Digameis
Tonks hatte nur wenige Stunden geschlafen. Nach ihrer Rückkehr aus Hogwarts war sie wie tot ins Bett gefallen, war aber oft hochgeschreckt, ohne sich an ihre Träume zu erinnern. Sobald sie am Morgen erwachte, zogen die Bilder der letzten Nacht jedoch wieder vor ihrem inneren Auge vorbei.
Sie konnte unmöglich länger im Bett bleiben, also stand sie auf, schlüpfte in ihren Morgenmantel und huschte die Treppe hinunter. Keine Minute später stand sie in Sirius' Zimmer und zog die Vorhänge auf. Der Grimmauldplatz lag verlassen und dunkel da. Die Straßenlaternen waren bereits erloschen und über den Dächern Londons zeigte sich ein silberner Streifen scheuen Morgenlichts.
Hinter ihr drehte Sirius sich stöhnend im Bett um. „Brennts?", fragte er mit heiserer Stimme. Sein Gesicht war halb unter seinem zottigen schwarzen Haar verborgen, was ihn jünger als sonst aussehen ließ.
Tonks musste lächeln. „Wir haben eine neue Mission! Komm steh auf, ich mach uns solange Kaffee. Alastor wird bald hier sein. Und der Rest vom Orden."
Tonks behielt mit ihrer Aussage nur teilweise Recht. Eine Weile später erschienen zwar Alastor und Dumbledore vor der Haustür, aber die Eilmeldung, die Tonks letzte Nacht noch abgesetzt hatte, sorgte für weniger Resonanz als erhofft. Neben Bill waren nur Hestia Jones, Emmeline Vance und ausgerechnet Snape aufgetaucht. Vermutlich musste Tonks das nicht groß wundern. Es war noch früh im Jahr und viele Hexen und Zauberer verbrachten diese Zeit in einträchtiger Familienidylle. Jedenfalls diejenigen von ihnen, die Familie hatten. Dass Snape nicht zu diesen Glücklichen zählte, überraschte sie nicht. Düster blickte er in die Runde, als gäbe es dennoch ein Dutzend Orte, an denen er lieber wäre. Dagegen wirkten Emmeline Vance und Hestia Jones geradezu ausgelassen, aber auch nervös ob der kommenden Mission.
Sirius hatte Tonks geraten, die einzelnen Ereignisse der Silvesternacht und die Umstände, durch die sie an ihre Informationen gelangt war, nicht zu erläutern. Das würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen und kaum ihrem eigentlichen Ziel dienen: so schnell wie möglich eine Truppe nach Norden zu schicken. Tonks ließ Widdershins bei ihrer Erzählung also außen vor und sprach lediglich von einer „sicheren Quelle", was niemand hinterfragte. Dumbledores Protektion machte sie scheinbar über jeden Zweifel erhaben.
Die Existenz des gemischten Dorfs schien die anderen weit weniger zu schockieren als Tonks. Sie fragte sich, ob sie wohl besonders behütet oder einfach ignorant aufgewachsen war. Leicht errötend hob Hestia die Stimme: „Mein Großvater hat oft von diesem Ort erzählt, wo er aufgewachsen ist. Er war ein Muggel, hat aber immer von Hexen und Zauberwesen gewusst. Vielleicht hat er sich ja deshalb in meine Großmutter verliebt. Sie war ganz verstört, als er ihr damals mitteilte, schon alles über ihre Welt zu wissen.", sie lächelte verlegen, wie es ihre Art war.
„Perfekt.", Tonks rieb sich aktionslustig die Hände. „Du solltest auf jeden Fall mitkommen. Vielleicht erinnert sich jemand dort ja noch an deinen Großvater. Das könnte Vertrauen stiften."
„Wisst ihr, was noch Vertrauen stiftet?" Sirius lehnte breit grinsend in seinem Stuhl, die Tasse Kaffee balancierte er lässig auf der Zauberstabspitze. „Ein großer knuddeliger Hund."
Darauf verzog Snape angewidert das Gesicht. „Eher ein verflohtes zottiges Vieh, das den abergläubischen Dorfbewohnern wie ein böses Omen erscheinen muss. Womit sie nicht falsch lägen."
Bevor die Situation eskalieren konnte, ging Tonks dazwischen. „Es tut mir leid, Sirius, aber wir können nicht riskieren, dass du von einem der Todesser erkannt und ans Ministerium verraten wirst. Es ist zu gefährlich."
„Bitteschön!", ärgerlich stieß Sirius sich vom Tisch ab und stand auf. „Wenn ich wieder nur Protokoll führen soll, hättest du mich nicht wecken brauchen."
Tonks wollte schon frustriert und ergeben schnauben, als ausgerechnet Snape die Hand hob. „Möglicherweise kann dein Wissen uns dennoch von Nutzen sein."
Alle, Tonks eingeschlossen, starrten ihn perplex an. Hestia errötete erneut, diesmal jedoch bewundernd.
Schnell schob Snape hinterher: „Ich bezweifle es allerdings." Doch die Wirkung seines Zuspruchs war deutlich spürbar und Sirius kehrte neugierig, wenn auch misstrauisch zu seinem Stuhl zurück.
Von Tonks zur Eile angetrieben, arbeiteten sie fieberhaft an einem Plan, um das Vertrauen der Dorfbewohner zu gewinnen. Schließlich entschied man, eine Vorhut, bestehend aus Tonks, Hestia und Bill, zu bilden, um die Lage auszukundschaften. Später würde der Rest von ihnen zusammen mit allen Ordensmitgliedern, die sie bis dahin auftreiben konnten, eintreffen. Sirius war ganz Feuer und Flamme, noch mehr Mitstreiter für eine ausgewachsene Schlacht zu rekrutieren.
Tonks dagegen machte sich sofort auf den Weg in ihr Dachzimmer, um ihre Ausrüstung zusammenzusuchen. Außerdem schickte sie eine Eule an Dawlish, um ihm mitzuteilen, dass sie an Griselkrätze erkrankt sei. Kein besonders schmeichelhaftes Leiden und es würde bestimmt Gerede geben, wenn sie zurück ins Büro kam, doch das spielte nun keine Rolle. Sie schnappte sich außerdem ihren Besen – sie sollte sich dringend einen neuen für derlei Einsätze besorgen – und rannte die Treppe hinunter.
In der Küche stellte sie fest, dass Hestia andere Pläne hatte. „Ich habe Kontakt zu Freunden meiner Großeltern aufgenommen. Wir können ihren Kamin benutzen."
„Sie sind mit dem Flohnetzwerk verbunden?", fragte Tonks überrascht. Irgendwie hatte sie angenommen, dieser Ort sei zu … magisch, um mit kruden Mitteln wie Flohpulver erreicht werden zu können.
Scheinbar war das auch nicht Hestias Plan gewesen, denn sie war gerade dabei, kleine getrocknete Blüten aus einer Schachtel an die Umstehenden zu verteilen. Sie leuchteten in einem strahlenden Blau und verströmten einen zarten Duft nach Freesien. Bill schnupperte verzückt an seiner Handvoll. „Was ist das?"
„Habt ihr eine Ahnung, wie viele Floheier jedes Jahr gesammelt und zermahlen werden, um Flohpulver herzustellen? Diese Praxis ist mit den Werten der Menschen von Mistle End nicht vereinbar." Eine steile Falte erschien zwischen Hestias dünnen Augenbrauen. „Noch dazu rauben wir so unzähligen magischen Wesen, darunter Doxies, Gnome und Lichterfeen, ihre Nahrungsgrundlage."
Tonks schluckte und beschloss, dieses Stück magischen Wissens lieber nicht an Hermine weiterzugeben. Andernfalls würde das Mädchen keine ruhige Minute mehr finden.
Bill legte den Kopf schief. „Verstehe aber es ist nun mal alternativlos. Nach Schottland fliegt man mehrere Tage und einen Portschlüssel haben wir auch nicht."
Hestia schüttelte nur den Kopf. „Man lernt eben nicht alles in Hogwarts. Oh, entschuldigen Sie, Professor.", fügte sie an Snape gewandt hinzu.
Der drehte sich ausdruckslos weg und beugte sich erneut über die Packliste auf dem Küchentisch.
Hestia errötete und fuhr hastig fort: „Das sind Digameis-Blüten, sehr selten und kostbar. Sie erfüllen denselben Zweck wie Flohpulver, nur dass dafür keine Flöhe sterben müssen. Sie haben außerdem den entscheidenden Vorteil, dass sie an kein Netzwerk angeschlossen werden müssen, weil sie allein mit Vorstellungskraft betrieben werden. Ein bisschen wie Disapparieren. Absolut unnachweisbar!"
Tonks hob fragend die Augenbrauen. „Warum benutzt sie dann nicht jeder?"
„Nun, wie gesagt, sind sie sehr selten und müssen aufwändig getrocknet werden. Sie sind aber der Ursprung aller magischen Kaminreisen. Als man Flohpulver als günstige, wenn auch grausame Alternative entdeckte, gerieten Digameis-Blüten schnell in Vergessenheit."
Alastor trat zu ihnen und schaute Hestia über die Schulter. „Das war nicht der einzige Grund, wenn ich richtig informiert bin.", sagte er skeptisch.
Hestia warf ihm einen bösen Blick zu. „Ich hoffe, ihr habt alles, was ihr braucht, denn aufgrund der geringen Menge kann man nicht beliebig oft hin- und herreisen.", überging sie Alastors Einwurf.
Etwas nervös klopfte Tonks die zahlreichen Taschen ihres langen Mantels ab und versicherte sich, dass ihr Zauberstab sich immer noch in ihrer Innentasche befand.
„Bereit?", fragte Hestia und streckte ihnen die Hände entgegen. Tonks warf einen letzten Blick in die Runde, traf auf die besorgten, aber entschlossenen Mienen von Alastor und Sirius und das zuversichtliche Blinzeln Dumbledores. „Dann esst jetzt eure Blüten!", forderte Hestia.
Bill fiel die Kinnlade herunter. „Wir werfen sie nicht einfach ins Feuer?"
Hestia verdrehte die Augen und warf sich die blauen Blumen in den Mund. Tonks wusste sich nicht besser zu helfen und folgte ihrem Beispiel. Die blauen Blüten fühlten sich leicht und knusprig in ihrem Mund an, bevor sie rasch zu einem süßlichen Pulver zerfielen, von dem sie husten musste. Auch Hestia presste sich die Hand auf die Lippen und zog Bill und Tonks energisch in das flackernde Kaminfeuer.
Tonks hatten noch nie etwas so Seltsames erlebt. Das prickelnde Gefühl auf ihrer Zunge breitete sich in Windeseile in ihrem ganzen Körper aus, bis sie von innen heraus vibrierte. Sie wurde regelrecht durchgeschüttelt. Vor ihrem inneren Auge, oder womöglich war es auch ihr Äußeres, zogen blaue und graue Schemen vorbei, wanden sich um sie und zogen sie in einen schwarzen Strudel voller Gesichter und Gestalten. Nicht dass Reisen mit konventionellem Flohpulver angenehmer gewesen wäre, aber für Tonks' Empfinden war es wenigstens schneller vorbei. Sie hörte tiefes Gemurmel, unheilvolles Lachen, tiefe Seufzer und entfernte Schreie. Wo war sie hier? Und würde sie je wieder von hier wegkommen? Sie blickte hinab auf ihre Hand in Hestias, die sie in der Dunkelheut kaum sehen konnte. Anders als Tonks wankte sie nur schwach und war sogar in der Lage, sich zielstrebig durch den Strudel zu bewegen. Tonks war schleierhaft, wie die andere Hexe in diesem Chaos den Weg finden wollte, aber sie hatte das überwältigende Bedürfnis, ihre Hand weiterhin fest zu umklammern. Allmählich spürte sie auch den Druck von Bills Hand und sah in sein angstverzerrtes Gesicht. Langsam dämmerte ihr, dass auch sie vor Furcht wimmerte. Etwas hier war so unendlich bedrückend und befremdlich, dass sie am liebsten sofort umgekehrt wäre. An dem Punkt, an dem sie glaubte, es nicht mehr lange aushalten zu können, begann die Dunkelheit plötzlich abzulaufen, als hätte jemand der Stöpsel einer Badewanne gezogen. Licht durchflutete die Szenerie und Tonks wurde gewahr, dass sie auf einem weichgeknüpften Teppich kauerte und in die freundlichen violetten Augen eines Hauselfs starrte.
