VIII.


Devon:

Der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet und ließ wie aus Glasfäden gesponnene Regenschauer auf die von einem langen harten Frost ausgedurstete Erde rieseln. Die weiten Rasenflächen im Lorienn-Garten, dem größten Stadtpark von Delamere, zeigten das erste zarte helle Grün, das hier und da sogar schon durch die zierlichen gelben Köpfchen von Amarylliablumen geschmückt wurde, ein wahrer Balsam für wintermüde Augen. Die Knospen an den Bäumen schwollen an und barsten fast vor Leben; die milde frische Luft schmeckte nach Frühling und war von dem endlosen sanften Gegurre zahlloser liebestrunkener Tauben erfüllt.

Jessamy und Zev wanderten über die mit Sand bestreuten Pfade, die links und rechts noch von dem einen oder anderen schmutziggrau zusammengeschmolzenen Schneehaufen gesäumt wurden. Sie erlebten das Wiedererwachen der Natur auf ihre ganz eigene Weise, indem sie von Zeit zu Zeit plötzlich stehen blieben wie angewurzelt und sich stürmisch abzuküssen begannen. Dabei achteten sie weder auf die wenigen anderen Fußgänger, die ihnen amüsiert auswichen, noch auf ihren gemeinsamen Regenschirm, ein zerfleddertes schwarzes Monstrum mit Stockgriff, das ungefähr den Umfang eines Paragliding-Schirmes hatte, kaum zu bändigen war und in einer heftigen Umarmung dazu neigte, wild hin und her zu schwanken und seine Eigentümer mit Tropfenschauern zu übersprühen, wenn sie nicht schon vom Regen an sich besprenkelt wurden. Alles in allem war der spontane Spaziergang, zu dem sie sich aus einer Laune heraus entschlossen hatten, also eine ziemlich feuchte Angelegenheit, aber trotzdem unglaublich romantisch.

Doch nicht einmal ein Paar, das ganz und gar davon in Anspruch genommen wurde, unter gegenseitigen Zärtlichkeiten verträumt durch einen Park zu lustwandeln, konnte nasse Haare und durchweichte Mäntel ewig ignorieren: Als Zev dreimal hintereinander nieste und beide endlich merkten, dass ihnen das Wasser buchstäblich bis zum Hals stand, entschieden sie, dass es höchste Zeit war, ihren Sinn für Romantik an einem etwas trockeneren Ort auszuleben.

Außerdem fiel ihnen jetzt wieder das eigentliche Ziel ihres Ausflugs ein, das vorübergehend völlig in Vergessenheit geraten war, denn ursprünglich waren sie mit der Idee aufgebrochen, in Cujo's Kajüte vorbeizuschauen, einem Fachgeschäft für Segelsportartikel, wo sie einen Treibanker und andere nützliche Kleinigkeiten für die Nivess und die Catai kaufen wollten, die ihren Winterschlaf ebenfalls hinter sich hatten und gerade in der Werft für die neue Saison flottgemacht wurden.

Aber auf dem Weg dorthin waren Zev und Jessamy vom Frühling und ähnlichen Trieben abgelenkt und überwältigt worden und so waren sie im Lorienn-Garten gelandet statt in der City. Das gedachten sie jetzt zu ändern und zwar so schnell wie möglich, denn allmählich wurde ihnen doch ein wenig kalt. Und weil der Regen gerade nachließ und sie sowieso nicht mehr viel nasser werden konnten als sie schon waren, ließen sie den Schirm Schirm sein (tatsächlich gelang es Zev nur mit Mühe, das widerspenstige Teil wieder zusammenzuklappen und es sich unter den Arm zu klemmen) und rannten einfach los, Hand in Hand und lachend wie Kinder.

Als sie den Tarkin-Gedächtnis-Platz erreicht hatten, schlugen sie wieder eine etwas gemächlichere Gangart an, denn Zev war außer Atem und Jessamy hatte Seitenstechen – sie wusste selbst nicht, ob das nun vom Laufen oder vom Lachen kam.

Sie hatten gerade das Todesstern-Mahnmal hinter sich gelassen, ein gigantisches, Ehrfurcht gebietendes Monument aus blutrot und pechschwarz geflammtem Tirera-Marmor, das den Platz völlig beherrschte, als Zev plötzlich stehen blieb wie ein Fels in der Brandung und sang: „Ich sehe was, was du nicht siehst!"

Jessamy sah sich um, konnte aber zuerst nichts Aufregenderes entdecken als die Mitglieder einer Reisegesellschaft, die das Mahnmal umzingelt hatten, um mit angemessenem Ernst die ebenfalls aus zweifarbigem Marmor bestehenden Tafeln zu studieren, auf denen in vielen engzeiligen Kolonnen die Namen all derer eingraviert waren, die auf dem Todesstern gedient hatten und in Erfüllung ihrer Pflicht bei dem Terroranschlag der Allianz ihr Leben gelassen hatten.

Erst als Zev ihr Kinn umfasste und ihren Kopf mit sanfter Gewalt leicht nach links drehte, bemerkte sie das elegante Straßencafé am Rand des Platzes. Natürlich saß bei diesem Wetter niemand im Freien – die breite, mit immergrünen Kübelpflanzen übersäte Terrasse unter den gestreiften Markisen war völlig verwaist –, aber das Café an sich war gut besetzt, wie Jessamy feststellte, als sie aus dem dämmrigen Grau des Regentages durch das große Fenster in den hellerleuchteten Innenraum blickte wie ein Zuschauer in einem abgedunkelten Theater auf die mit Scheinwerfern angestrahlte Bühne.

Und an einem der zierlichen Tische direkt am Fenster saß – wie auf einem Präsentierteller! – Sondra und war offensichtlich in eine sehr angeregte Unterhaltung mit einem unauffällig aussehenden grauhaarigen Mann in einem konservativen dunklen Anzug vertieft.

„Sieh mal einer an", murmelte Jessamy, restlos fasziniert von diesem Anblick „Ob das ihr Freund ist? Der hat ja locker dreißig Jahre mehr auf dem Buckel als sie!"

„Wundert dich das? Also wenn ich irgendjemandem einen ziemlich ausgereiften Vaterkomplex zutrauen würde, dann unserer zugeknöpften kleinen Miss Rühr-mich-nicht-an", sagte Zev in stiller Bosheit.

„Vielleicht ist das ja sogar ihr Vater", meinte Jessamy.

Im selben Moment dachte sie, wie seltsam es doch eigentlich war, dass Mr. und Mrs. Rakosh, die schließlich auch in Delamere und damit praktisch nur einen Katzensprung weit entfernt wohnten, ihre Tochter noch nie besucht hatten. Nicht ein einziges Mal in all der Zeit – jedenfalls nicht, wenn Jessamy zu Hause war.

Aber auf der anderen Seite passte das natürlich irgendwie ganz gut ins Bild, denn schließlich gab es niemanden, der noch verschlossener war als Sondra, wenn es um ihre eigene Privatsphäre ging … Sondra, die zwar immer ein geradezu hungriges Interesse an den kleinsten Details von Jessamys Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft an den Tag legte, aber gleichzeitig von sich selbst so gut wie nichts preisgab … Tatsächlich wusste Jessamy heutzutage kaum mehr über ihre Mitbewohnerin als damals, als sie sich gerade erst kennengelernt hatten. Sondra sprach niemals über ihre Kindheit oder ihre Familie und sie verlor nur ganz selten ein Wort über ihren Job, ihren Freund, ihr Leben …

„Na, das lässt sich ja ganz leicht rausfinden." In Zevs Augen kam ein unternehmungslustiges Funkeln, das Jessamy nur zu gut kannte.

„Denk nicht mal daran", warnte sie.

„Ach komm schon, sei kein Spielverderber! Wir gehen einfach da rein und tun so, als würden wir nach einem freien Tisch Ausschau halten. Und dabei kommen wir dann rein zufällig …"

„Nein, Zev!"

„Du gönnst mir aber auch gar nichts – nicht einmal eine Tasse Tee im Kreis von lieben alten Freunden! Was ist? Willst du mich jetzt wirklich weiterschleppen, obwohl ich praktisch schon ein wandelnder Eiszapfen bin? Wie kannst du nur so grausam sein, Sam? Morgen sterbe ich bestimmt an einer doppelseitigen Lungenentzündung und es wird allein deine Schuld sein. Du wirst bis zum Ende deiner Tage nicht darüber hinwegkommen und bei dem leisesten Gedanken an mich in Tränen der Reue zerfließen ... oh Gott ja, und wie du es bereuen wirst!" rief Zev theatralisch.

Doch seine blühende Rhetorik und die Dramatik darin waren an Jessamy verschwendet – sie wusste nur zu gut, dass das ganze Klagegeschrei reine Heuchelei war.

„Wenn Sondra keine Lust hat, mir ihren Freund oder ihre Eltern vorzustellen, dann respektiere ich das. Ich werde jetzt auf gar keinen Fall einfach da reinschneien und sie regelrecht überfallen – so was macht man einfach nicht."

Zev schmollte. „Grausam und spießig!" brummte er verdrossen vor sich hin.

„Ach ja? Dann stell dir doch bloß mal vor, wie unangenehm es dir wäre, wenn sie uns so auf die Pelle rücken würde, obwohl wir gerade alleine sein wollen."

„Das brauche ich mir gar nicht erst vorzustellen, das erlebe ich schließlich fast jeden Tag", maulte Zev. „Hör mal, es ist immerhin so was wie eine biologische Sternstunde, wenn eine waschechte eiserne Jungfrau in Torschlusspanik hingeht und sich in aller Öffentlichkeit und noch dazu unter Festbeleuchtung von einem alten Lustmolch angraben lässt. So was darf man sich nicht entgehen lassen – das muss man sich live und möglichst aus der Nähe ansehen!"

Jessamy lachte, sie konnte einfach nicht anders. „Du bist unmöglich, weißt du das?"

„Ja", sagte Zev schlicht und für so viel ehrliche Selbsterkenntnis bekam er natürlich noch einen Kuss, obwohl er ihn eigentlich gar nicht verdient hatte.

Vielleicht handelte es sich dabei aber auch nur um eine Kriegslist von Jessamy, denn danach ließ Zev die biologische Sternstunde natürlich ohne Weiteres unter den Tisch fallen und sich selbst widerstandslos zu Cujo's Kajüte abschleppen. Dort verbrachten sie eine sehr unterhaltsame Stunde damit, mit großer Sorgfalt ihre Einkäufe zu tätigen, all die anderen zur Schau gestellten Herrlichkeiten ausgiebig zu bewundern und sich lange und hitzig über den Erwerb oder Nichterwerb einer zauberhaften, aber sündhaft teuren antiken Schiffslaterne zu zanken, die Zev seiner Angebeteten unbedingt schenken wollte – und dieses Mal setzte er seinen Kopf durch.

Von seinem Sieg berauscht, schlenderte er anschließend mit einer vorübergehend gezähmten Jessamy noch ein wenig durch die Gegend, bevor er mit ihr das nächstbeste Restaurant ansteuerte, denn inzwischen waren beide kurz vor dem Verhungern oder bildeten es sich wenigstens ein.

Alles in allem war es also sehr viel später, als sie sich auf den Rückweg zum Lorienn-Garten machten, wo sie Zevs Gleiter auf einem öffentlichen Parkplatz zurückgelassen hatten. Doch Sondra und ihr Begleiter saßen immer noch in dem Café am Tarkin-Gedächtnis-Platz, wie Jessamy im Vorbeigehen feststellte.

Von einer angeregten Unterhaltung zwischen den beiden konnte allerdings nicht mehr die Rede sein. Sondra, die vorhin noch lebhaft gestikulierend auf ihr Gegenüber eingeredet hatte, stocherte nun schweigend und sichtlich lustlos in einem unberührten Kuchenstück auf dem Teller vor ihr herum und machte auch sonst einen ziemlich niedergeschlagenen Eindruck.

Es war der Mann, der jetzt das große Wort führte, und es war Jessamy, die erst jetzt sah, dass Sondras Verehrer oder Vater (oder wer auch immer er sonst sein mochte) trotz des trübseligen Wetters eine spiegelnde Sonnenbrille trug, die seine Augen völlig verbarg. Doch was von seinem Gesicht zu sehen war, wirkte auch nicht besonders sympathisch …

Jessamy, die einen flüchtigen Blick auf einen harten schmallippigen Mund erhaschte, der nicht die geringste Spur von Humor oder Warmherzigkeit verriet, ging mit dem deutlichen Eindruck weiter, dass Sondra entweder eine ziemlich freudlose Jugend hinter sich gebracht hatte oder dass sie sich den falschen Lover geangelt hatte oder vielleicht sogar beides zugleich. Behaupteten die Psy-Techs nicht immer, dass Frauen so sehr von ihrem Vaterbild geprägt waren, dass sie sich grundsätzlich Männer suchten, die sie irgendwie an ihre Erzeuger erinnerten?

„Na, na, na … hat Sugar-Daddy sein süßes kleines Mädchen ausgeschimpft?"

Zev konnte es einfach nicht lassen zu frotzeln – und das war ganz entschieden eine Eigenschaft, die er mit Jeoff Sorkin gemeinsam hatte. Womöglich hatten die Psy-Techs Recht. Für Jessamy war das glücklicherweise kein Problem. War es für Sondra ein Problem? Falls ja, dann hatte sie es bis heute nie erwähnt und würde es wahrscheinlich auch nie erwähnen …

Ein wenig später setzte Zev Jessamy vor dem Shaalizaar Inn ab. Ihre Trennung war zwar nur kurzfristig, da Zev sie bald für ein Abendessen mit dem versammelten Gilfoy-Clan abholen wollte, aber ihr Abschied zog sich trotzdem so lange hin, als sollten sie sich für Monate nicht wiedersehen.

Nachdem er seine Herzallerliebste noch einmal ausdrücklich beschworen hatte, sich nicht unnötig schick zu machen, weil Jasper, der inzwischen zu Ponygröße herangewachsene Rodarbal-Welpe, die Unart entwickelt hatte, jeden Besucher der Gilfoys anzuspringen und ihn vor lauter Begeisterung von oben bis unten vollzusabbern, was erlesener Abendgarderobe für gewöhnlich nicht besonders gut bekam, ging Zev schließlich seiner Wege. Und Jessamy begab sich in ihre Wohnung hinauf und gönnte sich dort sofort eine extralange Badewannensitzung zur Aufwärmung und Entspannung.

Allerdings hatte sie den größten Teil der erzielten Entspannung schon wieder an den Versuch verloren, ihre widerspenstigen kurzen Locken mit Hilfe von Haarspray zu einer etwas festlicheren Frisur zurechtzustriegeln, als Sondra nach Hause kam. Als Jessamy haarspraygestylt und praktisch bis zur Unkenntlichkeit verschönert aus dem Badezimmer schwebte, zerrte Sondra sich im Flur gerade ein Paar sehr hohe und sehr spitz zulaufende Stöckelschuhe von den Füßen und warf sie in einer ungewohnten Aufwallung von Frust in die Ecke, was bei einer Ordnungsfanatikerin wie ihr schon beinahe einer Kriegserklärung gleichkam.

„Meine Füße bringen mich um!" ächzte sie und ließ sich erschöpft auf das Sitzkissen vor dem Glastisch mit der Kom-Einheit fallen, um ihre gemarterten Zehen vorsichtig in einen einigermaßen schmerzfreien Zustand zurückzumassieren.

Jessamy klaubte die anmutigen und sehr femininen Folterinstrumente aus schimmerndem zimtbraunen Safrinleder auf, die so lieblos in die Ecke gefeuert worden waren, und betrachtete sie andächtig.

„Die sind todschick!" sagte sie anerkennend.

„Aber einfach teuflisch, wenn man den ganzen Tag auf den Beinen ist", seufzte Sondra.

"Tja, Schönheit muss eben leiden", neckte Jessamy und dachte dabei an ihre Haarspray-Orgie.

"Es war heute aber auch zu schrecklich. Wenn ich geahnt hätte, was mir da bevorsteht, dann hätte ich Joggingschuhe oder gleich ein Paar Gesundheitslatschen angezogen."

Jessamy musste bei dieser Vorstellung unwillkürlich grinsen.

Sie öffnete gerade den Mund, um Sondra zu fragen, was ihr Rendezvous wohl davon gehalten hätte, wenn sie ihr stadtfeines Outfit ausgerechnet mit derart wenig damenhaften Tretern abgerundet hätte, als Sondra auch schon fortfuhr.

"Du kannst dir gar nicht vorstellen, was heute bei uns los war, Sam. Arbeit, Arbeit und noch mehr Arbeit … Und dann haben sie mich auch noch dauernd von einer Abteilung in die andere gescheucht. Das ging den ganzen Tag hin und her, Treppen rauf und runter ... Ich hatte so viel um die Ohren, dass ich nicht mal in die Mittagspause gehen konnte!

Und dann tanzt auch noch zehn Minuten vor Schluss diese arrogante Referatsleiterzicke, die ich sowieso nicht ausstehen kann, an und brummt mir einen ganzen Stapel neue Grundstücksurkunden auf, die angeblich unbedingt heute noch mit allem Pipapo beglaubigt und gesiegelt werden müssen. Unverschämt, nicht? Ich meine, was bilden die sich eigentlich ein? Glauben die vielleicht, ich bin ein Droide und brauche keinen Feierabend?

Aber denen werden noch die Augen übergehen, wenn Fairfix Services ihnen erst die Rechnung schickt. Mir steht ab achtzehn Uhr ein Nachtarbeitszuschlag zu und mein Überstundenkonto ist jetzt schon so lang wie mein Arm. Diese Ausbeuter werden ganz schön tief in die Tasche greifen müssen und das geschieht ihnen Recht.

Gott, hängt mir dieser Laden zum Hals raus! Ich kann's kaum noch erwarten, dass Fairfix mich endlich woanders hinschickt. Weißt du was? Wenn es so weit ist, spendiere ich uns beiden Hübschen eine Flasche Beuv Greco – am besten gleich die Jumbopulle! Man muss die Feste schließlich feiern, wie sie fallen …"

Jessamy ließ diesen ungewohnten Wortschwall stumm über sich ergehen. Sie war so perplex, dass nicht einmal die Aussicht auf eine feuchtfröhliche Party mit einer feierlich geköpften Magnumflasche der edelsten Sektmarke innerhalb von zehn Parsecs die Nebelschleier kompletter Verwirrung lüften konnte.

Was zum Henker war hier eigentlich los? Hatte sie auf dem Tarkin-Gedächtnis-Platz etwa an Halluzinationen gelitten? Und was war mit Zev? Konnten zwei Menschen gleichzeitig dieselbe Halluzination haben? Hatten sie vorhin vielleicht eine Mini-Massenhypnose erlebt oder ein besonders exotisches Wetterphänomen, so eine Art Nieselregen-Fata Morgana?

„Du ... du kommst eben erst aus deinem Büro? Und du warst den ganzen Tag da – ununterbrochen?" forschte sie.

Sondra seufzte wieder, dieses Mal mit einer Spur von Ungeduld. „Das habe ich doch gerade eben gesagt, oder? Hast du mir denn gar nicht zugehört? Ach, ich bin fix und fertig! Heute Abend rühre ich jedenfalls keinen Finger mehr und erst recht keinen Zeh. Ein Tag war das …"

Und sie begann damit, ihren Tag in allen schaurigen Einzelheiten zu schildern, ohne weiter auf die stark verkürzte Aufmerksamkeitsspanne ihres Publikums zu achten.

Denn Jessamy hörte ihr jetzt wirklich nur noch mit halbem Ohr zu, weil ihre Gedanken gerade Purzelbäume schlugen. Und was dabei herauskam, war nicht unbedingt erfreulich, denn wenn man so unwahrscheinliche Möglichkeiten wie esoterisch angehauchte Sinnestäuschungen und meteorologisch bedingte Sehfehler mal ganz außer Acht ließ, dann blieben für das, was hier gerade vor sich ging, nur noch zwei logische Erklärungen übrig: Entweder hatte Sondra eine Doppelgängerin, die heute in dem gleichen cremefarbenen Hosenanzug wie sie durch die Weltgeschichte gelaufen war … oder sie brillierte hier gerade in einer selbstgebastelten Fortsetzung des Kinderbuchklassikers Florin Flunker und Lyra Lügenreich!

Jessamy wandte sich abrupt ab und verstaute Sondras hochhackige Pumps ein wenig liebloser in dem gemeinsamen Schuhschrank, als für das empfindliche Safrinleder gut war, aber wen kümmerte das schon? Sondra offensichtlich nicht, denn sie redete ohne Punkt und Komma weiter. Tatsächlich redete sie wie ein Wasserfall, während sie mit erstaunlichem Einfallsreichtum aus dem Stehgreif heraus einen stressigen Büroalltag zusammenphantasierte, dessen farbenfrohe, aber rein fiktive Details sie sich scheinbar mühelos aus den Fingern sog.

Jessamy konnte es einfach nicht fassen: Sondra – die nette, harmlose Sondra – log! Und sie log mit bestürzender Leichtigkeit und Unbekümmertheit – sie log praktisch das Blaue vom Himmel herunter, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken! Hätte Jessamy plötzlich entdeckt, dass ihr Kater dazu fähig war, sich selbstständig via DevNet neue Fell-O-Plastbälle zu bestellen und für den Boten vom Zoofachhandel auch noch einen ihrer Barschecks auszufüllen, sie hätte kaum schockierter sein können. Jedenfalls nicht sehr viel schockierter ...

Es dauerte eine ganze Weile, bis ihre ungewöhnliche Wortkargheit Sondra endlich auffiel, aber irgendwann merkte sie es doch, was den Wasserfall nach einem letzten informativen Geplätscher prompt zum Versiegen brachte.

„Du bist auf einmal so still, Sam … hast du irgendwas?"

Die Verlegenheit, darauf eine passende Antwort zu finden, blieb Jessamy erspart, weil genau in diesem Augenblick die Türklingel ein temperamentvolles SOS-Signal von sich gab, was bedeutete, dass ihr eigener Lover zurückgekehrt war und unten auf sie wartete und schon darauf brannte, wieder mit ihr vereint zu sein.

„Ich muss jetzt los. Bis später", sagte sie kühl, griff sich ihren Mantel und Schlüssel und ging, wobei sie die Tür mit einem Knall hinter sich zuwarf, der Emotionen verriet, die alles andere als kühl waren.

Im Gegensatz zu Sondra wusste Zev gleich, dass etwas im Busch war – er war auf Jessamys Launen und Stimmungsumschwünge eingepeilt wie eine hochsensible Antenne auf Niederfrequenzwellen.

„Was ist?" fragte er sofort, nachdem sie sich aus ihrer stürmischen Begrüßungsumschlingung gelöst hatten.

„Du wirst nicht glauben, was gerade passiert ist, Zev!"

Aber er glaubte es ihr natürlich. Um genau zu sein: Lange bevor Jessamy mit der Wiedergabe von Sondras kleiner Märchenstunde fertig war, zeigte sein Gesicht diesen gewissen Ich-hab's-ja-gewusst-Ausdruck wie immer, wenn sich zum Thema Sondra eine neue, aber für ihn keineswegs unerwartete Entwicklung ergab

„Dieses Weib ist die Hinterhältigkeit in Person", verkündete er nicht ohne Triumph - und dieses Mal erntete er keinen Widerspruch, jedenfalls nicht sofort.

Sie hatten schon das ruhige, vornehme Villenviertel erreicht, wo die Gilfoys wohnten, als Jessamy zögernd sagte: „Oder haben wir Sondra vielleicht doch mit irgendjemandem verwechselt?"

„Verwechselt!" Zev schnaubte vor Verachtung. „Wir haben sie zweimal gesehen, Sam. Du und ich. Zweimal!" Und das war ein Faktum, das sich nicht aus der Welt schaffen ließ, egal wie man es drehte und wendete.

„Aber warum? Ich meine, warum lügt sie mich an? Die einzige halbwegs sinnvolle Erklärung, die mir überhaupt dazu einfällt, ist, dass sie heute wahrscheinlich blau gemacht hat, um den ganzen Tag mit diesem Typ verbringen zu können, und dass sie das nicht zugeben will, weil es ihr peinlich ist.

Aber selbst wenn, wäre das noch lange kein Grund, mir irgendwelche Schwindelgeschichten aufzutischen. Ich bin ja schließlich nicht ihr Boss und so lange sie pünktlich ihre Miete bezahlt, ist es mir doch völlig egal, ob sie jeden Tag brav und bieder in ihr Büro trabt oder nicht. Sie ist ein freier Mensch, sie kann tun und lassen, was sie will. Sie hat absolut keinen Grund mich anzulügen, Zev."

„Vielleicht braucht sie ja gar keinen Grund dafür. Vielleicht ist das einfach etwas Pathologisches bei ihr … ungefähr so wie bei diesen armen Teufeln, die in jedem Laden, den sie betreten, zehn linke Herrensocken oder ähnlich verrücktes Zeug zusammenklauen müssen. Immerhin ist Sondra eine Neurotikerin wie aus dem Bilderbuch, da würde es mich wirklich nicht wundern, wenn sie auch noch eine zwanghafte Lügnerin wäre", erklärte Zev und war sichtlich selbst beeindruckt von seiner tiefen Einsicht in die dunklen Abgründe der menschlichen Seele.

Jessamy stieg aus dem Gleiter, den Zev inzwischen vor dem Haus seiner Eltern geparkt hatte, und seufzte ein wenig.

„Was für ein Augenöffner! Ich bin jetzt noch ganz baff. Ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet Sondra so … Uuups!"

Dieser Aufschrei galt natürlich Jasper, der gerade über den niedrigen Gartenzaun gesprungen war und sich so vehement auf sie gestürzt hatte, dass Jessamy sich plötzlich in einem Thulipabeet wiederfand, niedergestreckt von ungefähr siebzig Pfund kastanienbraun behaarter Euphorie, die ihr aufgeregt, aber durchaus in friedlicher Absicht ins Gesicht hechelten und das sogar ganz ohne zu sabbern.

„Also Jasper, wirklich! Was bist du doch für ein böser, böser Hund!" girrte Mrs. Gilfoy, die dem entfesselten Rodarbal bereits auf den Fersen gewesen war, ohne seine Attacke auf die Besucherin verhindern zu können.

Doch ihr zärtlicher Unterton widerlegte das negative Attribut, mit dem sie Jasper belegt hatte, ganz entschieden und Jessamy, die gerade von dem Familienoberhaupt höchstpersönlich vor dem übertrieben anhänglichen Monster gerettet wurde, dachte leicht benommen, dass es für Jasper höchste Zeit war, in einer Welpenschule ein wenig Benimm zu lernen – von den Gilfoys würde er es nämlich ganz bestimmt nicht lernen.

Das beste Beispiel für diese Vermutung war Zevs Vater, der jetzt ziemlich energisch feuchte Erdklumpen und zerquetschte Thulipablätter von seinem Gast herunterklopfte und dabei ohne große Überzeugungskraft in Richtung Hund schrie: „Verschwinde, du blöde Flohquaste, oder ich ziehe dir das Fell über die Ohren und mache einen Pelzmantel aus dir!"

Eine offensichtlich leere Drohung, die von niemandem ernst genommen wurde, schon gar nicht von Jasper, der sie mit einem nonchalanten Schwanzwedeln abtat.

Aber er war ja auch gar nicht wirklich schlecht erzogen, der böse, böse Hund, sondern nur sehr groß, sehr jung, sehr lebhaft und sehr, sehr liebebedürftig, was er sofort unter Beweis stellte, indem er sich auf Jessamys Füßen niederließ wie ein lebendes Heizkissen, sobald sie nach einer flüchtigen Grundreinigung ins Haus und auf einen Stuhl im Esszimmer dirigiert worden war.

Und für den Rest des Abends wich er nicht mehr von ihrer Seite und forderte sie bei jeder Gelegenheit zum Schmusen auf, indem er seine riesigen wuscheligen Tatzen auf ihre Knie legte und sie treuherzig ansah. So viel vierbeinigem Charme war natürlich nur schwer zu widerstehen und Jessamy ließ sich davon fast genauso bereitwillig verzaubern wie von all den zweibeinigen Gilfoys, die sie mit Beschlag belegten.

Nach dem Essen, das aus mehreren Gängen bestand und sich fast ewig hinzog, wurde Jessamy, die bis an die Grenzen ihres Fassungsvermögens mit köstlichen Kalorienbomben gemästet worden war und sich kaum noch rühren konnte, im Wohnzimmer neben Zev auf einen verführerisch bequemen Zweisitzer vor einem prasselnden Kaminfeuer gesetzt.

Zevs Mutter, eine elfenhaft zarte kleine Person, die sich so schnell bewegte, dass sie beinahe so schwer im Auge zu behalten war wie die Flügelschläge eines Kolibris, hatte ruckzuck ein Holoalbum herausgekramt und präsentierte Jessamy jetzt mit feuchten Augen ihren großen Jungen in allen erinnerungswürdigen Lebenslagen vom Tag seiner Geburt an, während sie von Zeit zu Zeit dezente, aber nicht besonders subtile Andeutungen über ein entzückendes Brautmodengeschäft fallen ließ, das sie letzte Woche in der Palpatine-Avenue entdeckt hatte – ganz zu schweigen von diesem reizenden Strandhotel mit Meerblick in alle Himmelsrichtungen, das sich auf Hochzeitsfeiern und Flitterwöchner spezialisiert hatte.

Jessamy, die sich zu diesem Thema momentan nicht auslassen wollte, begnügte sich damit, geheimnisvoll zu lächeln und Zevs Hand zu drücken … und Zev griente zurück und drückte ihre Hand … und Jasper legte seinen großen Zottelkopf auf ihren Schoß und sah anbetend zu ihr auf … und alles war Friede, Freude, Eierkuchen … Und deshalb kam auch alles so unerwartet!

Denn plötzlich stieß Mr. Gilfoy, der etwas kürzer und vierschrötiger war als sein schlaksiger langbeiniger Stammhalter, aber ansonsten in jeder Beziehung sein Ebenbild, eine bläuliche Qualmwolke aus der Stielpfeife, die in seinem Mund steckte, und polterte resolut: „Jetzt pack schon die Holos und die ganze Rührseligkeit wieder ein, Glinda, damit ich endlich mal ein vernünftiges Wort mit dem Mädel reden kann!"

Und als seine Frau mit einem vielsagenden Augenrollen seinem Wunsch nachgekommen war, röhrte er: "Also, Sam, was ist das eigentlich für ein Unsinn mit dieser Untermieterin von dir, eh? Ich weiß ja, dass Zev manchmal ein bisschen übertreibt … das hat er natürlich von seiner Mutter … Halt den Schnabel, Junge, das ist die reine Wahrheit!

Aber wenn auch nur ein Bruchteil von dem, was er uns schon alles erzählt hat, stimmt, dann frage ich mich wirklich, warum du dir das noch antust."

„Das fragen wir uns alle – schon die ganze Zeit!" warf Godis ein, die sich inzwischen auf dem Kaminvorleger niedergelassen hatte und geistesabwesend Jaspers wolligen Rücken kraulte. (Ihre Schwester Lelja, die noch für eine Prüfung lernen musste, hatte sich schon vor dem Dessert zurückgezogen, um zu verhindern, dass ihre intellektuellen Fähigkeiten, bereits leicht angeschlagen durch ein viel zu gehaltvolles Abendessen, durch eine üppige dreischichtige Cremetorte mit Marzipanüberzug endgültig schachmatt gesetzt wurden.

Jessamy, inzwischen kurz davor, in einem wenig kampflustigen Zustand selig-satter Erschlaffung zu versinken wie in Treibsand, beneidete Lelja beinahe um diese weise Vorsichtsmaßnahme – bei den Gilfoys musste man nämlich immer auf Draht sein, vor allem dann, wenn sie in geschlossener Formation anrückten!)

„Ehrlich, Sam, wie hältst du das bloß mit der aus? Die ist doch so was von verkrampft – wenn du der ein Stück Kohle in den Hintern steckst, hast du in zehn Minuten einen lupenreinen Diamanten!"

„Also Godis, wirklich!" tadelte ihre Mutter mit derselben nachsichtigen Empörung, die sie auch Jaspers Missetaten gegenüber an den Tag legte.

„Ist sie gar nicht … nicht mehr", sagte Jessamy matt und unterdrückte nur mit Mühe ein Gähnen. (Das hatte sie nun davon! Hätte sie nur nicht so viel gegessen!) Aber sie wunderte sich irgendwie selbst darüber, warum sie immer wieder ganz automatisch Sondras Partei ergriff, sobald irgendein Gilfoy zum Angriff blies – und das ausgerechnet heute …

„Ich weiß ja, dass mein Junge dir ständig wegen dieser Sondra in den Ohren liegt. Er ist der geborene Besserwisser und rechthaberisch wie nur was – das hat er übrigens auch von seiner Mutter …"

„Also Tork, wirklich!"

„Dad!" rief Zev entrüstet.

Aber sein Vater ließ sich ebenso wenig vom Kurs abbringen wie ein Torpedo mit eingerasteter Zielerfassung.

„… und wahrscheinlich tötet er dir damit den letzten Nerv, Sam. Aber ich bin immerhin mehr als doppelt so alt wie du, mein Küken, und ich habe mindestens dreimal so viel Lebenserfahrung. Also wenn du klug bist, dann hörst du auf mich, denn ich meine es ja nur gut mit dir. Und weil das nun mal so ist …"

„Und weil du garantiert der größte und rechthaberischste Besserwisser von uns allen bist", murrte Zev gerade noch laut genug, um gehört zu werden.

„… gebe ich dir jetzt auch einen guten Rat", fuhr Tork Gilfoy nach einem strengen Seitenblick auf seinen aufmüpfigen Sohnemann unbeirrt fort. „Sei vernünftig, Sam, und mach Schluss mit dieser ganzen leidigen Geschichte, bevor das alles noch ein schlimmes Ende nimmt. Irgendwas stimmt doch da nicht und …"

„… und das ist allein Sams Angelegenheit, da musst du dich jetzt nicht auch noch einmischen, Tork", warf seine Frau streitlustig dazwischen. „Und außerdem ist das Problem sowieso bald aus der Welt. Wenn die Kinder erst einmal verheiratet sind, dann wollen sie natürlich ihre Ruhe haben und ganz unter sich sein … und das Zimmer brauchen sie dann ja auch ... sobald das Baby unterwegs ist", sagte sie sehr viel weicher und bedachte ihren verlegen grinsenden Filius und die erhoffte Schwiegertochter mit einem verklärten Lächeln.

Doch Jessamy fühlte jetzt einen ersten Funken von Ärger unter ihrer schläfrigen Zufriedenheit. Sie liebte Zev sehr, aber von Heirat war zwischen ihnen noch nie die Rede gewesen und von Nachwuchs schon gar nicht. (Was natürlich vor allem daran lag, dass sie jedes Mal, wenn sie zusammen waren, viel zu sehr miteinander beschäftigt waren, um ernsthafte Zukunftspläne zu schmieden.)

Und trotz aller Sympathie für Zevs Eltern – vom Rest der Familie ganz zu schweigen –, würde Jessamy sich nicht von ihnen bevormunden lassen. Egal, was Tork und Glinda Gilfoy dachten, sie war schon lange kein Kind mehr – mein Küken, also wirklich! – und sie würde sich weder zu einer überstürzten Hochzeit noch zu sonst etwas drängen lassen. Doch bevor sie dazu kam, sanft, aber entschieden Protest einzulegen, hatte Tork schon Feuer gefangen.

„Aber Glin, willst du damit etwa sagen, dass die beiden vorhaben, in diesem baufälligen alten Gemäuer zu hausen?" schrie er halb ungläubig, halb entsetzt und sah dabei so drollig aus, dass Jessamy gegen ihren Willen schmunzeln musste.

„Das kommt ja gar nicht in Frage! Wenn sie nicht hier bei uns wohnen wollen (obwohl es eine Kleinigkeit wäre, oben auszubauen oder unten anzubauen - ich habe schon mal bei unserem Firmenarchitekten vorgefühlt!), dann kaufen wir ihnen natürlich eine Eigentumswohnung oder am besten gleich ein Haus. Sie werden mein erstes Enkelkind jedenfalls nicht in einem zugigen Gruselschloss aufziehen, das praktisch jeden Augenblick über ihren Köpfen einstürzen kann!"

„Mrs. Eszella hat mir erzählt, dass die Thranis aus Nummer 124 bald ausziehen. Sie wollen etwas Größeres und da verkaufen sie das Haus natürlich, ganz preiswert … So ein süßer Bungalow mit einem wunderschönen Garten … Genau das Richtige für ein junges Paar mit ein oder zwei kleinen …"

„Die Eszella ist eine alte Klatschbase und hat trotzdem keine Ahnung, was wirklich abgeht! Die Thranis ziehen nur aus, weil sie den Schwamm in den Wänden haben – das kommt eben davon, wenn man zu geizig ist, sein Dach ordentlich zu isolieren und in Schuss zu halten. Und wenn erst ein paar kräftige Regengüsse in die Mauern gesickert sind und sich in allen Ecken und Winkeln Schimmel gebildet hat, dann kann sich jeder, der diese Sauerei sanieren lassen muss, ebenso gut gleich die Kugel geben ...

Preiswert?! Geschenkt wäre noch zu teuer! Keinen müden Credit würde ich in diesen Schuppen investieren! Und überhaupt ist die Bude sowieso zu klein – da hätten die Kinder ja in Jaspers Hundehütte mehr Platz! Und der Garten ist gerade mal so groß wie ein Handtuch und besteht praktisch nur aus Quecken und Disteln und einer uralten verkrüppelten Dhulahecke voller riesiger Domen. Nein, nein, mir schwebt da etwas ganz anderes vor …"

„Ach Unsinn, Schimmel! Dieses süße kleine Haus …"

Und so ging es noch eine ganze Weile hin und her. Aber als sie merkten, dass sie sich weder über das Haus der Thranis noch über ein anderes verfügbares Grundstück in der Nachbarschaft einigen konnten, ließen sie das Thema vorläufig fallen und verlegten sich darauf, die Qualität der Kindergärten und Vorschulen des Viertels zu diskutieren, denn natürlich kam für die lieben Kleinen, die noch nicht einmal geboren worden waren, nur das Allerbeste in Frage, zumal sie ihre Mutter nur alle paar Wochen einmal zu Gesicht bekommen würden, die armen vernachlässigten Kinderchen …

„Es sei denn, Sam gibt ihren Job auf", bemerkte der künftige Großpapa mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre dieser Schritt nicht nur der natürlichste, sondern auch der unkomplizierteste der Welt.

„Warum um Himmels willen sollte Sam das tun? Heutzutage gehen doch fast alle jungen Frauen arbeiten und das ist auch gut so. Selbstverwirklichung und all das ... Furchtbar, wie altmodisch du manchmal bist, Tork! Obwohl es für die Kleinen und für Sam selbst natürlich ganz gut wäre, wenn sie zwischendurch mal eine kleine Pause machen würde ... nur für zwei, drei Jahre oder so …"

Und das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte!

Jessamy, die bis jetzt in stummer Faszination mitangehört hatte, wie ihre Zukunft verplant wurde, kniff ihren Liebsten in den Arm (ziemlich hart!) und zischte ihm ins Ohr: „Sag endlich was!"

„Autsch! Äh ... Mom? Dad? Wir sind natürlich sehr froh und sehr dankbar, dass ihr euch so viele Gedanken um uns macht …" Zev legte eine kleine diplomatische Pause ein und strahlte seine Eltern an, „... aber Tatsache ist, dass Sam und ich noch gar nicht so weit vorausgeplant haben. Ich meine, wir haben eigentlich noch nie darüber geredet, wie das jetzt mit uns weitergehen soll."

„Was?!" rief Tork. „Ja, aber ... was treibt ihr beiden eigentlich den ganzen Tag?"

An diesem Punkt begann Godis, die die Sache mit Spannung verfolgt hatte, haltlos zu kichern. Und einen Augenblick später lachten sie alle und die ganze Situation löste sich in Heiterkeit auf.

Die fidele Stimmung hielt an und als Jessamy kurz nach Mitternacht aufbrach, dieses Mal mit einem Taxigleiter, weil Zev ohnehin nur noch ein paar kurze Stunden Schlaf blieben, bis er sich auf den Weg zu einer größeren Geschäftsreise machen musste, verabschiedete sie sich mit großer Herzlichkeit von allen Gilfoys, die sie der Reihe nach heftig umarmten und sie dazu aufforderten, sie sobald wie möglich wieder zu besuchen.

„Und warte ja nicht auf eine Einladung oder darauf, dass Zev dich herbringt. Komm einfach, wann immer du Lust hast, Mädel", dröhnte Tork jovial.

Und Glinda drückte Jessamy noch schnell einen sehr mütterlichen kleinen Kuss auf die Stirn und wisperte ihr zu: „Und wenn du mal ein Gespräch unter vier Augen brauchst, Sam – so von Frau zu Frau – dann weißt du ja, wo du mich findest. Ich bin immer für dich da, Liebes."

Und so kam es, dass Jessamy so beschwingt nach Hause fuhr, dass sie die unangenehme kleine Szene mit Sondra schon beinahe vergessen hatte …

Aber sie wurde schnell genug daran erinnert, denn als sie in der Annahme, dass Sondra schon längst schlief, leise ihre Wohnung betrat, war das erste, was sie hörte, die Stimme ihrer Mitbewohnerin, die aus dem nur schwach erleuchteten Wohnzimmer drang.

„Nein! Das geht nicht, das ist unmöglich! Warum, warum ... Ich habe schon hundertmal erklärt, warum! Es ist einfach noch viel zu früh. Ich bin noch nicht so weit."

Eine kleine Pause, dann heftig: „Das ist meine Entscheidung. So war es abgemacht. Ich entscheide, wann und wie – niemand sonst." Wieder eine Pause, dann beinahe flehend: „Nein, nein, so habe ich das ja gar nicht gemeint." Und dann noch flehentlicher: "Nein, bitte nicht! Nicht ich! Das bringe ich nicht über mich … das kann ich einfach nicht."

Jessamy stand im Dunkel ihrer Diele und verstand gar nichts mehr, obwohl sie jedes Wort klar und deutlich hören konnte. Hatte Sondra Besuch? Saß der Sonnenbrillen-Mann bei ihr im Wohnzimmer? Aber warum war dann nur Sondras Stimme zu hören? Führte sie jetzt schon Selbstgespräche? Was hatte Zev gesagt? Eine Neurotikerin wie aus dem Bilderbuch ...

Dann fiel Jessamys Blick auf den Bildschirm der Kom-Einheit, ein vager rechteckiger Umriss, über den ein undefinierbares weißblaues Flirren lief – und plötzlich begriff sie.

Sondra führte keine Selbstgespräche mit einem imaginären Besucher, sie telefonierte einfach nur. Sie hatte das tragbare Kom-Modul von der Basisstation mit ins Wohnzimmer genommen und sprach jetzt von dort aus mit irgendjemandem. Vielleicht mit dem Sonnenbrillen-Mann - vielleicht aber auch mit jemand ganz anderem.

Jessamy starrte auf den flimmernden leeren Monitor, ein allzu bekannter Anblick, der ausgesprochen unerfreuliche Assoziationen in ihr weckte. Unterhielt sich Sondra etwa mit … Mr. X? War es möglich, dass der mysteriöse anonyme Anrufer etwas mit dem Sonnenbrillen-Mann zu tun hatte – oder waren sie vielleicht sogar ein und dieselbe Person?

Die bloße Vorstellung ließ eine Gänsehaut über Jessamys Rücken und Arme laufen und sie gab unwillkürlich einen kleinen Laut von sich. Es war nur ein Atemzug, der durch zusammengebissene Zähne entwischte, aber Sondra hörte es trotzdem.

„Moment mal, da war eben irgendwas. Ich sehe nur mal nach …"

Sie hatte die letzte Silbe noch nicht ausgesprochen, da stand sie auch schon draußen im Flur.

Aber Jessamy war noch schneller gewesen als sie, was nicht nur an ihren sorgfältig trainierten Reflexen lag. Sekundenbruchteile, bevor Sondra die Diele mit einem Wort in grelles Licht badete, kauerte Jessamy schon regungslos und mit wild klopfendem Herzen in dem toten Winkel hinter ihrer Schlafzimmertür.

Es war einfach grotesk und der nüchterne alltägliche Teil von Jessamys Verstand – der Teil, der zu Raumflotten-Lieutenant Sorkin mit all ihrem Selbstbewusstsein und ihrem roten Gürtel in Hai'Ku gehörte – wusste das auch und verspottete sie dafür, dass sie sich in ihrer eigenen Wohnung versteckte wie eine Einbrecherin, die Angst davor hatte, auf frischer Tat ertappt zu werden.

Aber ein älterer, primitiverer Teil von Jessamys Gehirn – der Teil, der ihre Urahnen in grauer Vorzeit dazu veranlasst hatte, sich zitternd hinter dem ungewissen Schutz eines Lagerfeuers zu verschanzen, weil draußen vor dem Eingang ihrer Höhle der Tod in Form eines fauchenden Säbelzahn-Pardegs schon Witterung aufgenommen hatte – schrie ihr voller Panik die Mutter aller Überlebensregeln zu: Nicht bewegen ... nicht atmen ... nicht einmal denken!

Und so hockte sie wie zu Stein erstarrt in der schmalen Nische zwischen Schlafzimmertür und Wand, rührte sich nicht, hielt den Atem an und existierte nur noch, um auf ihren eigenen jagenden Herzschlag zu lauschen und wie gebannt Sondras Schatten zu beobachten, der sich jetzt langsam in das Lichtviereck hineinschob, das vom taghell erleuchteten Flur in Jessamys nachtschattiges Zimmer fiel ...

„Sam?" sagte Sondra unsicher.

Es hätte Jessamy eigentlich beruhigen sollen, dass Sondras Stimme beinahe genauso ängstlich klang wie sie selbst sich fühlte, aber seltsamerweise war eher das Gegenteil der Fall. Denn die irrationale Furcht, die Jessamy jetzt erfasst und völlig im Griff hatte, hatte absolut nichts mehr mit ihrer von Vernunft geprägten modernen Welt zu tun. Diese Furcht kam aus den lebensfeindlichen Dschungeln und Steppen ihrer frühesten Vorfahren, aus der von Raubtiergebrüll erfüllten Dämmerung der menschlichen Evolution. Und dieser Zustand kannte nur zwei Formen der Erlösung – Flucht oder Kampf!

Jessamy, die sich ganz spontan für die Fluchtlösung entschieden hatte, kam gerade zu der Erkenntnis, dass sie die falsche Alternative gewählt hatte, als Sondras Schatten sich langsam in die Diele zurückzog.

Einen Augenblick später erloschen die Flurlichter und Jessamy konnte hören, wie Sondra im Wohnzimmer ihr Gespräch wieder aufnahm, jetzt allerdings so gedämpft, dass kein Wort mehr vom anderen zu unterscheiden war.

Jessamy wartete noch zwei oder drei Minuten, die ihr wie Jahrhunderte vorkamen, dann huschte sie auf Zehenspitzen aus ihrem Zimmer und aus ihrer Wohnung hinaus, wobei sie die Eingangstür so behutsam hinter sich zuschnappen ließ, dass nicht mehr davon zu hören war als ein einziges winziges Klicken. Aber sie atmete erst richtig auf, als sie im Treppenhaus Zuflucht gefunden und sich irgendwo zwischen dem achtundvierzigsten und neunundvierzigsten Stock auf den Stufen niedergelassen hatte, um sich von ihrem sonderbaren kleinen Abenteuer zu erholen.

Sie hätte niemandem erklären können, warum sie das alles tat (wie hätte sie auch etwas erklären sollen, das so uncharakteristisch für sie war, dass sie es selbst kaum nachvollziehen konnte?), aber sie blieb trotzdem eine Dreiviertelstunde lang auf der Treppe sitzen, bevor sie in ihre Wohnung zurückkehrte. Und dieses Mal machte sie bei ihrer Ankunft so viel Lärm wie nur möglich, so dass nicht der geringste Zweifel an ihrer Anwesenheit bestehen konnte. Aber inzwischen lag Sondra tatsächlich in ihrem Bett und schlief – oder tat wenigstens so als ob …

Auch das Kom-Modul lag jetzt wieder in aller Unschuld in seiner Vertiefung auf der Basisstation, als wäre es nie weggewesen, als hätte das Telefonat, das Jessamy mehr oder weniger belauscht hatte, nie stattgefunden.

Aber als sie aus einem plötzlichen Impuls heraus auf die Wahlwiederholungstaste drückte und eine angenehm modulierte Computerstimme ihr mitteilte, dass unter dieser Nummer leider kein Anschluss bestand, obwohl sie schon an der Gebührenanzeige sehen konnte, dass unter eben dieser Nummer ein dreiundfünfzig Einheiten langes Gespräch zum Preis von genau acht Credits stattgefunden hatte, da wunderte sie sich schon gar nicht mehr darüber. Sie hatte zwar nicht direkt damit gerechnet, aber es kam ihr irgendwie fast normal vor, dass Mr. X – oder wer auch immer – eine Kom-Nummer benutzte, die offiziell gar nicht existierte ...

Und als sie endlich selbst zu Bett ging, hatte sie beinahe das Gefühl, dass sie sich nie wieder über irgendetwas wundern würde, was mit Sondra zu tun hatte.

Doch dieses Gefühl sollte sich bald als Trugschluss entpuppen – so wie alles, was mit Sondra zu tun hatte …

Vardiss:

„Und das war der Anfang vom Ende – obwohl ich das damals natürlich noch nicht wusste."

„Ausgezeichnet! Endlich kommt ein bisschen Bewegung in die Geschichte", rief Breghala.

Seine Falkenaugen glitzerten vor Jagdeifer, als er sich ein wenig vorbeugte. „Weiter, Sorkin, weiter!" drängte er.

„Der große Knall kam dann ein paar Wochen später ..."


Fortsetzung folgt …