IV.
Devon:
Jessamy nahm den Sweater mit dem roten Rautenmuster aus dem obersten Regal und war gerade im Begriff, die Schwebetüren ihres Kleiderschrankes wieder zuzuschieben, als sie plötzlich stutzte, mitten in der Bewegung innehielt. Irgendetwas an oder vielmehr in diesem Schrank war anders als sonst. Oh, nichts war durcheinander, nichts war in Unordnung, ganz im Gegenteil – es war zu ordentlich, zu perfekt!
Ein wenig verblüfft musterte Jessamy die Stapel in den verschiedenen Schrankfächern, die so gleichmäßig nebeneinander aufgereiht waren und so kerzengerade in die Höhe strebten, als hätte man sie mit einer Wasserwaage ausgerichtet und die Abstände zwischen ihnen mit einem Lineal auf den Millimeter genau ausgemessen.
Pullover, T-Shirts, Unterwäsche … die einzelnen Stücke waren nicht nur sorgfältig zusammengelegt, wie es sich gehörte, sondern auch noch ganz exakt aufeinander aufgeschichtet, Kante auf Kante, Saum auf Saum, mit der unerbittlichen Präzision eines Haushaltsdroiden. Und das war noch längst nicht alles … Sie ließ sich im Schneidersitz auf ihrem Bett nieder, um dieses Mirakel aus sicherer Entfernung zu bestaunen.
Jessamy kannte viele junge Offiziere – nicht nur Kollegen von der Warbride –, die dazu neigten, dem Leben mit einer gewissen Nonchalance gegenüberzutreten, sobald man ihnen dazu Gelegenheit gab. Dies äußerte sich meistens in möglichst hedonistischen oder betont unkonventionellen Freizeitaktivitäten – manchmal aber auch darin, dass sie in ihren eigenen vier Wänden, wo sie niemandem Rechenschaft über ihr Tun und Lassen schuldig waren, die Dinge ganz gerne ein wenig lockerer angehen ließen.
Und wer konnte ihnen das verdenken? Schließlich verbrachten sie einen ziemlich großen Teil ihres Daseins unter den Argusaugen von strengen Vorgesetzten, die selbst korrekt bis ins Knochenmark und daher oft extrem anspruchsvoll waren, wenn es um Leistung und Disziplin ihrer Untergebenen ging. Als Ausgleich dafür musste offenbar eine Art Ventil aus kreativer Unordnung geschaffen werden, was bei besonders unbekümmerten Zeitgenossen schnell in ein fröhliches Chaos ausarten konnte.
Kaye Drumheller, die sich immer wieder als überzeugte Freizeitanarchistin outete und in ihren Sternstunden dazu in der Lage war, wie ein Tornado durch ein Zimmer zu wirbeln und innerhalb von Minuten das Unterste zuoberst zu kehren, war ein gutes Beispiel für diese Laisser-faire-Haltung, die nach einer formlosen Ungezwungenheit strebte, die Berufssoldaten sich grundsätzlich nur in ihren sparsam bemessenen Mußestunden leisten konnten.
Kaye pflegte immer zu sagen: „Wenn ich nicht mal zu Hause so richtig abschalten und die Seele baumeln lassen kann – na, wo dann?" Und auf irgendeiner Ebene hatte sie damit sogar Recht.
Was Jessamy anging, so entsprach ihr ziemlich stark ausgeprägter Sinn für Ordnung einer natürlichen Veranlagung, die durch ihre Arbeit noch gefördert worden war und sich daher auch in ihrem Privatleben widerspiegelte. Aber glücklicherweise war sie nur eine Perfektionistin und keine Pedantin, wie Kaye oft lachend erklärte, wenn sie Jessamy wegen ihrem "Fimmel" aufzog.
Und tatsächlich hatte es trotz all der Akkuratesse, die tief im Kern von Jessamys Wesen verwurzelt war, nur eine einzige kurze Phase in ihrem Leben gegeben, in der sie sich dazu gezwungen gesehen hatte, ihr Hab und Gut so ... penibel aufzuräumen, wie sie es hier und jetzt in ihrem Kleiderschrank vorfand. Dieser einmalige Präzedenzfall hatte sich während ihrer Ausbildung an der Militärakademie ereignet, nachdem ein Sergeant namens Pinnbec, der für die regelmäßige Inspektion der Kadettenquartiere zuständig gewesen war, Jessamys Spind viermal hintereinander komplett ausgeräumt und seinen ganzen Inhalt quer über den Boden verstreut hatte, um sie für ihre angebliche Schlamperei zu bestrafen, was natürlich nichts anderes als reine Schikane gewesen war.
Jessamy lächelte vor sich hin, als ihre Gedanken in die Vergangenheit zurückschweiften. Natürlich hatte sich Pinnbec (ein Schleifer wie aus einem Handbuch für Möchtegern-Sadisten und damit der personifizierte Alptraum jedes Kadetten!) allgemeiner Unbeliebtheit erfreut. Jessamy und ihre Leidensgenossen hatten angesichts der sinnlosen Tyrannei, der sie Tag für Tag ausgesetzt waren, alle möglichen Rachepläne ausgeheckt, bis irgendjemand irgendwann einen echten Geistesblitz produziert und den Vorschlag gemacht hatte, einfach zwei paarungsbereite arionische Stinklurche im Quartier ihres Peinigers freizulassen – eine Idee, die sofort stürmische Heiterkeitsausbrüche unter den Verschwörern ausgelöst hatte und daher mit heller Begeisterung aufgegriffen worden war.
Die "Operation Pinnbec" war mit einem strategischen Kalkül, das den Taktiklehrer dieser hoffnungsvollen Offiziersanwärter-Klasse bestimmt mit Stolz erfüllt hätte, hätte er je davon erfahren, geplant und in einer Aufsehen erregenden Nacht-und-Nebel-Aktion in die Tat umgesetzt worden. Und natürlich hatte sie sich als durchschlagender Erfolg erwiesen: Die reichlich abgesonderten Drüsensekrete der Stinklurche, die der großen, glücklichen und artenreichen Familie der Amphibien angehörten, verbreiteten ein unbeschreiblich intensives Aroma, das sich noch wochenlang an dem gesamten lebenden und toten Inventar von Pinnbecs Quartier gehalten und jedem, der auch nur in seine Nähe gekommen war, prompt die Tränen in die Augen getrieben hatte.
Darüber hinaus hatten die lieben Tierchen offenbar auch ziemlich aggressiv auf die wilden Verfolgungsjagden, brutalen Mordversuche und ähnlich rabiaten Störungen ihrer Balzrituale reagiert: Ein anderer Ausbilder, der das Pech hatte, Pinnbecs Zimmernachbar zu sein, war durch lautes Gepolter und noch lautere Flüche aus seinem wohlverdienten Schlaf gerissen und auf diese Weise Ohrenzeuge der gewalttätigen mitternächtlichen Konfrontation zwischen Mensch und Natur geworden. Außerdem war es am nächsten Tag nicht zu übersehen gewesen, dass Pinnbecs sonst so forscher Marschschritt durch ein leichtes Humpeln beeinträchtigt wurde – ein weiterer Beweis dafür, dass die Stinklurche nicht nur ihre scharfkantigen Rückenkämme, sondern auch ihre gefährlich gezackten Beißerchen energisch zu ihrer Verteidigung eingesetzt hatten.
Übrigens hatte Pinnbec später irgendwie herausgefunden, wer für diesen Anschlag verantwortlich war, obwohl die ganze Aktion unter dem Siegel der Verschwiegenheit organisiert und durchgeführt worden war. Aber zu diesem Zeitpunkt hatten Jessamy und ihre Komplizen schon mit ihrem Examen und dem damit verbundenen Prüfungsstress gekämpft. Und noch bevor Pinnbec dazu gekommen war, Vergeltungsmaßnahmen gegen die Attentäter einzuleiten, hatten sie alle ihr Offizierspatent und ihre Abkommandierung in den aktiven Dienst in der Hand.
Sie verließen die Akademie als strahlende Sieger und räumten das Schlachtfeld in dem triumphalen Bewusstsein, dass ihr Feind geschlagen, gedemütigt und ohne die leiseste Hoffnung auf Revanche zurückblieb. Die Erinnerung an diesen glorreichen Augenblick zauberte ein breites spitzbübisches Grinsen auf Jessamys Gesicht.
Das waren noch Zeiten! dachte sie mit einem Hauch von Nostalgie. Ein wenig widerstrebend schloss sie ihre Reminiszenzen ab und kehrte in die Gegenwart zurück …
Ja, Pinnbec hatte ihr damals ganz schön zu schaffen gemacht – aber nicht einmal er hätte sie dazu gebracht, ihre Sachen nach Farben zu sortieren. Oder vielleicht doch?
Jessamy schüttelte den Kopf, als sie den Inhalt ihres Schrankes noch einmal genauer in Augenschein nahm. Die auf Drahtbügel aufgehängten Kleider waren natürlich immer in zwei Reihen aufgeteilt (Oberteile links, Unterteile rechts), aber Jessamy konnte sich nicht daran erinnern, das kurzärmlige Lacozz-Sporthemd jemals direkt neben der edlen Seidenbluse mit der Doppelreihe aus zierlichen goldenen Schmuckknöpfen platziert zu haben, nur weil die beiden Stücke rein zufällig das gleiche aparte Bernsteingelb aufwiesen.
Und was hatte die zu einem fahlen Blau verblasste Nietenhose, die schon so abgetragen war, dass Jessamy sie nur noch zum Segeln trug und demnächst endgültig ausrangieren wollte, ausgerechnet neben der todschicken nagelneuen Schlaghose mit ihren samtig schimmernden Flockprintmustern in tiefen leuchtenden Azur- und Indigotönen zu suchen? Und hatte sich Jessamy beim letzten Wegräumen eines ganzen Schwungs frisch gewaschener Slips und Unterhemden wirklich die Mühe gemacht, die weißen Garnituren fein säuberlich von den bunten zu trennen? Nein … jedenfalls nicht bewusst …
Aber das ließ nur zwei Möglichkeiten offen: Entweder hatte sie irgendwann in einer Art Trance ihre ganze Garderobe umsortiert oder …
Oder es war Sondra!
Der bloße Gedanke kerbte eine steile Falte zwischen Jessamys Augenbrauen. Dass sie ihre Wohnung mit einer Untermieterin teilte, hieß noch lange nicht, dass sie dazu bereit war, ihre Intimsphäre aufzugeben. Es gab ganz persönliche Grenzen, die respektiert werden mussten, Grenzen, deren Überschreitung sie nicht dulden konnte und auch nicht dulden würde.
Natürlich würde sie wegen so einer Lappalie keinen Streit vom Zaun brechen, aber diese Angelegenheit musste ausdiskutiert werden.
Oder vielleicht doch nicht? Wie sollte sie dieses heikle Thema überhaupt zur Sprache bringen? Sollte sie Sondra einfach damit konfrontieren, es ihr auf den Kopf zusagen? Sie waren bis jetzt immer so gut miteinander ausgekommen – zu schade, wenn sich daran etwas ändern würde. Sondra war so unsicher, so verletzbar. Wenn Jessamy sie jetzt aus heiterem Himmel heraus wegen dieser doch etwas peinlichen Sache zur Rede stellte, würde Sondra wahrscheinlich buchstäblich im Erdboden versinken vor Verlegenheit. Sie würde sich vielleicht sogar so sehr schämen, dass sie gleich ihre Siebensachen packte und auf und davon lief – ein Risiko, das Jessamy auf gar keinen Fall eingehen wollte.
Jessamy stieß einen kleinen Seufzer aus. Sondra war ganz anders als Kaye – in jeder Beziehung. Mit Kaye hätte sie ganz offen über dieses Problem reden können. Aber mit Kaye wäre es ja auch gar nicht erst dazu gekommen. Kaye wäre garantiert nie auf die Idee verfallen, in Jessamys Schlafzimmer herumzustöbern … Kaye, die so offen war wie eine aufgeklappte Muschel und so treu wie Gold … Kaye, die sich seltsamerweise schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gemeldet hatte und auch gar nicht mehr auf Jessamys Anrufe oder sonstige Kontaktversuche reagierte, was noch viel seltsamer war …
Wie auf Stichwort ertönte im Flur ein Klingeln, das sich für Jessamy anhörte wie eine Symphonie aus Sphärenklängen – wenn sie je einen ausführlichen Gedankenaustausch mit einem wahren Bollwerk aus Freimütigkeit und Geradlinigkeit gebraucht hatte, dann jetzt!
„Ein Hoch auf die weibliche Intuition!" sang sie vor sich hin, als sie einen Spurt in Richtung Kom einlegte.
Doch es war gar nicht Kaye Drumheller, die nach einer viel zu langen Sendepause endlich mal wieder den Wunsch verspürt hatte, ein Lebenszeichen von sich zu geben …
Es war auch niemand sonst von Jessamys Freunden – jedenfalls hoffe sie das, denn sie legte nicht den allergeringsten Wert auf anonyme Anrufer in ihrem Bekanntenkreis …
Halb verärgert, halb ratlos starrte sie auf den Kom-Monitor, der schwarz blieb wie immer, wenn der große Unbekannte anrief, was neuerdings ziemlich oft vorkam. Wahrscheinlich bestand sein ganzer Lebensinhalt darin, jeden Tag bei ihr und vermutlich noch bei einem Dutzend anderer Frauen anzurufen, ihnen zwei- oder dreimal laut ins Ohr hineinzuatmen und dann einfach die Aus-Taste zu betätigen.
Denn das war alles, was Mr. X je tat. Er sprach nie, er sagte kein einziges Wort, nicht ein einziges Mal. Da war nichts als dieses absolute Schweigen, nachdem Jessamy sich gemeldet hatte, eine beinahe hypnotische Stille, die sie so in ihren Bann zog, dass sie unwillkürlich regungslos stehen blieb und auf die unvermeidlichen Atemzüge lauschte, bis das charakteristische elektronische Knacken in der Leitung kam, mit dem die Verbindung abriss. Jessamy wusste selbst nicht genau warum, aber aus irgendeinem Grund beunruhigte sie dieses beharrliche Schweigen mehr, als es bei dem üblichen Schwall von Obszönitäten der Fall gewesen wäre, den man normalerweise von solchen Leuten zu hören bekam – falls man bei diesen Freaks überhaupt noch von so etwas wie Normalität sprechen konnte.
Sie spielte schon seit einer Weile mit dem Gedanken, eine Fangschaltung installieren zu lassen. (Sie gehörte nämlich nicht zu den Frauen, die es widerstandslos hinnahmen, dass irgendjemand seine sexuellen Obsessionen oder Frustrationen oder was auch immer an ihnen abreagierte – sie nicht!) Aber bis jetzt hatte sie darauf verzichtet, weil Sondra diese Maßnahme für zu drastisch hielt. Sondras Meinung nach war Mr. X nämlich völlig harmlos – ein bisschen unheimlich, ja, aber harmlos.
Doch konnte man sich bei Sondra überhaupt noch auf Objektivität verlassen, wenn es um die Beurteilung von merkwürdigen Verhaltensweisen ging? Konnte man sich heutzutage überhaupt noch auf irgendetwas verlassen? Spleenige Untermieterinnen, die ihre Nasen in Dinge hineinsteckten, die sie absolut nichts angingen, verrückte Männer, die alleinstehende Frauen mit sonderbaren Anrufen terrorisierten – was kam als nächstes?
Leicht gereizt kehrte Jessamy in ihr Schlafzimmer zurück – gerade noch rechtzeitig genug, um den Kater zu verscheuchen, der den immer noch offenstehenden Kleiderschrank als eindeutige Einladung interpretiert hatte und nach einer kurzen Forschungsexpedition in all die neuen geheimnisvollen Winkel und Nischen gerade im Begriff war, ein bodenlanges Abendkleid auf seine Tauglichkeit als Schmusedecke zu untersuchen.
Jessamy schloss die verlockenden Schwebetüren mit einem aggressiven kleinen Knall, verjagte den enttäuschten Kater auch noch von ihrem Sweater, den sie vorhin unvorsichtigerweise einfach auf den Boden hatte fallen lassen, und hob das jetzt leicht mit Katzenhaaren verunzierte Stück auf, um endlich hineinzuschlüpfen. Sie kämpfte gerade darum, ihren Kopf durch den ziemlich engen Halsausschnitt zu zwängen und gleichzeitig ihre linke Hand aus einem völlig verhedderten Ärmel zu befreien, als es schon wieder klingelte. Dieses Mal war es die Tür.
Jessamy fluchte, brachte das widerspenstige letzte Stück ihres Outfits nur unter roher Kraftentfaltung in die vorgesehene Position und stürmte hinaus, nur allzu bereit, einen akuten Anfall von schlechter Laune an jedem Störenfried auszulassen, der jetzt das Pech hatte, sich als geeigneter Blitzableiter zu präsentieren.
Der Kater, der interessante Ereignisse vorausahnte, schoss hinter ihr her wie ein abgefeuerter Protonentorpedo hinter einem feindlichen Schiff, holte sie dank seiner vierbeinigen Überlegenheit in der nächsten Kurve ein und geriet dabei prompt auf Kollisionskurs mit ihren Füßen. Jessamy, die nicht mit dem plötzlichen Auftauchen eines lebenden Stolpersteines gerechnet hatte, stieß im Fallen eine Bodenvase um, die unter einer dekorativen Tarnung aus bunten Bimbassa-Gräsern mit allem möglichen Krimskrams gefüllt war, und landete unter erstaunlich großem Lärmaufwand zwischen einem Sammelsurium aus zerknautschten Mini-Regenschirmen, Schuhlöffeln, zerfledderten Fell-O-Plastbällen und Recyclingtüten auf ihrem Teppich.
Laut schimpfend raffte sie sich wieder auf und untersuchte flüchtig sämtliche in Mitleidenschaft gezogenen Körperteile, bevor sie wutentbrannt die letzten Schritte zur Tür hinüberhinkte, die sie schließlich so heftig aufriss, dass der hochaufgeschossene rothaarige junge Mann, der inzwischen vor Neugier fast verging und sich daher angestrengt lauschend an die mit Intarsien verzierte Echtholzfüllung geschmiegt hatte, seinerseits das Gleichgewicht verlor und ihr beinahe in die Arme fiel.
„Wow! Das ist aber eine stürmische Begrüßung!" lachte er ein wenig atemlos, als er wieder halbwegs sicher in der Senkrechten stand.
"Zev!", rief Jessamy und fiel ihrem Besucher spontan um den Hals, eine Umarmung, die ebenso spontan erwidert wurde, was die allgemeine Wiedersehensfreude noch um eine Zehnerpotenz steigerte und alle im Entstehen begriffenen blauen Flecken und andere Unannehmlichkeiten sofort in Vergessenheit geraten ließ – zumindest vorläufig.
„Seit wann bist du wieder hier in Delamere? Warum hast du so lange nichts von dir hören lassen? Weißt du eigentlich, dass ich furchtbar böse auf dich bin?", sprudelte sie heraus, während sie ihren Gast durch den neuen Hindernisparcours im Flur lotste und ihn in die Küche dirigierte, wo sie beide dankbar auf den nächstbesten Stuhl sanken.
„Ach, deshalb musste ich beinahe vor dir auf die Knie fallen. Ich bitte vielmals um Entschuldigung! Reicht das oder muss ich mich doch noch voller Demut auf den Boden werfen?", sagte Zev Gilfoy augenzwinkernd.
Jessamy lachte. „Also wenn du mich schon so fragst: Ich mag es irgendwie ganz gerne, wenn Männer vor mir niederknien", neckte sie.
„Das glaube ich dir sofort", erwiderte Zev trocken. „Aber mal ganz im Ernst, Sam, es ist nicht gerade leicht, mit dir in Kontakt zu bleiben – vor allem, wenn man genauso viel unterwegs ist wie du.
Ich war die letzten drei Monate mit Dad auf Ceras 4. Wir hatten einen Großauftrag von einem unserer wichtigsten Kunden, eine neue Konservenfabrik mit allem, was dazu gehört. Wir waren ziemlich unter Zeitdruck, weil das ganze Ding schon vor der nächsten Erntesaison fertig sein sollte und dann auch noch die üblichen Probleme.
Dieses ganze Theater um Genehmigungen hier und Bestimmungen da kann einen wirklich fast wahnsinnig machen und dann auch noch diese ständigen Lieferschwierigkeiten. Ich meine, tonnenweise Obst und Gemüse möglichst schnell einzudosen, damit das Zeug nicht verrottet, sollte auf einem Planeten, dessen ganze Wirtschaft mit dem Export von Lebensmitteln steht und fällt, ja wohl mindestens genauso wichtig sein wie ein neuer Bürokomplex für irgendeine Behörde, die sowieso niemand will oder braucht.
Aber versuch das mal einer Horde von verbohrten Erbsenzählern beizubringen! Diese Papiertiger von der Administration sind scheinbar der Meinung, dass Regierungsprojekte ruhig die ganze Baumaterialzuteilung einkassieren können – der Rest der Welt kann ja unter freiem Himmel hausen und arbeiten! Die denken wohl, wenn sie mit ihrem eigenen Hintern schön warm und trocken sitzen, macht es nichts, wenn alle anderen buchstäblich im Regen stehen!"
Zev legte eine kleine Atempause ein (vielleicht meditierte er auch ein wenig über die ziemlich eingleisige Weltsicht des typischen imperialen Beamten!), bevor er etwas ruhiger fortfuhr: „Na ja, jedenfalls waren wir den ganzen Tag auf Achse und ich war abends immer fix und fertig. Trotzdem habe ich mir wenigstens ab und zu mal die Mühe gemacht, bei dir anzurufen, aber es war entweder ewig besetzt oder es ging nie jemand ran. Also wirklich, Sam, der Imperator ist leichter an die Strippe zu kriegen als du."
„Ziemlich unwahrscheinlich, aber wer weiß? Du kannst es ja mal versuchen."
Jessamys Schmunzeln ging beinahe nahtlos in ein Stirnrunzeln über. „Aber dass du nie durchgekommen bist, verstehe ich irgendwie nicht ganz, Zev. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sondra abends die Leitung mit Dauergesprächen blockiert. Dafür ist sie gar nicht der Typ. Und dass sie es einfach klingeln lässt – na, ich weiß auch nicht. Sie könnte ja wenigstens die Mailbox einschalten, wenn sie schon keine Lust hat, ranzugehen. Ob sie Probleme mit dem Teil hat? Gesagt hat sie jedenfalls nichts davon."
„Wer ist Sondra?"
„Ach, davon weißt du ja noch gar nichts …"
Und Jessamy ging dazu über, Zev auf den aktuellen Stand der Dinge zu bringen. Als sie damit fertig war, merkte sie, dass sein schmales Gesicht sich ein wenig umwölkt hatte. Seine leuchtend grünen Augen verdunkelten sich, als er die Brauen zusammenzog, und das Band aus Sommersprossen, das sich quer über den Rücken seiner langen Nase spannte, kräuselte sich, als er einen kleinen Flunsch zog.
„Was ist denn?"
„Ach nein! Dass das aber auch ausgerechnet dann passieren musste, als ich weg war – so ein Pech!", klagte Zev.
„Wieso denn das?"
„Na ja, wenn ich da gewesen wäre …" Zev zögerte einen Augenblick lang und zeichnete mit dem Zeigefinger die Maserung der Tischplatte nach. „Wenn ich hier auf Devon gewesen wäre", sagte er leise und ohne Jessamy anzusehen, „dann hättest du ja vielleicht erstmal mich fragen können, ob ich bei dir einziehen will, statt dir irgendjemanden einzuquartieren."
Jessamy war verblüfft und ein ganz klein wenig verwirrt. Diese Möglichkeit war ihr nie in den Sinn gekommen. Warum eigentlich nicht?
Sie starrte Zev an, der immer noch konzentriert auf die Tischplatte hinunterblickte, scheinbar völlig fasziniert von den spiralförmigen Kringeln in dem hellen Kifarholz, während sein Gesicht und seine Ohren langsam eine Farbe annahmen, die durchaus mit dem feurigen Fuchsrot seiner Haare konkurrieren konnte, was Jessamy vollkommen verstand – sie fühlte selbst gerade eine prickelnde Wärme, die langsam über ihre Wangen aufwärts kroch und sich in Richtung Stirn ausbreitete …
„Tut mir Leid, Zev", hauchte sie schließlich verlegen. „Daran habe ich irgendwie gar nicht gedacht. Ich wusste ja nicht, dass du ... Wenn du mir nur früher gesagt hättest, dass … Ich meine, immerhin haben wir noch nie richtig darüber geredet, ob wir vielleicht ..." Sie brach ab.
„Na ja, was nicht ist, kann ja noch werden, oder?"
Zevs Stimme war um eine Oktave abgerutscht und hatte plötzlich einen samtig-heiseren Beiklang, der sofort Schmetterlinge durch Jessamys Magen flattern ließ.
Da sie beim besten Willen nicht wusste, was sie darauf antworten sollte, flüchtete sie in ein Ablenkungsmanöver und rief nach dem Kater, der sie natürlich vollkommen ignorierte. Er hatte gerade seine Fell-O-Plastbälle wiederentdeckt und war jetzt vollauf damit beschäftigt, seine verschütteten Raubtierinstinkte auszuleben, indem er eine der elastischen und mit bunten Kunstpelzfasern überzogenen Kugeln mit heftigen Prankenhieben kreuz und quer durch den Flur scheuchte, fauchend und maunzend wie besessen und ganz außer sich vor Eifer und Mordgelüsten.
Um seinem Bedürfnis nach katzengerechter Action gerecht zu werden, ließ Jessamy jedes Mal, wenn er das Interesse an einem vielbenutzten Spielzeug verlor, das Teil für eine Zeitlang in der Versenkung verschwinden und ersetzte es einfach durch irgendein Vorgängermodell, das von ihrer Samtpfote immer wieder so enthusiastisch in Empfang genommen wurde, als wäre es brandneu. So sorgte sie für ständige Abwechslung und verhinderte gleichzeitig, dass der Kater aus purer Langeweile damit anfing, ihre Möbel oder sie selbst mit seinen Krallen zu tätowieren oder sich ähnlich unterhaltsame Härtetests für seinen Menschen und seine Umwelt auszudenken.
Er hörte sich vielleicht nicht ganz so wild und gefährlich an wie ein ausgehungerter Pardeg, der gerade eine Antilope in die Ewigen Jagdgründe beförderte, aber es bestand nicht der leiseste Zweifel daran, dass er sich genau so fühlte und es daher momentan vorzog, nicht an seine Haus- und Kuscheltierexistenz erinnert zu werden.
Von dieser Seite her war also vorläufig keine Hilfe zu erwarten - und wer weiß, zu welchen Erkenntnissen, Geständnissen oder Gefühlsausbrüchen es noch gekommen wäre, wenn nicht ausgerechnet in diesem Augenblick Sondra erschienen wäre wie eine Statistin in der Kuss-Szene einer Holovid-Schnulze.
Jessamy war erleichtert (sie brauchte ein bisschen Zeit, um über die unerwarteten, wenn auch keineswegs unwillkommenen Entwicklungen nachzudenken), aber Zev war gar nicht glücklich über diese Unterbrechung und deshalb fiel die obligatorische Begrüßungszeremonie ein klein wenig kühler aus, als es unter anderen Umständen der Fall gewesen wäre.
Auch Sondra floss nicht gerade über vor Begeisterung, als sie dem Gast vorgestellt wurde, was wohl an ihrer fast schon manischen Schüchternheit lag – vielleicht war sie einfach überfordert, wenn sie plötzlich mit einem wildfremden Menschen konfrontiert wurde. Auf jeden Fall murmelte sie sofort etwas von grässlichen Kopfschmerzen nach einem absolut grauenhaften Tag im Büro und war gerade im Begriff, sich fluchtartig in ihr Zimmer zurückziehen, als Jessamy sich einschaltete.
„Bleib doch noch ein bisschen hier. Ich mache uns gleich eine Tasse Tee und etwas zu essen, das wird dir bestimmt guttun, du wirst sehen."
„Ach, ich weiß nicht", sagte Sondra mit einem scheuen Seitenblick auf Zev.
Mitleid und Zuneigung brandeten wie eine warme Welle über Jessamy hinweg. Natürlich hatte Sondra, hypersensibel wie sie nun einmal war, sofort gemerkt, dass eine gewisse Spannung in der Luft lag wie ein unsichtbares Energiefeld, und fühlte sich jetzt als fünftes Rad am Wagen, woran Zev nicht ganz unschuldig war. Arme Sondra! Sie war so ängstlich darauf bedacht, nur ja niemandem im Weg zu sein, dass sie sich lieber unter irgendeinem Vorwand in ihrem Schneckenhaus verkroch, als das Risiko einzugehen, durch ihre bloße Anwesenheit zum Störfaktor zu werden.
„Jetzt setz dich schon hin", sagte Jessamy mit einer freundlichen Bestimmtheit, die erfahrungsgemäß jeden weiteren Widerspruch im Keim erstickte. (Den Hebel der Autorität setzte sie am liebsten so behutsam wie möglich ein und der Erfolg gab ihr zumindest auf der Warbride immer Recht. Dort hatte man schon hartgesottene Sturmtruppensoldaten und als aufmüpfig verschriene Techniker-Crews vor dieser sorgfältig dosierten Mischung aus Verbindlichkeit und sanftem Druck die Waffen strecken und ohne Gemurre oder demonstrativen Bummelstreik lammfromm eine Extraschicht nach der anderen schieben sehen. Es kam nur selten vor – zum Beispiel bei so unerfreulichen Zeitgenossen wie Gleb Botkin –, dass Jessamy sich dazu gezwungen sah, den vor ihr bevorzugten milden Befehlston mit einer schärferen und entsprechend durchsetzungsfähigeren Note zu versehen.)
Sondra ließ sich prompt fügsam auf dem Stuhl nieder, der am weitesten von Zevs Sitzplatz entfernt war, blieb aber während des Smalltalks, der sich nun entfaltete, mucksmäuschenstill. Sie sah die ganze Zeit über starr geradeaus, Zev ihr Profil zukehrend, als hätte sie Angst, er könnte sie anspringen, wenn sie es ihm leichtsinnigerweise gestattete, sie ganz direkt anzusehen.
Jessamy, die aus den verschiedensten Gründen nach einem harmlosen unverfänglichen Thema lechzte, das alle Anwesenden in die Unterhaltung einbezog, widerstand tapfer der Versuchung, mit Zev ausschließlich über ihre gemeinsame Clique zu schwatzen, und begann stattdessen über aktuelle Tagesgeschehnisse zu reden, während sie schnell einen etwas zusammengewürfelten, aber dafür einladend bunten Imbiss herrichtete.
„… und Begriel hat extra seine Jahres-Tournee unterbrochen und Yaksonn soll sogar einen Auftritt in der Corellia-Live-Gala abgesagt haben, nur um rechtzeitig für das Benefizkonzert hier auf Devon sein zu können", erzählte sie, als sie sich wieder zu den anderen setzte.
„Ach verdammt, hätten sie das nicht ein bisschen früher an die Presse geben können? Dann hätten wir wenigstens noch eine Chance gehabt, an Karten heranzukommen. Jetzt ist es natürlich hoffnungslos. Es heißt, das Metropolis-Stadion war innerhalb von zwei Stunden völlig ausverkauft. Und warum auch nicht? Es ist immerhin das Event. Na ja, wer zu spät kommt, den bestraft das Leben", seufzte Zev mit einem wehmütigen Blick auf Jessamy, die sehr wohl gemerkt hatte, dass er nicht nur auf das ihm entgangene Konzert anspielte.
Sondra musste sichtlich ihren ganzen Mut zusammennehmen, um sich der beinahe lebensgefährlichen Aufgabe zu stellen, der Abwechslung halber den Mund aufzumachen, um auch mal etwas zu dem Gespräch beizutragen, statt nur ein weiteres halbes Dutzend Silvarzwiebeln auf einmal hinein zu stopfen. „Wirklich schade, nicht?"
Niemand hätte behaupten können, dass ihr Einwurf die geistreichste Äußerung aller Zeiten war, aber Jessamy fand trotzdem, dass Zevs Antwort ruhig ein klein wenig entgegenkommender und vor allem sehr viel weniger herablassend hätte ausfallen dürfen.
„Schade?! Na, das nenne ich die Untertreibung des Jahres. Das ist viel mehr als nur schade, Mädchen, das ist eine echte Tragödie! Begriel und Yaksonn zusammen auf einer Bühne – das ist wie eine Supernova! Absolut phantastisch und absolut einzigartig! So eine Gelegenheit zu verpassen … das ist doch der blanke Horror für jeden echten Redrox-Fan!"
Zevs Gesicht legte sich in kummervolle Falten, was so drollig aussah, dass Jessamy trotz allem ein Grinsen nicht ganz unterdrücken konnte.
Aber Sondra machte große verständnislose Augen. „Warum? Sind die beiden denn so berühmt?"
So viel Naivität ging weit über Zevs Schmerzgrenze hinaus. „Berühmt?! Wir reden hier von Pitar Begriel und Mikhall Yaksonn – nur Gott ist noch berühmter! Was ist bloß los mit dir, Mädchen? Man könnte meinen, du hättest noch nie von ihnen gehört."
„Also wenn ich ehrlich sein soll …"
Sondra ließ den unvollendeten Satz in der Luft hängen und biss sich auf die Lippen, als hätte sie ihre Worte am liebsten zurückgeholt und wieder heruntergeschluckt, aber es war schon zu spät.
Hätte sie gestanden, eine Analphabetin zu sein, Zev hätte sie nicht ungläubiger oder entsetzter anstarren können, als er es jetzt tat. Ein bodenlos tiefer Abgrund aus musikalischer Ignoranz oder ganz allgemeiner Ahnungslosigkeit tat sich hier direkt vor seiner sommersprossigen Nase auf, eine unbegreifliche Bildungslücke von geradezu kosmischen Ausmaßen! Er war wirklich erschüttert.
„Um Himmels willen! Das kann doch wohl nicht wahr sein …"
Er umklammerte haltsuchend den Griff seiner Gabel, auf deren Zinken ein Käsewürfel aufgespießt war, was beinahe so aussah, als hielte er ein Ausrufungszeichen in der Hand, um seinen Worten durch ein sichtbares Symbol noch mehr Nachdruck zu verleihen, als es allein durch seinen Tonfall möglich gewesen wäre.
„Sondra, es gibt keine Top-Tausend-Charts ohne irgendeinen Song von den beiden ganz oben an der Spitze, keinen Holokanal ohne Werbung für ihren neuesten Live-Stream, keine Zeitung ohne Klatschspalten-Schlagzeilen über Begriels ewige Hochzeiten und Scheidungen und die vielen kleinen Affären dazwischen oder Yaksonns endlose Prozesse wegen Steuerhinterziehung oder Zensurverletzung oder was weiß ich. Wo hast du bloß die letzten paar Jahre gelebt, Mädchen? Unter einer Glasglocke? In einer unterirdischen Höhle? Auf einem einsamen Asteroiden in der Randzone?"
Sondra wurde erst schneeweiß und dann feuerrot.
Jessamy seufzte innerlich. Die Bekanntschaft zwischen ihrer neuen Mitbewohnerin und ihrem ältesten Freund stand unter keinem guten Stern, so viel stand fest. Warum musste Zev, der sonst immer der Inbegriff von Charme und guter Laune war, ausgerechnet Sondra gegenüber so schroff, ja beinahe aggressiv sein? Warum musste sich jede Bemerkung von ihm, die man ohne weiteres als Witz hätte abtun können, wäre sie nur in einem entsprechend humorvollen Tonfall vorgebracht worden, wie eine persönliche Beleidigung anhören? Und warum musste Sondra so eine Mimose sein und auf alles, was auch nur ansatzweise nach Kritik klang, reagieren, als würde man sie für eine öffentliche Auspeitschung an einen Pranger ketten? Warum wurde praktisch aus jedem offenen Wort, das man zu ihr sagte, sofort eine emotionale Hinrichtung?
Sondra schlug vor Zevs inquisitorischem Blick die Augen nieder, als könnte sie ihn keine Sekunde länger ertragen.
„Na ja, in manchen Dingen bin ich wohl ein bisschen hinter dem Mond. Und mit Redrox und diesen ganzen anderen modernen Richtungen kenne ich mich schon gar nicht aus", stammelte sie. „Ich bin eben eher der stille klassische Typ. Ich stehe mehr auf Livvadia und Tarzom und solche Sachen …
Okay, Tarzom ist nicht gerade meine Nummer eins", verbesserte sie sich hastig, als Jessamys Mundwinkel unwillkürlich nach unten rutschten. „In letzter Zeit mache ich mir gar nicht mehr so viel aus ihm."
„Na, Gott sei Dank", murmelte Jessamy – sie hatte schon vor längerer Zeit eine persönliche Abneigung gegen diesen Komponisten entwickelt, vor allem gegen seine Cimbarolostücke, die sie inzwischen für eine antike Form der akustischen Folter hielt. (Ein unvermeidlicher Nebeneffekt all der zähflüssigen Lektionen, die ganze Scharen von lustlos vor sich hin klimpernden Wunderkindern Tag für Tag unter Madame Roziankos inspirierter, aber scheinbar nicht besonders inspirierender Fittiche erdulden mussten – und Jessamy dank der erstaunlichen Schallfähigkeit von Madames Instrument mit ihnen!)
„Eigentlich habe ich mir nie besonders viel aus ihm gemacht, wirklich nicht", beteuerte Sondra eifrig, ja, beinahe ängstlich. Es fehlte nicht mehr viel und sie hätte hoch und heilig geschworen, Samadéu Tarzom und seine gesammelten Werke aus tiefster Seele zu hassen.
Doch auch ohne dieses überdeutliche Signal willenloser Anpassungsbereitschaft war der Bogen jetzt eindeutig überspannt. Vielleicht lag es daran, dass Jessamy Tag für Tag dem unwiderstehlichen Sog militärischen Herdentriebs und absoluten Kadavergehorsams ausgesetzt war und daher schon aus Prinzip großen Wert auf Meinungsfreiheit und vor allem freie Meinungsäußerung legte.
Vielleicht lag es aber auch daran, dass aus Unsicherheit geborene Unterwürfigkeit irgendwann jedem, der ständig damit konfrontiert wurde, auf die Nerven ging. Auf jeden Fall strapazierte Sondras an Selbstverleugnung grenzender 180-Grad-Schwenk Jessamys Toleranz in diesem Augenblick ein klein wenig mehr, als sie zu erdulden bereit war.
„Ist ja gut!", rief sie ungeduldig, bereute ihren kleinen Ausbruch aber sofort wieder, als sie Sondras bestürzten Gesichtsausdruck sah. Sehr viel milder fuhr sie fort: „Es ist ganz allein deine Sache, welche Art Musik du am liebsten hörst, Sondra. Jeder Mensch hat seinen eigenen Geschmack, seine ganz persönlichen Vorlieben. Du musst dich nicht dafür entschuldigen oder rechtfertigen oder was auch immer."
Aber Sondra schien sich da gar nicht so sicher zu sein. Geknickt starrte sie auf ihren Teller hinunter und begann eine Brotrinde zu zerkrümeln, die dort einsam und vergessen lag. Doch als sie merkte, dass Zev sie beobachtete, hörte sie abrupt damit auf, legte rasch ihre Hände in den Schoß und flocht nervös ihre Finger ineinander wie ein schuldbewusstes Kind, das ermahnt worden war, gefälligst nicht mit dem Essen herumzuspielen.
Ein unbehagliches Schweigen breitete sich über der Tischrunde aus. Es war gerade dabei, wirklich peinlich zu werden, als der Kater mit einem abgerissenen Fetzen Kunstpelz im Maul hereintigerte. Er hatte seine Beute inzwischen erfolgreich niedergemetzelt – oder wenigstens so getan als ob – und stolzierte nun mit hocherhobenem Schwanz und einer unbestreitbaren Aura von Selbstgefälligkeit um den Küchentisch herum.
Nachdem er eine Ehrenrunde um Zevs und Sondras Fußknöchel gedreht hatte, blieb er vor Jessamy stehen und deponierte seine feuchte fadenscheinige Trophäe direkt auf ihrem rechten Hausschuh – ein großzügiges Geschenk, mit dem er gnädig ihren Status als Rudelführerin bestätigte. Jessamy, die wusste, was sie der Ausgeglichenheit seiner Katzenseele schuldig war, streichelte und lobte ihn ausgiebig und überschwänglich für diese Ehrenbezeugung, nahm sich aber heimlich vor, das leicht unappetitliche Überbleibsel seiner Spielstunde später so unauffällig wie möglich zu entsorgen.
Zev, der ihre Gedanken erriet, grinste. „Dein Glück, dass es im guten alten Shaalizaar Inn keine echten Mäuse gibt, Sam, sonst würde er dir noch was ganz anderes anschleppen."
Jessamy fand auch, dass das ein Glück für sie war – auf den Anblick von leicht angeknabberten, aber möglicherweise noch nicht hundertprozentig toten Nagetieren konnte sie ganz gut verzichten – und auf ihre stückweise apportierten sterblichen Überreste sowieso. Aber dass Zev jetzt endlich den dringend benötigten Themawechsel geliefert hatte, war zweifellos für alle Anwesenden ein Segen. Darum hakte sie auch sofort ein und verbreitete sich ausführlich über die artgerechte Haltung von Katzen im allgemeinen und angewandte Katzenpsychologie im besonderen, ein Thema, das beinahe unerschöpflich war. Wenn es sein musste, konnte sie allein damit die Unterhaltung stundenlang solo bestreiten …
Aber das war gar nicht nötig, wie sich bald herausstellte, denn Zev trug sein Teil dazu bei, die leicht eingefrorene Atmosphäre wieder aufzutauen, in dem er das Gespräch nach einer Weile von Stubentigern auf Hunde lenkte, von denen er weit mehr verstand, weil die elegante Villa, in der er mit seinen Eltern und Schwestern lebte, seit kurzem von einem absolut anbetungswürdigen, aber ziemlich zerstörungswütigen jungen Rodarbal heimgesucht wurde, der sein Milchzahngebiss an allem erprobte, was das Pech hatte, in Reich- und Beißweite zu kommen: Teppichkanten, Mantelärmel, Handtücher, Schuhe, Taucherbrillen, Sofakissen, Kabel, Vorhangkordeln oder die Finger seiner von seinem wuschelhaarigen Welpen-Charme völlig verzauberten Besitzer – nichts war vor ihm sicher.
Jessamy und Sondra – ja, auch Sondra! – lachten Tränen über Zevs mit pantomimischen Einlagen untermalten Bericht. Das kollektive Stimmungsbarometer kletterte schnell wieder von wolkig auf heiter und vielleicht sogar noch um ein oder zwei Stufen aufwärts. Bald dachte niemand mehr an den zurückliegenden kleinen Missklang.
Stattdessen wurde plötzlich für den folgenden Tag ein Segelausflug zu dritt geplant und das kam so: Jessamy und Zev wollten die Gelegenheit nutzen und endlich wieder einmal gemeinsam zu Tirna Nook fahren, einer großen Insel, die ein paar Seemeilen vor Delameres Küste lag und immer ein beliebtes Ziel für einen gemütlichen Tagestörn war. Für diesen Trip wollten sie wie üblich die Nivess nehmen. (Die Gilfoys besaßen zwar selbst eine ganz ansehnliche Yacht, aber Zev bekam nur selten die Chance, den ziemlich luxuriösen „Familienkahn" für sich zu nutzen, weil das gute Stück beinahe immer von seinen Schwestern mit Beschlag belegt wurde. Wie alle Teenager konnten die beiden Mädchen nur in Horden existieren und gondelten daher in den Sommermonaten fast jeden Tag mit einer ständig wechselnden Besatzung aus Freundinnen und Verehrern kreuz und quer in der Gegend herum.
Da Zev seine kleinen Schwestern trotz häufiger temperamentvoller Streitereien abgöttisch liebte und es einfach nicht über das Herz brachte, ihrem kontaktfreudigen Rudeldasein im Weg zu stehen, indem er die „verwöhnten Krabben" an Land verbannte, verzichtete er meistens gutmütig auf seine eigene ungestörte Freizeitgestaltung und griff dafür auf Jessamys Gastfreundschaft zurück – was in Anbetracht der ringsum aufkeimenden zarten Gefühle vielleicht nicht gerade ein Paradebeispiel für selbstlose brüderliche Aufopferungsbereitschaft war, aber es war ja immerhin der gute Wille, der zählte.)
Zev war gerade dabei, den Einkaufszettel für einen Picknickkorb zusammenzustellen, dessen üppiger Inhalt jeden Feinschmecker und wahrscheinlich auch jeden Vielfraß vor Neid hätte erblassen lassen. (Er hielt große Stücke auf reichhaltiges Essen in ausreichenden Mengen. Außerdem rechnete er grundsätzlich seine Schwestern mit ein, die die Angewohnheit hatten, mit oder ohne Anhang überall dort aufzutauchen, wo ihr großer Bruder weilte, um wie ein Heuschreckenschwarm über alles Essbare herzufallen. Seeluft machte alle Mitglieder der Familie Gilfoy sehr, sehr hungrig!)
Als er halb im Selbstgespräch, halb an Jessamys Adresse gerichtet, laut darüber nachdachte, ob ein gegrillter Capuan wohl genug war oder ob sie nicht doch lieber gleich zwei mitnehmen sollten (sicher war sicher!), sah Sondra so deprimiert aus, dass Jessamy unwillkürlich fragte: „Was hast du eigentlich morgen vor?"
„Ach, nichts Besonderes", murmelte Sondra. „Vielleicht mache ich einen Stadtbummel. Vielleicht auch nicht."
Das klang trübsinnig genug, um Jessamy zu einer spontanen Einladung zu veranlassen.
„Hast du Lust, mit uns zu kommen? Bei diesem herrlichen Wetter macht es einen Heidenspaß, da draußen rumzukurven, und wir würden uns freuen – nicht wahr, Zev?"
Zev war sofort Lichtjahre entfernt von allen Gefühlen, die etwas mit dem Begriff „Freude" zu tun hatten, schmolz aber unter Jessamys beschwörendem Blick dahin wie ein Eiszapfen in der Sonne.
Er zwang sich zu einem Lächeln und sagte mit leicht scharfkantiger Herzlichkeit: „Ja, klar, komm doch mit."
Sondra strahlte über das ganze Gesicht. „Danke, das ist ja so lieb von euch! Vielen, vielen Dank!"
„Gut, das wäre dann also abgemacht", sagte Jessamy vergnügt. (Sie war sehr zufrieden mit sich und ihrem Edelmut. Es war ja so einfach, seine Mitmenschen glücklich zu machen …)
„Also doch zwei Capuane ... und eine Packung Sovirax, damit Sondra ihr Mittagessen nicht gleich wieder los wird", schlug Zev vor und es ließ sich nicht leugnen, dass sein Lächeln dieses Mal einen Hauch von stiller Bosheit enthielt.
„Das sind Tabletten gegen Seekrankheit … die sind wirklich gut", erklärte Jessamy, als Sondra wieder diesen großäugigen leeren Blick produzierte, den sie immer dann auf Lager zu haben schien, wenn sie offensichtlich keine Ahnung hatte, wovon die Rede war.
„Ach so … ach nein, lieber nicht. Ich schlucke nie Pillen, nie!", sagte Sondra mit einer Entschiedenheit, die in einem bemerkenswerten Gegensatz zu ihrem sonst eher vagen Wesen stand.
„Nicht mal dann, wenn du ganz grässliche Kopfschmerzen hast?", fragte Zev mit unüberhörbarer Ironie.
Doch entweder verstand Sondra seine Anspielung nicht oder sie wollte sie nicht verstehen. „Nicht mal dann."
Zev schoss einen spöttisch-belustigten Blick zu Jessamy hinüber, die jetzt ihrerseits ein wenig bedenklich aussah. Um nach Tirna Nook zu kommen, mussten sie um das Nordkap der Delamere-Küste herumfahren, wo dank starker Unterströmungen ein etwas rauerer Wellengang herrschte, was auf Leute mit einem überentwickelten Gleichgewichtssinn ziemlich verheerende Auswirkungen haben konnte.
Jessamy hatte nicht den Wunsch, Sondra dabei zuzusehen, wie sie ihr Innenleben auf die hingebungsvoll polierten Deckplanken der Nivess ausspuckte, nur weil sie sich aus purem Eigensinn geweigert hatte, rechtzeitig Gegenmaßnahmen zu ergreifen und sich ein völlig harmloses, aber im Notfall sehr wirkungsvolles Medikament einzuverleiben.
„Na ja, darüber reden wir besser morgen früh noch mal, Sondra", sagte sie schließlich und damit war dieser Punkt auf der Liste vorläufig abgehakt.
Kurz darauf verabschiedete sich Zev und schwebte davon, um den nächsten Supermarkt zu stürmen und die halbe Lebensmittelabteilung leer zu kaufen – diesen Eindruck erweckte zumindest der Umfang seines Einkaufszettels.
Jessamy, die ihn an die Tür begleitet hatte, schwebte ebenfalls und zwar erst durch den Flur, wo sie das Durcheinander beseitigte, das durch die leidenschaftliche Pseudojagd des Katers noch verdreifacht worden war, und dann wieder in die Küche, wo sie zusammen mit Sondra den Tisch abräumte.
Dass sie sich all diesen Tätigkeiten nur sehr zerstreut widmete, weil sie gleichzeitig im siebten Himmel oder an einem ähnlich idyllisch-überirdischen Ort weilte, sei hier nur am Rande erwähnt. Jedenfalls lag es an dieser leichten Geistesabwesenheit, dass Sondra sie zwei- oder dreimal ansprach, ohne irgendeine Reaktion zu erhalten. Erst als sie sich ziemlich laut und energisch räusperte, erregte sie so etwas wie Aufmerksamkeit.
„Was ist?" fragte Jessamy, jäh auf den Boden der Realität zurückgeholt.
„Ich habe gerade gesagt, wie sehr ich mich darauf freue, mit euch zu kommen und bei der Gelegenheit auch mal dein Boot zu sehen, was ich schon immer gerne wollte. Das ist so nett von dir, Sam, ehrlich …"
„Ist schon okay."
„Ich meine, es ist so besonders nett von dir, weil du doch bestimmt lieber alleine mit Zev losgezogen wärst, nachdem ihr euch schon so lange nicht mehr gesehen habt."
Das entsprach allerdings der Wahrheit, aber Jessamy war taktvoll genug, es abzustreiten.
„Er ist wirklich nett, dieser Zev." Sondra zögerte einen Augenblick lang, dann konnte sie ihre Neugier nicht länger bezähmen. „Kennst du ihn schon lange?"
„Schon ewig", sagte Jessamy versonnen und dachte darüber nach, wie kurios das Ganze doch war. Da stand man jahrein, jahraus mit einem Menschen auf so vertrautem Fuß und merkte eines Tages ganz plötzlich, dass man sich irgendwie und irgendwann ineinander verliebt hatte, obwohl …
„Ist er dein Freund?"
„Was? Oh … na ja … eher ein Freund", korrigierte Jessamy, was allerdings nicht mehr so ganz der Wahrheit entsprach, aber das musste sie Sondra ja nicht unbedingt gleich auf die Nase binden.
Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass sich ein verklärtes Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete und das verriet Sondra wahrscheinlich schon mehr als genug.
Aber auch Sondra stellte jetzt so etwas wie Taktgefühl unter Beweis – oder sie erkannte einfach nur, dass eine Fortsetzung des Verhörs im Augenblick sinnlos war. Auf jeden Fall verkniff sie sich jede weitere Frage und ging ins Wohnzimmer hinüber, wo sie vor dem großen Wandregal Aufstellung nahm und Jessamys Audiodisc-Sammlung unter kritisch zusammengezogenen Augenbrauen hervor so aufmerksam begutachtete, als sähe sie sie zum allerersten Mal.
Jessamy wurde plötzlich erneut von dem Bedürfnis überwältigt, sich mit Kaye Drumheller auszusprechen, die sowohl sie selbst als auch Zev gut genug kannte, um alle Implikationen und Komplikationen des heutigen Tages zu begreifen, ohne erst langatmig und umständlich über die ganze Vorgeschichte aufgeklärt werden zu müssen, wie es bei Sondra der Fall gewesen wäre. Und der Wunsch war der Vater der Tat: Schon einen Augenblick später versuchte es Jessamy mit einem Anruf auf Soraya.
Doch wie immer in letzter Zeit landete sie nicht direkt in Kayes Quartier, sondern nur im Callcenter der Giantana—Basis, wo sie mit viel Charme und noch mehr Nachdruck darüber informiert wurde, dass Lieutenant Drumheller momentan leider nicht erreichbar war – eine stereotype Standardantwort, die Jessamy inzwischen schon so oft zu hören bekommen hatte, dass sie ihr beinahe aus den Ohren heraushing.
„Das ist doch wie verhext!, murrte sie vor sich hin, als das Gespräch beendet war.
Aber es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als sich auch heute mit einer E-Mail zu begnügen.
Sie überlegte einen Augenblick lang vor dem schon geöffneten Textfenster und tippte schließlich rasch: Hallo Kaye! Habe WIEDER MAL bei dir angerufen, aber wie üblich Pech gehabt. Was ist bei euch da draußen eigentlich los? Und wenn wir schon beim Thema sind: Was ist eigentlich mit DIR los?! Ruf mich BITTE endlich mal an! Muss dir dringend etwas erzählen. Grüße, Sam.
Als sie die Mail abschickte, fragte sie sich mit einer Spur von Resignation, ob Kaye wenigstens auf diesen sprichwörtlichen Wink mit dem Zaunpfahl reagieren würde – die Vorgänger dieser Nachricht waren nämlich genau wie all die mündlichen Bitten um Rückruf bis heute unbeantwortet geblieben …
Aus dem Wohnzimmer, wo bis zu diesem Augenblick ehrfürchtige Stille geherrscht hatte, drang plötzlich ein langgezogener melodischer Klageschrei, dicht gefolgt von einem Schwung schmerzlich vibrierender E-Gitarren-Akkorde und einem aufbrausenden Trommelwirbel, der sofort in dröhnende pulsierende Bassrhythmen überging. Offenbar hatte Sondra gerade einen von Yaksonns frühesten Hits unter Jessamys Favoriten entdeckt …
Jessamy riskierte einen vorsichtigen Blick durch die offene Tür und wurde prompt mit einem Anblick belohnt, der sie zum Schmunzeln brachte und sogar die rätselhafte Funkstille zwischen ihr und Kaye wieder in einer Warteschleife ihres Unterbewusstseins versinken ließ: Sondra tanzte so ausgelassen durch den Raum, dass ihre langen lockigen Haare um sie herumwirbelten wie wild gewordene Partyluftschlangen. Ihr weiter knöchellanger Glockenrock, eine Art Zirkuszelt aus weißem Leinen, das von verspielten Kätzchen, Äffchen und ähnlich rührendem Getier in zarten Beige- und Rosatönen nur so wimmelte (wo um Himmels willen fand Sondra eigentlich diese schaurig niedlichen Fähnchen? In einem speziellen Versandhauskatalog für Kinder mit Wachstumsstörungen?!), flatterte und wehte um ihre Beine wie die imperialen Flaggen auf den Dächern des Gouverneurspalastes bei Windstärke zehn um ihre Fahnenstangen.
Für jemanden, der nach seiner eigenen Aussage eher der „stille klassische Typ" war, legte sie erstaunlich viel Begeisterung für die leidenschaftlich-heiseren, mit grollenden Synthesizer-Sequenzen untermalten Baritonschluchzer an den Tag, mit denen Mikhall Yaksonn gebrochene Herzen und blutrünstige Fehden unter rivalisierenden Jugendbanden in den Slums von Coruscant beweinte. Es war ein Bild für die Götter und Jessamy war davon beinahe genauso hingerissen wie von der großen tragischen Ballade, die beinahe mit Maximallautstärke aus den Lautsprechern ihrer Stereoanlage toste.
„Versuchst du es doch mal mit ein bisschen Redrox?", überschrie sie schließlich das dramatische Finale des Songs, das von explosionsartig donnernden Schlagzeugen begleitet wurde, weil die verfeindeten Ghettokids nämlich gerade in einer wilden Schießerei mit korrupten und auch sonst schurkischen Gesetzeshütern aus der benachbarten Polizeirevier-Lasterhöhle einen frühen, aber dafür glorreichen Tod fanden. (Es war kein Wunder, dass Yaksonn immer wieder Schwierigkeiten mit der Zensur hatte – und es wäre auch kein Wunder gewesen, wenn plötzlich Madame Rozianko oder Major Nestroy vor Jessamys Tür gestanden hätte, schäumend vor Wut über diese abendliche Ruhestörung und jederzeit bereit, reale und höchstwahrscheinlich unbestechliche Gesetzeshüter ins Spiel zu bringen.)
Sondra blieb mitten in einem letzten schwungvollen Hüpfer stehen und schrie atemlos zurück: „Weißt du, es ist wirklich höchste Zeit, dass ich meinen Horizont erweitere!"
Sie hörte sich an wie eine Ethnologin, die sich dazu gezwungen sah, die primitive, aber komplizierte Sprache einer gänzlich unbekannten Dschungelzivilisation zu erlernen, um sich besser mit den Eingeborenen verständigen zu können … Oder wie eine illegale Einwanderin, für die absolute Unauffälligkeit überlebenswichtig war, so dass sie sich so schnell wie möglich mit den bizarren Sitten und Gebräuchen ihrer feindseligen neuen Heimatwelt vertraut machen musste …
„NA, DANN VIEL SPAß!"
„WAAAS?"
Jessamy lächelte nachsichtig, drehte aber trotzdem den Volumeregler der Stereoanlage wieder auf Zimmerlautstärke herunter, um sich und Sondra einen Hörsturz und der ganzen Nachbarschaft einen kollektiven Nervenzusammenbruch zu ersparen, bevor sie ihren Wunsch in leiseren Tönen wiederholte.
Danach überließ sie Sondra ihrer selbstverordneten musikalischen Neuorientierung und zog sich in ihre Badewanne zurück, wo sie den Tag in aller Ruhe ausklingen ließ, indem sie im romantischen Schummerlicht von ein paar Duftkerzen bis zum Kinn in wohlig heißem Wasser lag und ein bisschen vor sich hinträumte.
Sogar wenn sie sich in dieser gelösten Stimmung an das immer noch ungelöste Rätsel ihres umorganisierten Kleiderschrankes erinnert hätte, hätte sie sich viel zu entspannt und behaglich gefühlt, um es auch nur ernsthaft in Erwägung zu ziehen, die Harmonie dieses Abends mit einer ziemlich überflüssigen Auseinandersetzung aus dem Gleichgewicht m bringen.
Aber da ihr Kopf momentan ohnehin von ganz anderen Dingen stark in Anspruch genommen war, dachte sie nicht einmal mehr daran …
Fortsetzung folgt ...
