichts an – noch nicht.

„Und? Sind deinem Verehrer wenigstens fast die Augen aus dem Kopf gefallen vor lauter Bewunderung?" fragte sie trocken.

„Ja."

Sondra lächelte ein wenig. Ob dieses Lächeln der Erinnerung an den offenbar ziemlich erfolgreich verlaufenen Abend galt oder dem Friedensangebot, das ihr gerade gemacht worden war, konnte Jessamy nicht beurteilen.

„Na schön", sagte sie schließlich, als ihre edleren Regungen widerstrebend die Oberhand gewannen. „Aber wenn du das nächste Mal vorhast, in meinem mühsam zusammengesparten Jorgos-Gardani-Fummel Männerherzen zu brechen, dann fragst du mich vorher, okay?"

Sondra strahlte sofort auf wie eine Supernova. „Danke, Sam. Du bist immer so nett zu mir."

„Ich bin zu nett für diese Welt", seufzte Jessamy und damit war das Thema gegessen und vom Tisch – ganz im Gegensatz zu ihrem Abendessen.

Erst als sie sich wieder darüber hermachte (unter den wachsamen und zunehmend vorwurfsvollen goldenen Augen des Katers, der im Interesse seiner stark gefährdeten schlanken Linie dieses eine Mal vergeblich auf ein Extrahäppchen hoffte!), fiel Jessamy ein, dass in der allgemeinen Aufregung ein ganz anderes Thema sang- und klanglos unter den Tisch gefallen war.

Aber Sondra trällerte im Badezimmer leise vor sich hin – ihre Verabredung musste wirklich sehr erfolgreich verlaufen sein – und angesichts ihrer ungewohnt gelösten Stimmung brachte Jessamy es einfach nicht über das Herz, sie damit aufzuziehen, dass sie sich irgendwo zwischen Edramareks lyrischen Ergüssen und Kayes Zuckerwatten-Romantik ausgerechnet die imperialen Dienstvorschriften reingezogen hatte, die mit Poesie und ähnlich zarten Empfindungen herzlich wenig zu tun hatten.

Vielleicht war Jessamy tatsächlich zu nett für diese Welt. Vielleicht war sie sogar viel zu nett – das war jedenfalls Zev Gilfoys Meinung. Und mit dieser Meinung hielt er auch nicht hinter dem Berg, als die Rede auf die jüngsten Ereignisse kam …

Jessamy war sich nicht sicher, ob es so etwas wie Liebe auf den ersten Blick gab, aber Hass auf den ersten Blick gab es ganz bestimmt – Zev war der lebende Beweis dafür. Die unterschwellige Antipathie, die er Sondra von Anfang an entgegengebracht hatte, hatte sich nach dem Vorfall auf der Nivess zu einer offenen Aversion ausgewachsen. Wann immer er Sondra begegnete, was sich leider nicht ganz vermeiden ließ, legte er ihr gegenüber eine mit Gift geladene Höflichkeit an den Tag, die zusammen mit seinem feindseligen Blick vielsagender war als eine offene Beleidigung.

Nicht einmal die Regresszahlung von Interstellar Floyd, der größten Versicherungsgesellschaft von Devon, hatte daran etwas geändert. (Es war Jessamy übrigens immer noch ein Rätsel, wie Sondra es geschafft hatte, ihre Versicherung dazu zu bringen, Schadensersatz zu leisten, denn Zev hatte aus purem Trotz bis zum Schluss jede Kooperation verweigert und weder die geforderte schriftliche Aufstellung über seine im Meer versenkten Habseligkeiten noch die besonders begehrte Rechnung für die neue VidCam herausgerückt. Aber Interstellar Floyd hatte trotzdem einen sehr großzügig bemessenen Scheck ausgestellt, der auf Sondras Bitte hin von Jessamy überreicht und erst nach einer langen hitzigen Diskussion mit Todesverachtung von Zev angenommen worden war.)

Unter diesen Umständen war die Episode mit dem Ausgeh-Outfit, das Sondra sich einfach so unter den Nagel gerissen hatte, natürlich Wasser auf Zevs Mühle. Jessamy bereute sofort, ihm überhaupt davon erzählt zu haben – von Sondras Bücherwurmaktivitäten ganz zu schweigen –, denn wenn Zev erst einmal anfing, sich über Sondra auszulassen, fand er so schnell kein Ende mehr damit.

Als der Sturm sich nach einer Viertelstunde immer noch nicht gelegt hatte, versuchte Jessamy es mit einem Kuss, aber mit einem so durchsichtigen Trick ließ Zev sich nicht ablenken, wenn es um seine Erzfeindin ging.

Doch irgendwann fand Jessamy, dass sie sich jetzt wirklich genug wilde Spekulationen über Sondras mutmaßliches Verständnis von grundsätzlichen Begriffen wie „mein" und „dein" angehört hatte.

„Es war ja schließlich nur dieses eine Mal!" sagte sie schroff, obwohl sie nicht eine Minute lang an Sondras Beteuerungen in diesem Punkt geglaubt hatte.

Zev ignorierte diesen Warnschuss vor den Bug natürlich und sprach ungeniert laut aus, was Jessamy heimlich dachte.

„Woher willst du das wissen? Du hast doch keine Ahnung, was diese Frau so alles treibt, während du durch das All kurvst. Wahrscheinlich bedient sie sich jeden Tag aus deinem Kleiderschrank. Wahrscheinlich schläft sie sogar schon jede Nacht in deinem Schlafanzug hier in diesem Bett. Wundern würde es mich jedenfalls nicht."

„Findest du nicht, dass du ein bisschen übertreibst?"

„Findest du nicht, dass du ein bisschen zu mitfühlend und verständnisvoll bist? Aber auf diese Tour reitet sie ja, deine kleine Neurotiker-Freundin. Vielen, vielen, viiielen Dank, ihr seid ja alle sooo lieb zu mir!" säuselte Zev mit hoher Fistelstimme.

„Musst du sie unbedingt nachäffen?"

„Wer äfft hier wen nach? Ach Sam, merkst du eigentlich gar nicht, was hier los ist?"

„Scheinbar stehe ich heute irgendwie auf der Leitung, ich habe nämlich wirklich keinen blassen Schimmer, wovon du überhaupt redest, Professor Allwissend. Na, was ist? Weihst du mich irgendwann in das große Geheimnis ein oder sonderst du lieber weiter Orakelsprüche ab, bis ich vor Neugier gestorben bin?"

Es war bezeichnend für die momentan ziemlich einseitige Zielerfassung von Zevs Kampfgeist, dass diese geballte Ladung Spott wirkungslos an ihm abprallte.

Er nickte nur nachdenklich vor sich hin und sagte dann aufreizend gönnerhaft: „Dir fällt das natürlich nicht so auf wie mir. Du kannst dich ja schließlich nicht selbst beobachten und dich mit Sondra vergleichen. Nein, nein, man muss schon daneben stehen, man muss euch beide zusammen sehen und erleben, um es zu merken."

„Um was zu merken? Würdest du mir bitte endlich klipp und klar sagen …"

„Warte, nicht so schnell. Dazu muss ich erstmal ein bisschen weiter ausholen. Also ..

„ZEV!"

„Wie kann man nur so ungeduldig sein?" rief Zev, der selbst die Ungeduld in Person war. „Sag mal, springst du den Lamettaträgern in deinem fliegenden Eimer auch immer gleich an die Kehle, wenn sie mehr als zwei Sätze zu dir sagen?"

Jessamy dachte, dass es von Zeit zu Zeit durchaus gute Gründe gab, ihren „Lamettaträgern" an die Kehle zu springen, aber übertriebene Redseligkeit gehörte wahrhaftig nicht dazu. Und natürlich war es weder auf der Warbride noch sonst wo ratsam, irgendjemandem, der ein imperiales Rangabzeichen trug, an die Kehle zu springen.

Deshalb war es auch meilenweit von der eher zahmen Wirklichkeit entfernt, als sie jetzt aus reinem Widerspruchsgeist tollkühn behauptete: „Bei jeder Gelegenheit!"

„Wow! Das macht sich bestimmt wirklich gut in deiner Personalakte. Auf diese Weise bringst du es garantiert noch bis zum Admiral – in tausend Jahren oder so. Falls sie dich nicht vorher einlochen oder dich einfach aus der nächstbesten Luftschleuse werfen, was zwar eine schreckliche Verschwendung, aber irgendwie menschlich verständlich wäre. Aber lassen wir das. Spitz jetzt lieber mal deine süßen kleinen Ohren und hör mir einfach nur ganz ruhig zu – versuch es wenigstens, okay?"

Jessamy warf ihr Kopfkissen nach ihm (das Gespräch fand, wie schon erwähnt, in ihrem Bett statt, das aus den verschiedensten Gründen die ideale Arena für einen Beinahe-Streit war), was nicht unbedingt ein Zeichen für ihre Bereitschaft war, die Ohren zu spitzen und einfach nur ganz ruhig zuzuhören. Aber so leicht war Zev nicht zu entmutigen.

Er ließ das Kissen, das er gerade noch abgefangen hatte, auf den Boden fallen und entsorgte vorsichtshalber auch gleich zwei oder drei andere potenzielle Wurfgeschosse in dieselbe Richtung, um Jessamy nicht unnötig in Versuchung zu führen.

Nachdem er auch noch den Kater verscheucht hatte, der auf die unerklärliche und sehr verwirrende Anwesenheit eines weiteren splitterfasernackten Zweibeiners auf seiner üppig gepolsterten Spielwiese mit aggressiver Eifersucht reagierte und daher am Fußende auf der Lauer lag, um alle Zehen, Sohlen und Fersen, die sich in seine Nähe wagten, mit zornigen Tatzenhieben in die Flucht zu schlagen, rollte Zev sich in eine bequeme Seitenlage, stützte das Kinn in die Hand und den Ellbogen auf das allerletzte Kissen, und begann damit, die Perlen seiner Weisheit vor seinem undankbaren Publikum auszuschütten.

„Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, dass deine Sondra überhaupt keine eigene Meinung hat? Sie orientiert sich in allem, was sie sagt und tut, immer mehr nach dir und nur nach dir allein, Sam."

„Jetzt übertreibst du aber wirklich!" protestierte Jessamy und rettete gleichzeitig mit einem schnellen Griff ihre schöne Patchwork-Tagesdecke vor dem frustgeladenen Tatendrang des Katers.

Sie wollte ihn zu sich zu locken, um ihn über die Enttäuschung hinwegzutrösten, aber der Kater strafte sie mit Nichtachtung. Er bezog vor der geschlossenen Schlafzimmertür Stellung, fixierte das unüberwindliche Hindernis, das seinem würdevollen Abgang im Weg stand, mit starrem Blick und haderte sichtlich mit sich und der hartherzigen verständnislosen Menschenwelt, die ihn umgab.

Jessamy war davon so beeindruckt, dass sie aufstand und ihm den Weg in die Freiheit öffnete, woraufhin der Kater gravitätisch wie eine verbannte königliche Hoheit in sein Exil schritt, ohne ihr auch nur einen Blick zu gönnen. Jessamy schwor sich, später alles wieder gut zu machen, kehrte aber vorläufig zu Zev zurück, der genau so viel Aufmerksamkeit verdiente – wenn auch nicht ganz so viel, wie er sich einbildete …

„Nein, ich übertreibe nicht. Es ist genau so wie ich sage. Denk doch mal nach, Sam! Erinnerst du dich noch an die Sache mit diesem Wie-heißt-er-noch-gleich-Komponisten? Erst findet Sondra ihn ganz toll, dann plötzlich nicht mehr – und das keine drei Sekunden, nachdem du klar gestellt hast, dass dich sein Gedudel nervt!

Und wie war das gestern, als wir uns zusammen die Nachrichten angesehen haben? Weißt du noch, wie sie das Interview mit Gelana Mer'Kell gebracht haben, als sie grünes Licht für den Abbau von Tibannagas im Sirangatti-Nationalpark geben wollte?

Die aufgetakelte alte Schachtel hat irgendwas von neuen Arbeitsplätzen und einer besseren Infrastruktur für die ganze Region gefaselt, obwohl jeder inzwischen ganz genau weiß, dass sie sich die vielen teuren Klunker an ihren Wurstfingern bestimmt erst seit den Bestechungsgeldern der Minengilde-Lobby leisten kann.

Aber deine Sondra war einfach hingerissen von ihrem ganzen Gelaber – bis du gesagt hast, dass man eine Umweltministerin, die zulässt, dass ausgerechnet in einem Naturschutzgebiet ein Bergwerk eröffnet wird, ohne Taschenlampe in einem Grubenschacht aussetzen sollte. Und prompt stößt Klein-Sondra ins selbe Horn und trompetet heraus, dass Umweltschutz natürlich immer vorgeht und dass korrupte Politiker der Bodensatz der Menschheit sind und bla bla bla ...

Und so geht das ständig, Sam! Ich könnte dir jetzt auf Anhieb noch ein Dutzend Beispiele dafür aufzählen, wenn es mir nicht einfach zu mühsam wäre. Aber Tatsache ist, dass Sondra immer sofort auf deine Seite umschwenkt – ganz egal, um was für ein Thema es gerade geht! Wenn du weiß sagst, sagt sie grundsätzlich auch weiß. Und wenn für dich etwas schwarz ist, dann ist es für sie gleich schwarz wie die Nacht."

Jessamy fühlte sich dazu verpflichtet, für Sondra Partei zu ergreifen – obwohl sie selbst gar nicht so genau wusste, warum eigentlich …

„Sie ist einfach nur zu schüchtern, um auf ihrer eigenen Meinung zu bestehen, das ist alles, Zev. Sie mag mich. Sie bewundert mich sogar. Sie will irgendwie so sein wie ich. Wahrscheinlich passt sie sich deshalb so total an. Das ist natürlich nicht gut – nicht gut für sie, meine ich –, aber so schlimm ist es nun auch wieder nicht."

Zev stöhnte theatralisch auf. „Du willst es einfach nicht verstehen, oder?"

„Was genau soll ich denn verstehen?"

„Sam, am Anfang wusste Sondra nicht einmal, was Redrox überhaupt ist, oder? Jetzt dröhnt sie sich den ganzen Tag damit zu. Edramarek war praktisch ein Fremdwort für sie. Jetzt zieht sie ihn sich rein bis zum Geht-nicht-mehr, zusammen mit deinem ganzen anderen Kram. Sie hört deine Musik, sie liest deine Bücher, sie plappert alle deine Ansichten nach und jetzt fängt sie auch noch damit an, deine Kleider anzuziehen. So schlimm ist es nun auch wieder nicht? Vielleicht doch, Sam, denn das ist nur die Spitze vom Eisberg.

Ja, sie bewundert dich. Und ja, sie will irgendwie so sein wie du. Aber was hier läuft, geht schon einen Tick über eine ganz normale Schwärmerei plus Nachahmungstrieb hinaus. Sondra übernimmt nicht nur deinen Geschmack, deinen Lebensstil, deine Weltanschauung, nein, Sam, sie übernimmt dich, dich selbst von Kopf bis Fuß. Sie äfft dich nach. Sie imitiert deine ganze Gestik, die Art, wie du gehst, wie du dasitzt, wie du redest, wie du lachst, wie du deine komische Himmelfahrtsnase rümpfst, wenn du dich über mich aufregst – die tausend Kleinigkeiten, die aus dir unverwechselbar Sam Sorkin machen. Sie macht dir alles nach ... alles! Sie ist wie dieser Pantomime in der 68. Straße, du weißt schon, dieser Typ in der Fußgängerzone, der immer die Leute parodiert. Aber was Sondra da abzieht, ist keine Parodie. Es ist todernst."

„Ach, das ist ja verrückt!"

„Ja, das ist es – und ganz schön unheimlich, wenn du mich fragst."

„So habe ich es nicht gemeint, Zev, und das weißt du auch ganz genau. Du bist verrückt! Was soll das alles? Na schön, du kannst Sondra nicht ausstehen, aber du steigerst dich da allmählich wirklich in etwas rein …"

„Ich mache mir nur Sorgen um dich", protestierte Zev.

„Und ich mache mir Sorgen um dich. Du bist ja richtig besessen von Sondra."

Jessamy schwieg einen Augenblick, bevor sie sehr viel leiser fortfuhr: „Wenn ich dich nicht so gut kennen würde, wenn ich nicht genau wüsste, dass so etwas einfach unter deinem Niveau ist, dann würde ich mich jetzt langsam fragen, ob du mich vielleicht gegen sie aufhetzen willst – und zwar aus einem ganz bestimmten Grund."

„Um sie los zu werden, damit ich bei dir einziehen kann? Das ist absurd, Sam!"

„Ich weiß. Und ich bin sehr froh darüber, dass ich es so genau weiß – es wäre ganz schön traurig, wenn es nicht so wäre."

„Du glaubst mir nur nicht, weil du das meiste davon nicht mit eigenen Augen sehen kannst. Aber irgendwann wird es sogar dir auffallen. Ich kann warten, bis es so weit ist."

„Also wirklich, Zev!"

„Ich habe es dir schon damals auf der Nivess gesagt und ich sage es dir hier und jetzt noch einmal: Diese Frau hat einen gewaltigen Sprung! Ich weiß nicht, was Sondras Problem ist, aber wenn das mit ihr so weiter geht, wird es eines Tages todsicher zu unserem Problem. Du wirst schon noch sehen, wer hier von wem besessen ist, Sam. Und spätestens dann wirst du mir glauben."

Obwohl Jessamy das Eintreffen dieser Prophezeiung genauso sehr bezweifelte wie Zevs Unvoreingenommenheit in der ganzen Angelegenheit, machte sie sich Gedanken darüber, sobald sie dazu Gelegenheit und vor allem die nötige Muße fand, was erst der Fall war, nachdem Zev wieder gegangen war – geschniegelt und gebügelt für ein wichtiges Geschäftsessen in der City, aber immer noch ziemlich in Wallung (was weniger an dem vorangegangenen Geplänkel lag als an den ziemlich intensiven Friedensverhandlungen, die es unweigerlich nach sich gezogen hatte!). Doch so sehr Jessamy sich in der wieder eingekehrten Stille auch den Kopf zerbrach, sie kam einfach zu keinem vernünftigen Ergebnis …

In ihren Lieblingssessel gekuschelt und den Kater auf den Knien (er war zur Versöhnung bereit, sobald die bedrohlich dominante männliche Präsenz aus seinem Revier verschwunden war!), grübelte sie vor sich hin, während sie sanft das seidig schimmernde Fell kraulte, was mit einem seligen Schnurren gewürdigt wurde.

Bauschte Zev alles nur auf oder sah er, dessen Blick in Sondras Fall nicht gerade durch die rosarote Brille reiner Menschenfreundlichkeit getrübt wurde, klarer und tiefer als Jessamy? War sie für Sondra einfach nur ein Ideal, dem sie nacheiferte? Hoffte Sondra nur, sich weiter zu entwickeln, ein ganz neuer Mensch zu werden, eine erfolgreichere, glücklichere Frau, wenn sie sich ein paar Facetten von Jessamys Wesen und Lebensart aneignete?

Oder war sie tatsächlich schon im Begriff, sich selbst einer radikalen Umerziehung, ja beinahe schon einer Art Gehirnwäsche zu unterziehen? Bahnte sich hier vielleicht sogar eine ausgewachsene Persönlichkeitskrise an? Wo lag überhaupt die Grenze zwischen Anpassungsfähigkeit und Identitätsverlust und wer bestimmte ihren Verlauf? Zev? Jessamy? Sondra selbst?

Jessamy seufzte. So verworren die Sache auch war, in einem Punkt hatte Zev leider Recht: Sondra hatte sie offensichtlich zu ihrer ganz privaten Heldenikone auserkoren und so schmeichelhaft das auf den ersten Blick auch sein mochte, auf den zweiten war es eher belastend, um nicht zu sagen lästig. Jessamy wollte kein Idol sein, sie wollte nicht auf einen Sockel gestellt und angehimmelt werden. Und auf keinen Fall wollte sie nachgeahmt werden – und schon gar nicht nachgeäfft!

„Aber das kann ich mir sowieso nicht vorstellen. Ich glaube, Zev hört einfach nur das Gras wachsen – typisch Mann eben", erklärte Jessamy dem Kater.

„Mauuu!" sagte der Kater und kniff sie spielerisch in die Hand und das war alles, was er dazu beizutragen hatte.

Zevs Unkenrufen zum Trotz verliefen die nächsten Wochen ruhig und friedlich und völlig ereignislos – wenn man mal davon absah, dass Sondra in einem Anfall von Kaufrausch kreuz und quer durch sämtliche Läden und Secondhandshops der Stadt jagte und sich eine komplette neue Garderobe zulegte, die zu neunzig Prozent aus Zwillingsstücken von Jessamys eigenen Kleidern bestand!

Aber das war eben typisch Frau und vollkommen normal, wie Jessamy ein wenig gereizt verkündete, als sie von Zev prompt mit einem triumphierenden Na-was-hab-ich-dir-gesagt-Blick bedacht wurde.

Zevs Antwort beschränkte sich auf eine skeptisch hochgezogene Augenbraue. Er hatte dazugelernt oder tat jedenfalls so als ob …


Die Hitzewelle der letzten Sommertage war beinahe nahtlos in einen langen goldenen Herbst übergegangen, der die Straßenschluchten von Delamere mit flirrenden Lichtspeeren füllte und die zahllosen dicht belaubten Baumkronen in den Alleen und Stadtparks in einem spektakulären Feuerwerk aufflammen ließ. Unter der kühlen klaren saphirblauen Glaskuppel des Himmels leuchtete und funkelte und strahlte einfach alles, die Bäume, die Fensterfronten der Häuser, die Menschen …

Kaye Drumheller strahlte nicht. Tatsächlich sah sie ziemlich finster aus, als sie aus dem flachen Plasmabildschirm von Jessamys Kom-Einheit herausstarrte. Ihre Stirn war von drei strengen waagrechten Falten durchkerbt und ihr großzügig geschwungener Mund, der von der Natur nur zum Lachen vorgesehen zu sein schien, war zu einer dünnen ärgerlichen Linie zusammengekniffen, wenn er nicht gerade eine Flut von unverständlichen Worten heraussprudelte.

Alles in allem machte sie den Eindruck, als ob irgendjemand oder irgendetwas sie gewaltig in Harnisch gebracht hatte. Das Problem war nur, dass der größte Teil von dem, was sie von sich gab, von rhythmisch auf- und abschwellenden Pfeiftönen und Knistergeräuschen überlagert wurde, was vermutlich auf irgendeinen technischen Defekt zurückzuführen war. Doch die wenigen Wortfetzen, die nicht in dem allgemeinen Rauschen und Piepsen untergingen, klangen bedenklich genug.

„ … dachte, wir wollten ... Schon so lange … Immer wieder und wieder versucht … Aus den Augen … was?"

An diesem Punkt schien Kaye selbst aufgefallen zu sein, dass mit der Übertragung etwas nicht ganz so war, wie es sein sollte, denn plötzlich schüttelte sie irritiert den Kopf und beugte sich ein wenig zur Seite, so dass sie kurz aus dem Sichtbereich der Kamera verschwand.

Was auch immer sie in diesen Sekundenbruchteilen angestellt hatte, es bewirkte nur, dass die ganze Geräuschkulisse mit der Phonstärke eines überhitzten Ionentriebwerkes aufheulte und Kayes verdrossenes rundes Gesicht – jetzt wieder sichtbar – sich Pixel für Pixel in das auflöste, was in Funkerkreisen nicht umsonst als „Schneesturm" bezeichnet wurde.

Im nächsten Augenblick brach die Verbindung völlig zusammen und Jessamy, die ebenfalls stirnrunzelnd vor lauter Konzentration über dieser stark verstümmelten Botschaft in ihrer Mailbox gebrütet hatte, war genauso klug wie vorher. Sie spielte die Aufnahme noch zweimal ab, nachdem sie den akustischen Verstärker ihrer Kom-Einheit ein wenig modifiziert hatte, aber sogar der Equalizer mit seinem Anti-Verzerrungs-Effekt war machtlos, wenn der aufgezeichnete Anruf von so erbarmungswürdiger Qualität war. Am Ende blieb Jessamy nichts anderes übrig als Kaye einfach zurückzurufen, was sie ohnehin vorgehabt hatte.

Seltsamerweise war ihre Verbindung mit der Giantana-Basis glockenklar und von keinerlei wie auch immer gearteten Störungen heimgesucht. (Die Wartungsteams auf Soraya mussten mit einer geradezu atemberaubenden Effizienz und Schnelligkeit arbeiten – schließlich lag Kayes Anruf laut der Echtzeitanzeige der Mailbox noch keine Stunde zurück!)

Ob es allerdings wirklich ein Vorteil war, das blasierte Dressmangesicht des Lieutenants, der das Callcenter von Giantana regierte, in seiner ganzen Pracht vor sich zu sehen, war eher fragwürdig – vor allem deshalb, weil sofort nachdem er Jessamy erkannt hatte, ein breites selbstgefälliges Grinsen darauf erschien, das das weißeste Gebiss seit der Erfindung des Zahnbleachings zur Schau stellte.

„Hallo Sonnenschein! Also wirklich, Sie scheinen ja ohne mich gar nicht mehr leben zu können", gurrte er. „Und was verschafft mir heute die Ehre?"

„Dasselbe wie immer", erwiderte Jessamy in dem kühlen indifferenten Ton, den sie zusammen mit einer Miene sphinxenhafter Undurchdringlichkeit speziell für Möchtegern-Charmebolzen wie ihn reserviert hatte. (Sie hatte schon früh gelernt, dass man gewissen Schwierigkeiten in ihrem Beruf am besten aus dem Weg ging, indem man sich Flirtversuchen gegenüber ungefähr so zugänglich zeigte wie eine mittelalterliche Burg während einer Belagerung: Fallgatter runter, Zugbrücke hoch, hinter jeder Schießscharte und Zinne ein Bogenschütze und oben auf dem Wehrgang jede Menge Kessel mit siedendem Pech.)

„Oh nein! Wie kann jemand, der so hübsch ist, nur so grausam sein? Jedes Mal, wenn ich Sie sehe, hoffe ich auf ein kleines Lächeln, auf einen Hauch von Interesse an meiner Wenigkeit. Aber leider, leider …" Der Lieutenant seufzte schmerzlich. „Sie brechen mir noch das Herz!" klagte er.

„Ach wirklich? Na, geben Sie mir ruhig Bescheid, wenn es so weit ist. Dann kaufe ich mir extra für Sie ein mit Spitzen besetztes Taschentuch und weine es jeden Tag um diese Uhrzeit klitschnass – wenn ich nicht gerade etwas Besseres vorhabe. Und jetzt stellen Sie mich bitte endlich durch, ja?"

Doch der Lieutenant schmollte jetzt und musste erst seine makellos manikürten Fingernägel einer eingehenden Begutachtung unterziehen, bevor er sich zu einer Antwort herablassen konnte.

„Ich glaube nicht, dass Drumheller hier auf dem Stützpunkt ist", sagte er schließlich.

Glauben ist nicht wissen, wie ein sehr weiser Mann mal behauptet hat. Also warum tun Sie uns beiden nicht den Gefallen und sehen einfach mal nach? Natürlich nur, wenn es Ihnen nicht allzu viel Mühe macht", sagte Jessamy und lächelte jetzt wirklich, was aber nur daran lag, dass sie gerade einen intensiven und überraschend realistischen Tagtraum durchlebte, in dem sie diesem uniformierten Lackaffen voller Wonne einen kräftigen Tritt in seine vier Buchstaben versetzte.

Vielleicht war es ein Fall von Gedankenübertragung, vielleicht auch nicht, jedenfalls verdrehte der Lieutenant vielsagend seine großen babylauen Augen unter den schmalen schwarzen Bögen seiner Brauen, die so vollkommen waren, als würde sich regelmäßig eine Kosmetikerin darum kümmern, dass auch ja kein überflüssiges Härchen in die falsche Richtung wuchs, und seufzte noch einmal, sehr viel lauter als zuvor.

Nachdem er so wortlos, aber unmissverständlich klargestellt hatte, dass von all den kaltherzigen männerhassenden Emanzen, die ihn jemals hatten abblitzen lassen, Jessamy die Allerschlimmste war, eine richtige Hexe, die roh und gefühllos auf seinem empfindsamen Ego herumtrampelte, fügte er sich in sein Schicksal.

„Na schön. Eine Minute", sagte er wehmütig und drückte auf eine Taste.

Sofort erschien auf dem Bildschirm das imperiale Hoheitszeichen, während aus dem Lautsprecher zackige Marschmusik klirrte.

Es mochte Zeitgenossen geben, die sich von dem Anblick dieses Ehrfurcht gebietenden Pausensymbols und den mitreißenden Pauken- und Trompetenklängen in eine so erhabene Stimmung versetzen ließen, dass sie darüber jedes Zeitgefühl verloren, doch Jessamy gehörte nicht dazu. Als aus der angekündigten einen Minute bereits zehn Minuten geworden waren, trommelten ihre Fingerspitzen auf der Tischplatte neben ihrem Kom einen zunehmend ungeduldigen Kontrapunkt zu der siebten Wiederholung der „Carida-Hymne".

Sie war gerade dabei, in einen neuen Tagtraum hinüberzugleiten, in dem dieser Callcenter-Dandy zum Gegenstand einer rabiaten, aber ziemlich eindrucksvollen Hai'Ku-Würgegriff-Demonstration wurde, als die Musik abrupt verstummte und das Pausensymbol wieder durch sein Gesicht ersetzt wurde.

„Tut mir unendlich Leid", verkündete der Lieutenant so fidel, dass man allen Grund hatte, an dem Wahrheitsgehalt dieser Aussage zu zweifeln. „Aber ich hab's Ihnen ja gleich gesagt. Drumheller ist nicht da. Um genau zu sein: Sie ist seit gestern zusammen mit unseren anderen Softwareingenieuren bei einem Fortbildungsseminar auf Sarskojeselo."

Jessamy wollte schon widersprechen (wie konnte Kaye seit gestern weg sein, wenn sie erst heute Abend von der Giantana-Basis aus auf Devon angerufen hatte?!), als ihr ein gewagter, aber sehr einleuchtender Gedanke durch den Kopf schoss, der sie dazu veranlasste, ihren bereits geöffneten Mund wieder zuzuklappen, ohne den Süßholzraspler am anderen Ende der Leitung ganz offen der Lüge zu bezichtigen.

„Die kommen alle erst nächste Woche zurück. Zwecklos, es vorher noch mal zu versuchen – es sei denn, Sie entwickeln zwischendurch doch noch ein bisschen Sehnsucht nach mir, Sonnenschein. Ich gebe die Hoffnung nicht auf", sagte Mr. Universum ölig und zwinkerte ihr kokett zu.

Jessamy zog es vor, das Gespräch zu beenden, bevor er auch noch auf die Idee verfiel, ihr zum Abschied eine Kusshand zuzuwerfen, was statt der erwünschten Sehnsucht eher einen spontanen Brechreiz bei ihr ausgelöst hätte.

Doch nachdem sie aufgelegt hatte, ließ sie sofort die Aufnahme von Kayes Anruf zum vierten Mal ablaufen. Und dieses Mal achtete sie nicht mehr auf das ausdrucksstarke Mienenspiel ihrer Freundin oder auf die Störgeräusche – das alles lenkte nur ab – , sondern hörte einfach nur ganz genau hin, die Augen halbgeschlossen, konzentrierter als je zuvor.

„ … dachte, wir wollten ... Schon so lange … Immer wieder und wieder versucht … Aus den Augen … was?"

Konnte Jessamy nicht doch einen Sinn aus diesen abgehackten Sätzen herausfiltern? Konnte sie nicht, wenn sie nur ein kleines bisschen ihre Phantasie anstrengte, die Lücken zwischen den einzelnen Worten schließen, sie logisch ergänzen und sich ungefähr zusammenreimen, worum es hier ging? Vielleicht doch, denn im Grunde genommen hatte das, was Kaye da von sich gab, bemerkenswert viel Ähnlichkeit mit dem, was Jessamy selbst schon ein paar Mal ausgesprochen und niedergeschrieben hatte. Vielleicht hatte Kaye ja nichts anderes gesagt als:

Ich dachte, wir wollten in Kontakt bleiben. Wir haben schon so lange nichts mehr voneinander gehört. Ich habe immer wieder und wieder versucht dich zu erreichen. Aus den Augen, aus dem Sinn, was?"

War das möglich? Hatte Kaye, wie immer zwischen Gutmütigkeit und Hitzköpfigkeit hin- und hergerissen, mitten in einem kleinen Zornausbruch angerufen, um Jessamy auszuzanken und ihr denselben Vorwurf um die Ohren zu schlagen, den auch Jessamy inzwischen schon mehrfach gegen sie erhoben hatte, nämlich dass sie sich seit einer Ewigkeit in Schweigen hüllte und jeden Kontaktversuch ignorierte?

Aber wenn das stimmt, dann würde das ja bedeuten, dass meine ganzen E-Mails und Anrufe in letzter Zeit gar nicht bei ihr angekommen sind – und ihre nicht bei mir!

Jessamy schnalzte leise mit der Zunge, als ihr die Implikationen dieser Schlussfolgerung bewusst wurden.

Wurden ihre Anrufe deshalb immer sofort in das Callcenter umgeleitet, wurde sie deshalb immer wieder von Lieutenant Un(Wider)steh(lich) abgewimmelt? Warum hatte er Jessamy zehn Minuten lang in einer Warteschleife hängen lassen? Hatte es wirklich so lange gedauert, eine einzelne simple Information aus dem Basis-Netzwerk zu fischen oder hatte der Lieutenant einfach nur genug Zeit gebraucht, um sich an eine ganz bestimmte Person zu wenden und von ihr ganz bestimmte Anweisungen zu erhalten?

Gab es da vielleicht jemanden in Giantana, der ein Interesse daran hatte, Kaye Drumheller zu isolieren, sie völlig von der Außenwelt abzuschotten? Ließ dieser Jemand einfach ihre ganze Korrespondenz unterschlagen und jeden Anruf, der für sie hereinkam, von einem gut dressierten Wachhund abfangen? Und wenn man schon mal so weit dachte: War Kayes letzte Nachricht wirklich nur von einem zufälligen technischen Defekt auseinander gepflückt worden oder hatte vielleicht jemand mit einem Störsender ein bisschen nachgeholfen?

Jessamy schaltete ihr Kom ab und ging in die Küche, um sich einen Tee zu machen. Sie hatte das Gefühl, dass angesichts dieser Entwicklungen eine kleine Stärkung angebracht war.

Der Kater schien derselben Meinung zu sein, denn er machte sich lautstark bemerkbar, sobald er Jessamys Zielrichtung angepeilt hatte. Er gab erst wieder Ruhe, nachdem sie ihm einen Kisscat-Knusper-Riegel mit naturidentischem Lachsaroma spendiert hatte, über den er so gierig herfiel, dass die garantiert katzenfellpflegenden Cerealien und Gemüseflocken in alle Richtungen flogen. Zu seinem Glück war seine Besitzerin zu beschäftigt, um sich darüber aufzuregen.

Sie wirbelte mit ihrem Löffel einen Beutel Orla Cray Spezial durch das kochend heiße Wasser in der riesigen magentaroten Tasse, die vor ihr stand, und starrte verträumt in die aufsteigenden Dampfwölkchen hinein wie eine Wahrsagerin in ihre Kristallkugel. Sie war Parsecs von ihrer Küche und dem kleinen Krümelmonster neben ihr entfernt …

Im Gegensatz zu Tausenden von Wehrdienstpflichtigen, die durch einen Einberufungsbefehl und oft genug gegen ihren Willen den Weg in die imperiale Armee fanden, hatte Jessamy sich aus freien Stücken für eine Offizierskarriere bei der Raumflotte entschieden. Schon aus diesem Grund war sie auf ihre eigene Weise durchaus loyal, was ihre Einstellung gegenüber dem Militär an sich anging.

Aber sie verwechselte diese Loyalität niemals mit Blauäugigkeit oder gar Blindheit. Sie sah sehr wohl die Schwächen, ja Gefahren eines Systems, das nur auf den granitharten Eckpfeilern Hierarchie, Kommandostruktur und Gehorsam beruhte. Denn letzten Endes waren sie alle vom niedrigsten Frontschwein bis zum höchsten Lamettaträger, wie Zev es auf seine blumige und nicht sehr respektvolle Weise ausgedrückt hätte nur Menschen aus Fleisch und Blut und jeder von ihnen hatte seine individuellen Fehler und Macken.

Die Werbeplakate der Rekrutierungsbüros, die Vorträge der Ausbilder an den Akademien und die hochtrabenden, auf Publikumswirkung bedachten öffentlichen Reden von Admirälen und Generälen waren immer mit großartigen Phrasen gespickt, wenn es um so theoretische Begriffe wie Charakterstärke oder Kameradschaftsgeist unter Soldaten ging. Wenn man ihnen Glauben schenken wollte, dann war die ganze Streitmacht des Imperiums eine einzige große Familie, in der jeder seinen ganz persönlichen Traum vom Glück wahrmachen konnte, so lange er dazu bereit war, sich an die Regeln zu halten. Aber das war eben nur eine schöne Theorie. Jessamy hatte während ihrer kurzen Laufbahn schon genug gesehen und gehört, um zu wissen, dass die Praxis anders aussah. Ganz anders!

Es war einfach eine Tatsache, dass es viel zu viele Schiffe, Raumbasen und Garnisonen gab, wo ein so unerfreuliches Phänomen wie Mobbing an der Tagesordnung war. Und es war ein offenes Geheimnis auch wenn es aus Prestigegründen immer wieder vehement bestritten wurde , dass gerade die Frauen, die schon aufgrund ihrer rein zahlenmäßigen Unterlegenheit und dem allgemein vorherrschenden Machismo einen schweren Stand hatten, auffallend oft Mobbingattacken ausgesetzt waren.

Doch Jessamy war sich vollkommen darüber im Klaren, dass bloßer Sexismus in solchen Fällen nicht unbedingt der ausschlaggebende Faktor war es gab überall Leute, die gar keinen besonderen Grund brauchten, um eine Abneigung gegen irgendeinen Außenseiter zu fassen, dem sie von da an das Leben zur Hölle machten. Und es mussten nicht einmal Vorgesetzte sein, die zu Quälgeistern mutierten, es konnten durchaus die vielgerühmten „Kameraden" sein. (Obwohl natürlich irgendwann immer eine maßgebliche Persönlichkeit die Bühne betrat, die entweder aktiv in dem Geschehen mitmischte oder passiv, indem sie die Täter deckte oder einfach ignorierte, was sich direkt vor ihrer Nase abspielte.)

Aber falls jemand doch das Pech hatte, ausgerechnet seinem Vorgesetzten ein Dorn im Auge zu sein, konnte er sich auf etwas gefasst machen schließlich gab es niemanden, der einem das Leben besser und leichter zur Hölle machen konnte als „der Chef', der allein schon durch seinen Rang grundsätzlich am längeren Hebel saß. (Jessamy hatte schon ihre eigenen Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt, aber sie kannte aus der ewig brodelnden Gerüchteküche ihrer zahlreichen Kollegen auch Namen, neben denen Sergeant Pinnbec und Captain Dakall so human und fürsorglich wirkten wie die Vorstandsvorsitzenden eines Vereins gegen Kindesmisshandlung.)

Wenn Kaye, die durch ihren „Frischfleisch"-Status in einer fest etablierten Gruppe besonders leicht verletzbar war, sich in Giantana mit den falschen Leuten angelegt hatte oder einfach so zur Zielscheibe für alle möglichen gehässigen Schikanen geworden war, dann steckte sie bis zum Hals in Schwierigkeiten. Und je länger Jessamy darüber nachdachte, desto sicherer war sie, dass es sich genau so verhielt. Schließlich hatte Kaye bei ihrem letzten Gespräch genug Andeutungen fallen lassen, die man gar nicht anders interpretieren konnte.

Und unter diesen Umständen hätte man schon ziemlich naiv sein müssen, um noch einen Zufall darin zu sehen, dass Kaye jetzt grundsätzlich nie mehr zu erreichen war, egal wann oder wie oft Jessamy es versuchte. Und natürlich gipfelte alles in diesem fast unverständlichen Anruf heute und der offensichtlichen Flunkerei über Kayes erneute angebliche Abwesenheit. Die Fakten passten einfach viel zu gut zusammen …

Jessamy schüttelte langsam den Kopf und seufzte ein wenig. Wenn es nur nach ihr gegangen wäre, wäre sie sofort nach Soraya geflogen, um nach Kaye zu sehen, aber eine derart überstürzte Aktion war schon von vornherein zum Scheitern verurteilt. Sie konnte schließlich nicht einfach unangemeldet vor einem imperialen Stützpunkt auftauchen und der Wache am Tor erzählen, dass sie eine liebe alte Freundin besuchen wollte.

Es fing schon damit an, dass sie gar nicht erst an das Tor und seine Wachen herankam, denn ohne Passierschein durfte sie nicht einmal die Sperrzone durchqueren, von der jede Basis umgeben war. Und für diesen Passierschein brauchte sie natürlich erstmal eine Genehmigung, die wiederum beantragt werden musste mit ungefähr hundert Formularen und mindestens tausend Durchschlägen für die verschiedenen zuständigen Stabsstellen.

Aber das A und O war eine gute Begründung, warum um Himmels willen sie auf die Schnapsidee verfallen war, überhaupt einen solchen Antrag einzureichen. Und Jessamy, die schon bei dem bloßen Gedanken an den zu entfesselnden Papierkrieg von einem leisen Schwindelgefühl erfasst wurde, glaubte irgendwie nicht daran, dass der Wunsch, Kaye Drumheller wiederzusehen, von offizieller Seite her als ausreichend gute Begründung angesehen werden würde. Eher würde man in einer so überflüssigen und emotional überfrachteten Kapriole einen guten Grund sehen, an Lieutenant Sorkins Verstand zu zweifeln. Und in diesem Fall würde man ihren Antrag nicht nur kategorisch ablehnen, sondern auch gleich noch dafür sorgen, dass Jessamys nächster Med-Check, der standardmäßig alle sechs Monate fällig war, ein bisschen vorverlegt wurde, damit ein erfahrener Psy-Tech sie sorgfältig auf weitere eindeutige Symptome für einen stressbedingten Nervenzusammenbruch oder eine noch ernstere Variation geistiger Zerrüttung untersuchen konnte.

Aber sogar wenn Jessamys Antrag durch einen glücklichen Zufall auf dem Schreibtisch eines gutgelaunten Weltbürgers mit einer besonders sozialen Ader landete, der in einem Anfall von Großmut dazu bereit war, beide Augen zuzudrücken und ein Gesuch zu bewilligen, das im Widerspruch zu allen derzeit gültigen Sicherheitsbestimmungen stand, ja, selbst dann hatte sie noch lange nicht gewonnen, denn das allerletzte Wort in so einer Angelegenheit hatte sowieso der kommandierende Offizier des Stützpunktes. Ohne seine ausdrückliche Erlaubnis lief hier gar nichts. Und wenn er sein Veto einlegte (was nach Lage der Dinge ziemlich wahrscheinlich war, auch wenn er sich natürlich auf die heiligen Prinzipien der militärischen Geheimhaltung und Spionageabwehr berufen würde), dann konnte Jessamy sich ihre offizielle Genehmigung sonst wohin stecken und sich vor den Laserzaunbarrikaden von Giantana auf den Kopf stellen, bis sie blau anlief.

Und dann gab es da noch einen Aspekt, der ganz entschieden gegen einen Besuch auf Soraya sprach, der wichtigste Aspekt von allen: Was hatte Kaye schon davon, wenn Jessamy plötzlich auf der Bildfläche erschien? Natürlich würde sie sich darüber freuen, natürlich würde ihr ein bisschen moralische Unterstützung ganz gut tun, aber letzten Endes würde sich ihre Situation dadurch auch nicht verbessern.

Im Endeffekt würde sie sich sogar verschlechtern, denn eines stand fest: Wer auch immer dafür verantwortlich war, was in Giantana vor sich ging, sein Einfluss dort war so groß, dass er Kaye regelrecht in der Versenkung verschwinden lassen und diesen Callcenter-Casanova in ein williges Sprachrohr für seine Schwindelgeschichten verwandeln konnte. Und er würde es ganz bestimmt nicht gerne sehen, wenn Kaye doch noch Gelegenheit bekam, sich einer außenstehenden Person anzuvertrauen, weil dadurch unweigerlich die Gefahr bestand, dass seine üblen Manipulationen ans Tageslicht kamen, von seinen anderen kleinen Machtspielchen ganz zu schweigen. Und was dann?

Auf jeden Fall würde er seine Wut an Kaye auslassen, die ihm bis zu ihrer nächsten Versetzung auf Gnade und Ungnade ausgeliefert war. Er würde es ihr heimzahlen oder es wenigstens versuchen und das war etwas, das um jeden Preis vermieden werden musste!

Jessamy angelte den Teebeutel heraus, beäugte kritisch das grünlichbraune Gebräu in ihrer Tasse und nippte behutsam daran. Doch das liebliche Aroma der Spezialmischung füllte ihren Mund, ohne den bitteren Geschmack von hilflosem Zorn fortzuspülen. Denn sie konnte es drehen und wenden, wie sie wollte, und alle vernünftigen Argumente der Welt ins Feld führen, aber irgendwie wurde sie das dunkle Gefühl nicht los, dass sie gerade im Begriff war, die arme Kaye im Stich zu lassen ...

Sie sann gerade darüber nach, ob sie die Vernunft zum Teufel jagen und doch ein Flugticket nach Soraya buchen sollte, Passierschein hin oder her, als sie die Wohnungstür ins Schloss fallen hörte und gleich darauf das gedämpfte Poltern von abgestreiften Schuhen, die im Flur auf den Boden fielen.

„Hey! Du bist ja heute ganz schön spät dran. Haben sie dir Überstunden aufgebrummt?" rief sie.

Sondras Antwort klang so atemlos, als wäre sie im Galopp das ganze Treppenhaus hochgestürmt, statt den Lift zu nehmen.

„Nein. Aber ich war auf dem Heimweg noch unten bei Ninios und du kannst dir gar nicht vorstellen, wie voll es in diesem Laden war. Ich musste ewig warten, bis ich endlich dran war. Vielleicht hätte ich mir doch lieber einen Termin geben lassen sollen, aber ich wollte es endlich hinter mich bringen."

Jessamy wollte schon fragen, was genau Sondra endlich hinter sich hatte bringen wollen, als ihr einfiel, dass mit „unten bei Ninios" nur der Friseursalon an der Ecke zur 75. Straße gemeint sein konnte. Außerdem erübrigte sich ihre Frage sowieso, weil Sondra genau in diesem Augenblick in all ihrem neuen Glanz in die Küche hereinschwebte. Und jetzt war es Jessamy, die unwillkürlich nach Luft schnappte, was bei dem Anblick, der sich ihr bot, auch kein Wunder war …

Sondras Wangen waren hochrot, ihre Augen glitzerten wie Sterne und ihre Stimme war vor Stolz und Aufregung mindestens eine Oktave höher als sonst.

„Es steht mir wirklich gut, nicht wahr? Sieht es nicht einfach toll aus?"

Sie wirbelte herum wie ein aufgedrehter Kreisel, damit Jessamy sie von allen Seiten bewundern konnte.

Doch Jessamy war beim besten Willen nicht dazu in der Lage, ein Kompliment oder auch nur einen Kommentar über die Lippen zu bringen. Die Sekunden tickten vorüber und sie saß einfach nur da und starrte. Sie konnte nicht glauben, was sie da sah …

Sondras Ekstase verebbte und verwandelte sich in Enttäuschung. „Es gefällt dir nicht."

„Doch, doch! Es ist nur so …" Jessamy suchte krampfhaft nach einem passenden Wort und fand in ihrer Verwirrung keines. „… so ungewohnt", fügte sie matt hinzu.

Sie hatte keine Ahnung, was sie sonst noch sagen sollte, obwohl sie jetzt schon in allen Einzelheiten wusste, was Zev dazu sagen würde, sobald er es erfuhr.

Die Zeiten von Sondras Löwenmähne waren aus und vorbei. Die wallenden schulterlangen Kringellocken waren verschwunden. Sie hatten einem frechen jungenhaften Kurzhaarschnitt Platz gemacht, der Sondra tatsächlich ausgezeichnet stand ...

… und der von dem M-förmigen Ansatz in ihrem schmalen Nacken über die Position des Seitenscheitels bis hin zur letzten welligen Ponyfranse eine buchstäblich haargenaue Kopie von Jessamys eigener Frisur war!

Vardiss:

„ … und in diesem Augenblick habe ich endlich begriffen, dass Zev vollkommen Recht hatte: Sondra war tatsächlich auf dem besten Weg, sich in so eine Art Abziehbild von mir zu verwandeln. Aber ich wusste immer noch nicht, warum. Ich habe es immer noch für einen Spleen von ihr gehalten verrückt, aber harmlos, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Wie hätte ich auch darauf kommen sollen, dass da noch etwas ganz anderes dahinter steckt, etwas, das überhaupt nicht harmlos ist?"

Der verteidigende Unterton in Sorkins Stimme entging Breghala nicht, obwohl er scheinbar gerade vollkommen davon absorbiert war, seine Datenblocknotizen mit einem Strichmännchen zu dekorieren.

„Ja, genau - wie?" murmelte er halb zustimmend, halb besänftigend.

Jessamy, die sich in Feuer geredet hatte, atmete tief durch und strich sich eine der Haarsträhnen, deren Schnitt sie jetzt unfreiwillig mit Sondra Rakosh teilte, aus der erhitzten Stirn.

Breghala schob einladend eines der Kaltgetränke, mit denen Paejonn sie inzwischen reichlich versorgt hatte, zu ihr hinüber und beobachtete amüsiert, wie sie es hinunterstürzte.

„Sind Sie dann eigentlich nach Soraya geflogen?"

Seine Frage kam betont beiläufig, während ein weiteres Strichmännchen das Licht der Welt erblickte, aber Jessamy geriet trotzdem sofort in Verlegenheit.

Natürlich hatte sie ihre ganz persönliche Meinung über Art und Umfang von Kayes Krise diskret unter den Tisch fallen lassen schließlich würde niemand, der seine fünf Sinne beieinander hatte, ausgerechnet einem Geheimdienstmann auf die Nase binden, was man so von der durchschnittlichen imperialen Personalpolitik und ihren Auswirkungen auf besagtes Personal hielt!

Nein, Jessamys Gedanken waren nicht nur frei, sondern auch immer noch ihre ganz private Angelegenheit, und sie würde sie genauso wenig in allen Einzelheiten vor Breghala ausbreiten wie gewisse intimere Details ihrer Geschichte. Der Colonel musste schließlich nicht alles wissen, oder? Es reichte vollkommen, wenn Jessamy ihm eine hier und da leicht geschönte … leicht gekürzte Fassung präsentierte …

„Dazu hatte ich gar keine Gelegenheit mehr, Sir. Die ganze Organisation war ziemlich … äh … umständlich und mir blieb einfach keine Zeit dafür. Es ging dann irgendwie alles so schnell …"

Sie brach ab und starrte fasziniert auf die leere Mehrwegdose, die sie immer noch in der Hand hielt. Das Werbeholo, das auf dem Deckel installiert war, blinkte in regelmäßigen Abständen auf und schrieb mit grellen neonpinkfarbenen Buchstaben Kool's – wenn du weißt, was gut für dich ist! in die Luft. Eine kleine Warnung? Jessamy fühlte ganz deutlich die Hitzewelle, die über ihr Gesicht rollte.

Wenn Breghala ihre plötzliche Befangenheit auffiel, dann ließ er es sich nicht anmerken.

„Weiter", sagte er mit derselben unverbindlichen Freundlichkeit, die er immer an den Tag legte wahrscheinlich sogar dann, wenn er ein echtes Verhör führte.

Jessamy stellte die Dose sehr behutsam auf Breghalas Schreibtischkante ab und machte weiter …


Fortsetzung folgt …