IX.
Devon:
Jessamy trat einen Schritt zurück, legte den Kopf zur Seite und beäugte ihr Werk kritisch.
Beinahe fertig …
Sie trat wieder vor, ging in die Hocke, stippte den Pinsel in den Farbtopf, der neben ihr auf dem Bootssteg stand, und zog ihn ein letztes Mal über den schon fast unsichtbaren Kratzer, der den gleichmäßig lackierten Rumpf der Nivess verunziert hatte, seit sie aus der Werft zurückgebracht worden war – ein Umstand, der vom Vorarbeiter des Teams, das für die Überholung und den Transport der Nivess verantwortlich gewesen war, übrigens immer noch hartnäckig abgestritten wurde.
„Jetzt will ich Ihnen mal was sagen, Miss: Ihr kleines Spielzeug war tipptopp, als wir es wieder ins Wasser gelassen habe. Tipptopp, sag ich Ihnen! Keine Schramme in der Politur, kein gar nix!
Wenn Sie natürlich beim Anlegen an der Kaimauer entlang schrappen oder irgendwas in der Art …"
Ein gereiztes Achselzucken, das der generellen Fahruntüchtigkeit der ganzen holden Weiblichkeit galt. (Frauen! Gib ihnen einen Gleiter oder ein Segelboot oder ein Raumschiff, es endet immer mit Kratzern und Beulen – oder gleich mit einem Totalschaden!)
Jessamys dezenter Hinweis, dass sie noch nie in ihrem Leben an einer Kaimauer „entlang geschrappt" war, weder beim Anlegen noch beim Ablegen, wurde mit einem ungläubigen Schnaufen abgetan. (Nichts als Ausreden – Weiber!)
Unter diesen Umständen war es natürlich ziemlich sinnlos, eine Wiedergutmachung zu fordern. Und so hatte Jessamy, immer sparsam und immer einsatzfreudig, beschlossen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen – durchaus mit Erfolg, wie sich jetzt herausstellte.
„Perfekt", murmelte sie zufrieden vor sich hin, als sie ihre Schönheitsreparatur noch einmal begutachtete.
Sie war gerade dabei, den Pinsel auszuwaschen, als jemand hinter ihr sagte: „Alle Achtung, das hast du aber mächtig fein hingekriegt. Man sieht gar nichts mehr davon, nicht den kleinsten Streifen. Gut gemacht, Sam!"
Jessamy warf einen Blick über ihre Schulter und stellte fest, dass es Wes Adonay war, der ihr Loblied sang.
„Hi Wes. Auch mal wieder in der Gegend? Wie geht's dir denn?"
„Gut – wie immer", sagte Wes lässig.
Er setzte sich auf den Steg und ließ seine muskulösen solariumgebräunten Beine über den Rand baumeln. Vielleicht schwang er sie ein bisschen demonstrativer hin und her, als wirklich nötig gewesen wäre, damit Jessamy auch ja nicht entging, wie muskulös und solariumgebräunt seine unteren Extremitäten waren, aber das war eben Wes, wie er leibte und lebte. Er markierte auch dann das kraftstrotzende Alphamännchen in der Blüte seiner virilen Jugend, wenn die Frau, der sein Imponiergehabe galt, schon längst vergeben war, das gehörte einfach zu seinem Stil und zu seiner ganzen Lebenseinstellung.
Jessamy kannte ihn schon seit Jahren, lange genug, um sein Salonlöwengehabe zu durchschauen und amüsant zu finden, was eine andere Frau vielleicht verärgert hätte. Und deshalb beobachtete sie auch jetzt mit stillem Vergnügen, mit welcher Kunstfertigkeit Wes praktisch ununterbrochen den tollen Kerl von nebenan mimte – nicht, weil er es auf Jessamy abgesehen hatte, sondern einfach nur, um nicht aus der Übung zu kommen.
Sie plauderten eine Weile über dieses und jenes, während Jessamy ihre Malutensilien zusammenpackte, aber schließlich schoss Wes den Smalltalk in den Wind und wandte sich wieder den elementaren Dingen des Lebens zu.
„Hör mal, Sam, wann bringst du eigentlich mal wieder deine hübsche Freundin mit, hm? Ich warte ja schon ewig auf eine Gelegenheit, um mich mal so richtig mit Sondra zu unterhalten, aber irgendwie … Kann es sein, dass sie mich nicht mag oder sowas?"
Wes war aufrichtig besorgt. Der bloße Gedanke, dass eine halbwegs eroberungswürdige Vertreterin des zarten Geschlechtes seine unübersehbaren Qualitäten nicht zu schätzen wusste, bestürzte ihn zutiefst.
Doch Jessamys Lächeln fror jetzt ein klein wenig ein, was neuerdings immer der Fall war, wenn die Rede auf Sondra kam ...
Die unerwartete Entdeckung von Sondras Doppelgesichtigkeit hatte einen haarfeinen Riss in ihrem komplizierten und nicht wirklich ausgegorenen Beziehungsgeflecht verursacht, ein Riss, der schon dabei war, sich zu einer Kluft auszuweiten. Es war nicht etwa so, dass Jessamy ihrer Mitbewohnerin seither absichtlich aus dem Weg ging, aber sie verbrachte jetzt doch ziemlich viel Zeit bei den Gilfoys, die sie jedes Mal mit offenen Armen willkommen hießen und sie gar nicht mehr gehen lassen wollten.
Und ob es nun daran lag oder an dem Tarkin-Gedächtnis-Humbug (Zevs Wortschöpfung!) oder auch an dem sonderbaren Telefonat, das sie in jener Nacht belauscht hatte, es führte beinahe zwangsläufig zu einer gewissen Entfremdung zwischen den beiden jungen Frauen, zu einer räumlichen und zunehmend auch emotionalen Distanz. Eine Distanz, die sich auch hier und jetzt bemerkbar machte, denn Jessamy war der Meinung, dass Wes Adonay wesentlich mehr Loyalität verdiente als Sondra.
Und schon deshalb sagte sie nun zu ihm: „Vergiss sie lieber, die hat schon jemand am Haken. Außerdem passt ihr sowieso nicht zusammen. Ihr habt überhaupt keine gemeinsamen Interessen. Du bist ja beinahe auf den Deckplanken von deinem Kahn festgewurzelt, aber Sondra macht sich gar nichts aus Booten, das hat sie mir selber gesagt."
„Was?!"
Wes sah so entgeistert aus, dass Jessamy Mitleid bekam.
„Mach dir nichts daraus, andere Mütter haben auch schöne Töchter", tröstete sie. „Keine Sorge, du findest deine Traumfrau schon noch."
„Aber … Also das verstehe ich jetzt nicht."
„Es kann ja schließlich nicht jeder mit einer Ruderpinne in der Hand geboren werden und vom Windelalter an der absolute Regatta-Crack sein", erwiderte Jessamy achselzuckend. „Manche Leute haben eben einfach andere Hobbys. Ist ja auch ganz gut so. Stell dir bloß mal vor, wir würden alle dasselbe machen. Das wäre doch todlangweilig, oder nicht?"
Wes, der ein begnadeter Segler, aber kein großer Denker vor dem Herrn war, runzelte die Stirn bei der ungewohnten Anstrengung, philosophisch angehauchten Betrachtungen folgen zu müssen.
„Das verstehe ich nicht", wiederholte er schließlich und es klang beinahe ein wenig hilflos.
Jessamy gab auf. Es war Mittag, es war warm (der erste Tag im Jahr, der den kommenden Sommer ahnen ließ!), ihre Hände rochen nach Farbe und Lösungsmitteln (alles andere an ihr auch!) und sie hatte Sehnsucht nach einer Dusche, nach einem kleinen Imbiss und nach Zev (in genau dieser Reihenfolge), denn Wes war zwar ganz nett, aber keine besonders anregende Gesellschaft. Mit anderen Worten: Sie wollte nach Hause.
„Macht ja nichts. Bis dann, Wes."
Sie wandte sich gerade zum Gehen, als Wes brummte: „Ich meine, wenn sie sich nichts aus Booten macht, warum zum Teufel nimmt sie dann Segelunterricht?"
Und jetzt war es Jessamy, die entgeistert aussah und „Was?!" rief.
„Na ja, ich hab Sondra im Herbst ein paar Mal draußen auf Celps Cott gesehen. Ich war letzten Herbst ziemlich oft in Celps Cott unterwegs – zum Training mit meinem neuen Partner und so."
Wes grinste ein sehr jungenhaftes, sehr siegesgewisses Grinsen und Jessamy war sofort klar, dass der Begriff „Training" nur eine diskrete Metapher für das war, was ihn in Wirklichkeit bis zum äußersten Zipfel der Landzunge von Delamere hinauf getrieben hatte. (Sie hätte ihre Hand dafür ins Feuer gelegt, dass sein neuer Partner eine großäugige Debütantin aus den Oberen Zehntausend von Celps Cott war und dass Wes mit ihr wesentlich mehr geübt hatte als nur rasante Wendemanöver und andere trickreiche Regattafinessen.)
„Na ja, und da hab ich Sondra zwei- oder dreimal draußen im Sund gesehen … In so einer superteuren Jolle, wirklich allererste Sahne … Am Anfang war ich ja gar nicht sicher, ob sie es überhaupt ist – sie sah irgendwie ganz anders aus als damals bei Tirna Nook.
Aber dann habe ich sie auch mal ganz aus der Nähe gesehen, am Strand von Malliboo war das. Sie haben die Jolle gerade aus dem Wasser gezogen, Sondra und dieser große blonde Schnösel, den sie immer dabei hatte.
Und meine Süße … äh ... mein Partner hat mir erzählt, dass der Schnösel Iorl Jellico heißt und im Aquariana als Segellehrer arbeitet und da war die Sache natürlich klar. Aber komisch war's schon irgendwie …
Ich bin ja direkt an ihnen vorbeigegangen, ich habe Sondra sogar zugewinkt – sie muss mich einfach gesehen haben! – , aber sie hat so getan, als würde sie mich gar nicht kennen. Sie hat mich völlig ignoriert", sagte Wes schmerzlich. (Der Stachel saß immer noch tief!)
Aber Jessamy, vorübergehend desinteressiert an Wes' verletzter Eitelkeit, schüttelte nur den Kopf, stumm vor Verwirrung.
Der Aquariana e.V. war für Celps Cott ungefähr das, was der Nautilus-Club für die Segler von West-Delamere war, aber auf einem viel mondäneren Level, was an seiner weit besser betuchten und entsprechend anspruchsvolleren Kundschaft lag. Sie fragte sich unwillkürlich, wie eine kleine Angestellte von Fairfix Services in die noble, aber dafür auch ziemlich versnobte Atmosphäre von Aquariana hineinpasste, obwohl selbst das nur von untergeordneter Bedeutung war, wenn sie die Sensation an sich bedachte.
Denn der springende Punkt bei der ganzen Angelegenheit war, dass Sondra scheinbar spätestens im Herbst mit dem Segeln angefangen hatte … die hoffnungslos unsportliche Sondra, die angeblich nicht einmal im Traum daran gedacht hatte, jemals segeln zu lernen … Was sie aber offensichtlich nicht daran gehindert hatte, sogar bis nach Celps Cott zu gehen, um in der erklärten Domäne der Reichen und Schönen klammheimlich …
Jessamy starrte auf die frisch lackierte Stelle am Rumpf der Nivess, die einen Kratzer verbarg, für den sie nicht verantwortlich war und für den auch sonst niemand verantwortlich sein wollte.
Ihr war es noch nie passiert, aber das falsche Timing beim Setzen oder Einholen des Hauptsegels galt als klassischer Fehler, ein Fehler, der absolut typisch war für einen blutigen Anfänger – oder für eine blutige Anfängerin. Denn der Vorarbeiter von der Werft hatte natürlich die Wahrheit gesagt: Die Nivess war tatsächlich tipptopp gewesen, als sie zurückgebracht worden war. Sie war vollkommen in Ordnung gewesen – bis Sondra sie sich für eine kleine Spritztour ausgeliehen hatte! Wer sonst?
Jessamy konnte es jetzt förmlich vor sich sehen und das Bild vor ihrem geistigen Auge gewann schnell an Schärfe und Überzeugungskraft: Sondra, zum ersten Mal in eigener Regie unterwegs (denn nicht einmal ein Schnösel aus dem Aquariana konnte so dreist sein, ein fremdes Boot zu kapern – oder so dumm, es mit dem erstbesten Hindernis kollidieren zu lassen!) und so überwältigt von der Feierlichkeit des Augenblicks, dass sie sogar das ihr inzwischen eingetrichterte ABC der Segelkunst vergaß …
Sondra, die ihre eigenen Fähigkeiten oder wenigstens ihre Erfahrung hoffnungslos überschätzte … Und schon erfasste der Wind die Nivess und drückte sie seitlich gegen den Bootssteg. Jessamy konnte beinahe das markerschütternde Knirschen hören, mit dem die Bordwand am Rand des Stegs entlang schleifte, was, wenn die Fender den Aufprall nicht einigermaßen aufgefangen hätten, leicht einen größeren Schaden als nur eine hässliche Schramme im Lack hätte hinterlassen können, einen sehr viel größeren Schaden …
Und das alles nur, weil Sondra sich die Nivess einfach genommen hatte – genau so wie sie sich alles nahm, was Jessamy gehörte, einfach so ... Ohne eine Spur von Rücksicht und grundsätzlich hinter Jessamys Rücken … heimlich … heimtückisch …
Jessamy fühlte eine kalte Wut in sich aufsteigen wie eine tödliche Riesenwelle, ein Tsunami aus blankem Zom, der unaufhaltsam auf die allzu seichten Küstengewässer von Sondra Rakoshs Moral zurollte, um dort Chaos und Vernichtung zu hinterlassen.
Vielleicht war es ihr langes Schweigen, vielleicht war es ihr Gesichtsausdruck, vielleicht war es einfach nur Instinkt, aber Wes, der normalerweise nicht gerade ein Wunder an Einfühlungsvermögen war, merkte, dass das Barometer auf Sturm stand.
„Alles in Ordnung, Sam?"
Jessamy lächelte mühsam – sie hätte lieber laut geschrien, beherrschte sich aber.
„Ja, sicher", murmelte sie, obwohl nichts in Ordnung war, gar nichts. „Ich muss jetzt wirklich los, Wes. Wiedersehen." Sie ging, ohne seine Antwort abzuwarten.
Auf dem Weg zum Parkplatz des Yachthafens wurden ihre Schritte immer länger und immer schneller, bis sie fast rannte. Aber das war nichts im Vergleich zu der rasanten Geschwindigkeit, mit der sie sich auf den Heimweg machte.
Je länger Jessamy über die unglaubliche Frechheit nachdachte, mit der Sondra sich die Nivess angeeignet hatte, desto zorniger wurde sie. Und je zorniger sie wurde, desto weiter entfernte sie sich von dem tyrannischen Tempolimit, das den Flugverkehr der untersten Ebene regelte. Als sie den Coruscant-Drive erreichte, war sie so in Rage, dass sie ein Stoppschild übersah und ihr Gleiter um ein Haar mit einem entgegenkommenden Transporter zusammengestoßen wäre. Der Schock dieses Beinahe-Unfalls ernüchterte sie ein wenig, aber das schrille Hupkonzert aller anderen Verkehrsteilnehmer brachte sie wieder in Fahrt – ganz zu schweigen von den ausgesprochen ordinären Schimpfworten, die der erzürnte Fahrer des Transporters lautstark hinter ihr her keifte.
Allen Widerständen zum Trotz landete sie unfallfrei vor dem Shaalizaar Inn, aber dafür mit einer Aggressivität, die die Repulsorkissen unter dem Gleiter erzittern und die gequälten Bremsen vor Protest quietschen ließ. Die Haustür erhielt einen so energischen Stoß, dass sie zwei volle Umdrehungen schaffte, bevor Jessamy in die Halle hineinkatapultiert wurde wie ein Geschoss aus einer Schleuder.
Ein bisschen benommen, aber keineswegs besänftigt durch die Auswirkungen ihrer eigenen Kraftentfaltung, stürmte sie den Lift, wild entschlossen, der falschen Schlange, die sich bei ihr eingenistet hatte, in spätestens fünf Minuten den Kopf abzureißen – mindestens den Kopf!
Erst als Jessamy ihre Wohnung einsam und verwaist vorfand, fiel ihr wieder ein, dass Sondra inzwischen einen neuen Job und damit auch neue Arbeitszeiten hatte. Sie ging nun frühestens gegen Mittag aus dem Haus, kam dafür aber auch erst spät am Abend zurück. Doch die bloße Vorstellung, noch stundenlang warten zu müssen, bis sie über die Missetäterin herfallen konnte, ließ Jessamy buchstäblich mit den Zähnen knirschen.
Und wer garantierte ihr, dass Sondra heute überhaupt nach Hause kam? Wenn sie über Nacht wegblieb, was in letzter Zeit gelegentlich vorkam, würde Jessamy, die schon morgen wieder ihren Dienst antreten musste, sie gar nicht mehr zu Gesicht bekommen. Und diese Vorstellung war schlicht und einfach unerträglich. Sollte Jessamy vielleicht bis zu ihrem nächsten Landurlaub auf der Warbride herumsitzen, über ihrem Groll brüten und sich dabei auch noch Sorgen um die Sicherheit ihres Bootes machen, während Sondra fröhlich durch die Gegend gondelte und die Nivess dabei womöglich kentern oder auf das nächst beste Riff auflaufen ließ? (Ein Gedanke, der die erzürnte Besitzerin beinahe Gift und Galle spucken ließ!)
Nein, der kleine, aber entscheidende Unterschied zwischen „mein" und „dein" war eine Angelegenheit, die endgültig geklärt werden musste und zwar jetzt gleich. Sofort! Sie würde Sondra jetzt einfach in ihrem Büro anrufen und ihr gründlich die Meinung sagen. Und dieses Mal würde sie kein Blatt vor den Mund nehmen, so viel stand fest. Es war höchste Zeit, die Samthandschuhe endlich auszuziehen. Und dann …
Und dann wurde Jessamy plötzlich klar, dass sie nicht die leiseste Ahnung hatte, wo sie Sondra erreichen konnte. Sie versuchte sich daran zu erinnern, was genau Sondra über ihren neuen Arbeitsplatz gesagt hatte, aber so sehr sie sich auch den Kopf zerbrach, sie wusste nur noch, dass die Worte Marketing und Werbung gefallen waren.
Hatte Sondra den Namen der Firma überhaupt erwähnt? Hatte sie jemals den Namen irgendeiner Firma erwähnt, für die sie kurzfristig gearbeitet hatte? Jetzt, da Jessamy darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass Sondras Auskünfte in dieser Hinsicht genau so vage waren wie in jeder anderen Hinsicht auch. Der einzige Name, den sie je genannt hatte und der nun beharrlich wie der nächtliche Scheinwerferstrahl eines Leuchtturms in Jessamys Gedächtnis aufflammte, gehörte zu der Agentur, die Sondras eigentlicher Brötchengeber war. Sollte Jessamy einfach dort nach ihr fragen?
Warum eigentlich nicht? dachte sie.
Keine zwei Minuten später hatte sie die Nummer von Fairfix Services aus dem Branchenteil des öffentlichen Kom-Verzeichnisses herausgesucht und die Verbindung hergestellt.
Die Personalchefin von Fairfix war erstaunlich jung und so temperamentvoll, dass die Föhnwelle, die ihre Sturmwindfrisur krönte, ihr immer wieder in die Stirn fiel und mit einer schnellen Kopfbewegung zurückgeschlenkert werden musste, was ihre langen Ohrringe hin und her schaukeln und glitzern und klirren ließ wie die Prismen eines Kristallkronleuchters bei Durchzug.
Außerdem besaß sie ein freundliches Naturell und war voller Mitgefühl für die von Schicksalsschlägen geplagte Menschheit, denn als Jessamy ihr erklärte, dass sie dringend mit einer ihrer Angestellten sprechen müsste – ein angeblicher Notfall in der Familie, der absolut keinen Aufschub duldete! –, floss sie beinahe über vor Verständnis und Hilfsbereitschaft.
„Aber ja, natürlich, das ist gar kein Problem", zwitscherte sie lebhaft. „Ich sehe gleich mal in unserem Einsatzplan nach, Momentchen …"
Es folgte eine ziemlich lange Pause, während die junge Dame abwechselnd im Zwei-Finger-Adler-such-System auf einer gerade noch erkennbaren Computertastatur herumhackte und mit angestrengter Aufmerksamkeit etwas Unsichtbares im Hintergrund fixierte.
„Hmmm ... Also so auf den ersten Blick finde ich sie hier gar nicht. Wie war doch gleich noch mal der genaue Name?"
„Rakosh. Sondra Rakosh", erwiderte Jessamy und musste aus unerfindlichen Gründen an Mr. Furgan denken.
„Schreibt sich das mit SCH oder Doppel-A?"
„Nein, nein, einfach nur R-A-K-O-S-H", buchstabierte Jessamy und versuchte sich ihre wachsende Ungeduld nicht anmerken zu lassen.
„Hmmm … Ich habe hier Raaki … Racell … Ragnor … tja, und dann geht es gleich mit Randu weiter. Ich fürchte … Momentchen! Vielleicht ist sie ja noch gar nicht von unserer Buchhaltung erfasst worden. Bei Neuzugängen dauert das manchmal ein bisschen …"
„Aber sie ist gar kein Neuzugang. Sie ist schon lange bei Ihnen ... seit über einem Jahr ... wahrscheinlich sogar noch länger."
Die Föhnwelle geriet erneut heftig in Bewegung, als die Sturmwindfrisur betrübt durcheinander geschüttelt wurde.
„Tut mir Leid, aber so wie's aussieht, arbeitet diese Miss Rakosh gar nicht für uns und hat auch nie für uns gearbeitet. Das muss ein Missverständnis sein. Eine Verwechslung vielleicht?"
„Ja, vielleicht", sagte Jessamy, obwohl sie ganz genau wusste, dass es keine Verwechslung war und ein Missverständnis schon gar nicht. Aber sie wusste nicht, was sie von dieser überraschenden Auskunft halten sollte – oder wusste sie es nur zu gut?
„Vielleicht ist sie ja bei einer anderen Agentur." Die Oberbefehlshaberin der Fairfix-Truppe zog einen kleinen Flunsch, der ausschließlich dem hypothetischen Konkurrenzunternehmen galt.
„Ja, vielleicht", wiederholte Jessamy, was so ziemlich der einzige halbwegs sinnvolle Kommentar war, der ihr angesichts dieser niederschmetternden Neuigkeiten einfiel. „Vielen Dank für Ihre Hilfe", fügte sie matt hinzu.
„Keine Ursache!" strahlte die Zauberin der Zeitarbeit und verschwand in einem elektronischen Kräuselmuster.
Ein paar Minuten lang saß Jessamy einfach nur regungslos auf dem Sitzkissen vor ihrem Kom und starrte Löcher in die Luft. Hätte man sie danach gefragt, sie hätte selbst nicht genau sagen können, was in diesem Augenblick mehr an ihr nagte: Dass es ihr einfach nicht vergönnt war, ihrer Erbitterung endlich Luft zu machen oder dass Sondras Märchencocktail ganz unerwartet durch eine neue Zutat bereichert worden war?
Doch dann kamen ihr andere, wesentlich bedeutungsschwerere Fragen in den Sinn.
Warum log Sondra ausgerechnet immer dann, wenn es um ihre Arbeit ging? War sie etwa gar keine brave kleine Tippse, die sich ihren Lebensunterhalt in einem langweiligen, aber immerhin ehrenhaften Schreibtischjob verdiente?
Aber wenn sie nicht die typische Bürodrohne war, was war Sondra dann? Ging sie vielleicht einer Tätigkeit nach, die grundsätzlich nicht den Regeln eines ganz normalen Angestelltenverhältnisses unterworfen war, was immerhin ihre bemerkenswert flexiblen Arbeitszeiten erklärt hätte? War sie am Ende so etwas Ähnliches wie eine freischaffende Künstlerin und hatte es damals, als sie sich vorgestellt hatte, nur nicht zugeben wollen, weil diese Berufssparte für gewöhnlich nicht gerade mit einem regelmäßigen Einkommen gesegnet war und sie wohl befürchtet hatte, dass Jessamy sie nicht als Untermieterin akzeptieren würde, wenn sie kein festes Gehalt garantieren konnte?
Aber wenn das der Fall war und Sondra nicht jeden Monat aus irgendeiner Quelle einen Lohnscheck bezog, womit bezahlte sie dann ihre Fixkosten wie Miete und Essen und all die anderen Dinge, die zum Leben gehörten – ganz zu schweigen von den vielen Extras, die sie sich in letzter Zeit leistete … die neuen Kleider, die sie sich ständig kaufte ... und als Krönung jetzt auch noch den feudalsten Segelunterricht weit und breit …
Die Erinnerung an Sondras teures neues Hobby regte die dunkle Seite von Jessamys Phantasie an und ließ sie eine flüchtige, aber farbenprächtige Vision produzieren, in der ihre Mitbewohnerin ein perfekt getarntes Callgirl war, das ihr gemeinsames Zuhause als würdigen Rahmen für eine ausgesprochen lukrative Karriere in den etwas exklusiveren Regionen des horizontalen Gewerbes missbrauchte.
Jessamys Luftschloss war gerade bis zu dem Punkt gediehen, an dem eine zur Sexbombe mutierte Sondra im Aquariana e.V. auf Kundenfang ging, um anschließend Jessamys eigene Doppelbett-Lustwiese mit einem spendablen Freier nach dem anderen zu entweihen, als die Realität sie wieder einholte. Sondra eine Prostituierte? Unmöglich! Jessamy schüttelte den Kopf, halb amüsiert, halb angewidert von den Auswüchsen ihrer eigenen Einbildungskraft.
Aber was zum Henker treibt diese Frau den lieben langen Tag? Und vor allem wo? sinnierte sie, als sich ihre Gedanken wieder dem zentralen Problem zuwandten.
„Wo steckst du jetzt gerade, Sondra? Das möchte ich wirklich zu gerne wissen", murmelte sie vor sich hin.
Sie hatte es kaum ausgesprochen, da wurde sie auch schon von einem echten Geistesblitz erhellt. Wenn überhaupt irgendjemand wusste, wo Sondra sich aufhielt, dann doch wohl ihre Eltern. Sondra musste doch wohl wenigstens ihre Mutter und ihren Vater auf dem Laufenden halten, wenn es darum ging, wo sie tagsüber zu erreichen war, nicht wahr? Schließlich konnte es ja jederzeit einen echten Notfall in der Familie geben, der es erforderlich machte, dass sie verständigt wurde.
Das ist es! Ich rufe einfach ihre Eltern an, dachte Jessamy.
Aber was sollte sie diesen Leuten, denen sie nie zuvor begegnet war, eigentlich erzählen? Sie konnte schließlich nicht gut damit anfangen, die Rakoshs einfach so über den Lebenswandel ihrer erwachsenen Tochter zu verhören. Oder vielleicht doch?
Ich brauche einen Vorwand – irgendwas, das glaubwürdig, aber völlig harmlos klingt, damit sie mich nicht gleich wieder abwimmeln ...
Und wenn Jessamy einfach behauptete, dass sie eine ehemalige Mitschülerin von Sondra war und gerade im Begriff, irgendein Jahrestagstreffen zu organisieren?
Das ist es! Mit so einem Aushängeschild kann ich den Rakoshs hundert Fragen stellen, ohne dass sie gleich die Stacheln stellen.
Denn schließlich war es das Normalste von der Welt, wenn jemand wissen wollte, was aus einer lieben alten Klassenkameradin geworden war, die besagter Jemand leider völlig aus den Augen verloren hatte. Jessamy war sofort Feuer und Flamme für ihren Plan, der so simpel war, dass er schon beinahe wieder genial war.
Doch leider war dieser Geniestreich leichter ausgedacht als ausgeführt, wie sie gleich darauf merkte, denn der Name Rakosh glänzte nicht gerade durch Einmaligkeit. Tatsächlich gab es im Kom-Verzeichnis von Delamere vier Spalten mit sage und schreibe dreiundfünfzig Eintragungen von Rakosh, Arian bis Rakosh, Zoltac.
Mein Gott, das dauert ja Stunden und Stunden, bis ich da durch bin!
Jessamy stöhnte auf, was nicht nur an der drohenden Kom-Rechnung lag. Sollte sie sich wirklich die Mühe machen, dreiundfünfzig wildfremde Menschen anzurufen und sie zu fragen, ob sie zufällig eine Tochter oder irgendeine andere Verwandte namens Sondra hatten?
Aber was bleibt mir anderes übrig, wenn ich wissen will, was hier vor sich geht? Jetzt die Karten offen auf den Tisch zu legen und einfach nur mit Sondra zu reden, wäre doch völlig sinnlos. Sinnlos? Es wäre eine Farce! So, wie die Dinge liegen, müsste ich Sondra nämlich schon ein Wahrheitsserum verpassen, um ihr überhaupt noch etwas glauben zu können, dachte Jessamy verdrossen.
Und damit waren die Würfel gefallen.
"Ohne Fleiß kein Preis!" seufzte sie vor sich hin und wählte kurzentschlossen die Nummer von Arian Rakosh.
Als das mürrische Gesicht eines zahnspangenbewehrten Jünglings auf ihrem Bildschirm erschien, setzte sie ihr liebenswürdigstes Lächeln auf und flötete honigsüß, wenn auch nicht ganz wahrheitsgetreu: „Hallo, mein Name ist … äh … Mariam Smee. Ich suche nach einer Freundin. Hast du vielleicht eine Schwester oder Cousine in meinem Alter, die Sondra heißt und …"
„Nö!" sagte der Zahnspangenknabe kategorisch und legte wieder auf.
Stunden später folgte die frischgebackene Mariam Smee (was übrigens einer der am häufigsten auf Devon vorkommenden Namen überhaupt war und daher das perfekte Pseudonym für eine gewisse Amateurdetektivin!) seinem Beispiel und legte ihrerseits grußlos auf, weil sie das Gefühl hatte, das unaufhörliche Geplapper von Zoltac Rakoshs redseliger Ehefrau nicht eine Sekunde länger ertragen zu können.
Denn inzwischen stand die selbst ernannte Miss Smee kurz vor der Explosion und wäre die Plaudertasche am anderen Ende der Leitung nicht so damit beschäftigt gewesen, eine Tirade nach der anderen abzusondern, sie hätte den aufgewühlten Gemütszustand ihrer Gesprächspartnerin ohne weiteres an deren Nasenspitze ablesen können, nachdem auch die letzte Spur von Liebenswürdigkeit längst einer eher gewittrigen Miene gewichen war.
Aber so schwatzte und schwafelte die gute Frau unverzagt weiter, bis Mariam / Jessamy in einer echten Notwehrreaktion alle guten Manieren zum Teufel wünschte und auf die Austaste drückte, woraufhin Mrs. Rakoshs endloses Lamento über die ka-ta-stro-pha-len Folgen der neuesten imperialen Bildungsreform mit einem letzten entrüsteten Blubbern im Äther versank ...
Jessamys Kopf schwirrte von all den nutzlosen Informationen, die man in ihr widerwilliges Ohr geblasen hatte, wie ein aufgescheuchter Bienenstock. Sie erhob sich in der wohltuenden Stille, die sie plötzlich wieder umgab, und reckte und streckte sich, um ihren schmerzhaft verkrampften Bein- und Rückenmuskeln ein wenig Erleichterung zu verschaffen. Das Kissen, auf dem sie die letzten Stunden zugebracht hatte, war offensichtlich keine geeignete Sitzgelegenheit für eine wahre Marathon-Anrufaktion, aber das war momentan die geringste ihrer Sorgen …
Was ihr dagegen Sorgen machte, ernsthafte Sorgen, war das, was sie dank ihrer zähflüssigen und entsprechend mühseligen Ermittlungen herausgefunden hatte: Es gab gar keine Sondra Rakosh in Delamere, nicht eine einzige!
Jessamy hatte lediglich zwei Sondaras aufgestöbert. Nummer Eins war das mit Abstand hässlichste Baby der Welt, das nichtsdestotrotz von seinem restlos verzückten Papa voller Besitzerstolz vor der Linse der Kom-Kamera präsentiert worden war. (Jessamy hatte nach einer Schrecksekunde ihrem Herzen einen Stoß gegeben und Bewunderung für das wasserköpfige kleine Monster geheuchelt.)
Und Nummer Zwei war eine gestresste Tierärztin in den Vierzigern, deren Praxis gerade von einer Horde entwischter Larus-Äffchen verwüstet wurde, weshalb sie sich von völlig überflüssigen Anrufen mehr als nur ein wenig belästigt fühlte. (Nach dieser extrem kurzen und unerfreulichen Unterhaltung hatte Jessamy sich dazu genötigt gesehen, zehn Minuten Pause einzulegen, um sich von dem kombinierten Gekreische der entnervten Veterinärin und ihrer entfesselten Zwergprimaten zu erholen.)
Aber niemand wusste etwas über eine Sondra. Nicht in dieser Stadt ...
Und auch nirgendwo sonst auf diesem ganzen gottverdammten Planeten, darauf würde ich jetzt mein letztes Hemd verwetten! dachte Jessamy voller Ingrimm.
Denn in ihren Augen gab es jetzt nur noch zwei logische Schlussfolgerungen: Entweder waren Sondras Eltern fanatische Technikgegner, die jedes moderne Kommunikationsmittel scheuten wie ein Chandrila-Feuersalamander das Wasser, oder ...
Oder sie existieren überhaupt nicht!
Und diese letzte Theorie klang irgendwie viel plausibler, viel wahrscheinlicher als jede andere. Sondras in Delamere lebende Eltern waren nur eine Legende, eine Fabel – was ziemlich gut zu ihrer angeblichen Tochter passte, die immer mehr an Substanz verlor, die Stück für Stück aus der materiellen Welt entschwand, die sich einfach langsam in Luft auflöste wie ein Geist ...
Jessamy wischte sich ein paar Haarsträhnen aus der Stirn, die im Gegensatz zu ihrer plötzlich staubtrockenen Kehle ziemlich feucht war, schweißfeucht. Und das war auch kein Wunder angesichts einer Situation, die allmählich die Dimensionen eines surrealistischen Alptraums annahm. Sie war beinahe in Versuchung, sich selbst kräftig in den Arm zu kneifen, um festzustellen, ob sie wirklich wach war, verzichtete dann aber doch lieber auf dieses Eingeständnis wachsender Konfusion. Stattdessen machte sie sich auf den Weg in die Küche, um dort ein Glas Wasser zu trinken, ein Kontakt zur Wirklichkeit, der nicht nur ihre rein körperlichen Bedürfnisse befriedigen würde.
Doch in der Küche kam sie nie an, denn um dorthin zu gelangen, musste sie an der Tür von Sondras Zimmer vorbei – und diese Tür entwickelte von einer Sekunde auf die andere die unwiderstehliche Anziehungskraft eines Magneten.
Jessamy blieb stehen und betrachtete wie gebannt dieses geradezu magische Rechteck aus geschnitztem Holz, das wie immer jeden Einblick in Sondras kleines Reich verwehrte wie ein Reliquienschrein den Blick der gewöhnlichen Sterblichen auf seinen heiligen Inhalt. Jessamy konnte sich nicht daran erinnern, diese Tür jemals offen stehen gesehen zu haben, seit Sondra im Shaalizaar Inn ihre Zelte aufgeschlagen hatte und das war jetzt immerhin fast ein ganzes Jahr her.
Sondras Reich ... Sondras Refugium ...
Wenn irgendwo eine Antwort auf alle Fragen zu finden war, dann hier. Jessamy musste nur den Mut aufbringen, durch diese Tür zu gehen und in diesem Zimmer nach der Lösung des großen Sondra-Rätsels zu suchen.
Sollte sie es tun? Oder lieber doch nicht? Jessamy schwankte zwischen ihren Skrupeln und einer Wissbegier, die gestillt werden musste, wenn sie ihren Seelenfrieden je wiederfinden wollte, denn die Spannung, die sie inzwischen empfand, war kaum noch auszuhalten. Trotzdem war ihr durchaus bewusst, dass sie gerade eine Grenze erreicht hatte, deren Überschreitung nicht ohne Folgen bleiben würde, weder für sie noch für Sondra ...
„Ach verdammt! Das hier ist immer noch meine Wohnung. Und nach allem, was ich jetzt weiß oder vielmehr nicht weiß, habe ich jedes Recht dazu, ihr Zimmer zu filzen. Und überhaupt: Wann hat sie je Rücksicht auf meine Privatsphäre genommen? Wer hat denn damit angefangen, hier überall herumzuschnüffeln?" sagte Jessamy laut.
Und mit dieser Rechtfertigung waren natürlich alle Skrupel im Handumdrehen gefesselt und geknebelt. Nachdem sie so ihr Gewissen erfolgreich zum Schweigen gebracht hatte, drückte Jessamy energisch die Klinke hinunter …
… und schon schwang die Tür mit dem gleichen unheilvollen Knarren auf, das in jedem Holovid-Film aus dem Gänsehautgenre unweigerlich den verbotenen Eintritt der allzu risikofreudigen Heldin begleitete, wenn sie sich leichtsinnigerweise in das architektonische Gegenstück zur sprichwörtlichen Höhle des Löwen hineinwagte.
Und natürlich wurde die Heldin wie üblich von undurchdringlicher Dunkelheit empfangen – schließlich hätte ein strahlendheller Raum kaum den erwünschten Schauereffekt bei den Zuschauern erzeugt.
Doch in diesem Fall hatte die herrschende Finsternis zum Glück nichts mit den naturgemäß düsteren Behausungen von Vampiren oder ähnlich blutrünstigen Kindern der Nacht zu tun, sondern stammte nur von einer ganz alltäglichen Batterie heruntergelassener Jalousien, die um diese Uhrzeit die melancholische Abenddämmerung genauso radikal aussperrten wie das Gleißen der Mittagssonne.
Trotzdem fühlte sich Jessamy sofort sehr viel besser, als alle Lampen auf ihr ziemlich heiser herausgebelltes: „LICHT!" reagierten, obwohl ihre geblendeten Augen natürlich ein paar Sekunden brauchten, um sich an den schnellen Wechsel zwischen zwei Extremen zu gewöhnen.
Das erste, was ihr auffiel, als sie sich umsah, war, dass alles noch genauso aussah wie an dem Tag, an dem Sondra hier eingezogen war. Nichts hatte sich verändert, rein gar nichts. Ein paar elfenbeinfarbene Schleiflackmöbel (ein Bett, ein Schrank und ein schmales Regal) vor dem zartblauen Hintergrund der Tapete, die Hängelampe mit dem indigofarbenen Glasschirm, die dazu passende Wandleuchte und der ovale Spiegel neben der Tür, das war alles.
Sondra hatte dieser spartanischen Grundeinrichtung nichts hinzugefügt, nicht einmal einen Sessel oder einen Teppich oder irgendetwas anderes nach ihrem Geschmack. Die Lücken, die früher von Kayes Schreibtisch und ihrer geliebten Schatztruhe ausgefüllt worden waren (ein gewaltiges Vehikel aus massivem Tukkholz, das sie von ihrem Großvater geerbt und als Sitzbank und Stauraum für voluminöse Daunenjacken und andere platzverschlingende Skisportartikel verwendet hatte), gähnten immer noch, das Regal stand nach wie vor leer, die Wände waren kahl.
Es gab keine Bilder, keinerlei persönlichen Habseligkeiten, nichts, was überhaupt auf die gegenwärtige Bewohnerin hingewiesen hätte, geschweige denn auf ihr Wesen, ihren Charakter. Der ganze Raum machte einen öden, verlassenen Eindruck, ungefähr wie ein Hotelzimmer, nachdem ein ganzes Kontingent von Reinigungsdroiden auch die kleinsten Spuren des letzten Gastes beseitigt hatte. Jessamy hatte schon verstaubte Theaterkulissen gesehen, die mehr Leben und Gemütlichkeit ausgestrahlt hatten als dieses verwaiste und seltsam abweisend wirkende Zimmer, in dem Sondra seit Monaten lebte.
Obwohl von Staub hier natürlich sowieso nicht die Rede sein konnte – alles war so peinlich sauber wie jeder Winkel, in dem Miss Putzfimmel regierte. Das Bett war nur ein weiteres Beispiel für Sondras beinahe soldatisch angehauchten Sinn für absolute Präzision in jeder Lebenslage: Das Oberlaken und die Decke waren so makellos glatt und so straff zurechtgezurrt, dass nicht das kleinste Fältchen zu erkennen war. Eine fallengelassene Creditmünze wäre zweifellos daran abgeprallt wie ein Smashball an einer Wand. (Sergeant Pinnbec hätte an Sondra seine helle Freude gehabt!)
Doch Jessamy dachte nur voller Verwunderung an den Gepäckstapel, mit dem ihre Mitbewohnerin seinerzeit angerückt war. Der Koffer, die Reisetaschen, die Kartons – vor allem die Kartons. Was hatte Sondra darin befördert? Kleider? Ganz bestimmt nicht, denn damals war ihre Garderobe noch nicht so umfangreich gewesen, dass sie dafür mehr Platz gebraucht hätte, als ein einzelner Koffer ihr zur Verfügung stellen konnte. Aber was hatte sie dann damit transportiert?
Jessamy öffnete den Schrank, der inzwischen vor Kleidung beinah überquoll, aber auf den ersten Blick keine anderen irdischen Güter offenbarte. Es war unbegreiflich …
Jessamy erinnerte sich noch gut daran, wie sie selbst vor ein paar Jahren bei ihren Eltern ausgezogen und in das Shaalizaar Inn übergesiedelt war. Sie hatte damals einen gemieteten Minitransporter voller Leichtplastikboxen in verschiedenen Größen mitgebracht, die bis zum Rand mit allem möglichen Krimskrams gefüllt gewesen waren, den sie dann nach und nach über ihre ganze Wohnung verteilt hatte. Allein schon ihre Sammlung an Buchchips hatte eine Box für sich beansprucht, während Sondra, die doch eine richtige Leseratte war, offensichtlich kein einziges eigenes Buch besaß.
Und was war mit ihrer angeblichen Leidenschaft für klassische Musik? Lebte Sondra sie nur via Holovid und Live-Stream aus oder gehörte sie zu diesen Konzert-Puristen? Hier fand sich jedenfalls nicht einmal eine einsame Tarzom–Symphonie auf Audiodisk.
Und wo waren all die anderen Sachen, die Familienholos, das alte Spielzeug, die vielen sentimentalen Andenken, die man auf keinen Fall wegwerfen wollte? Auf Jessamys Kopfkissen thronte heute noch ihr Lieblingsstofftier, eine stark zerfledderte silbergraue Plüschkatze, die Zev immer wieder zum Lachen und den Kater zu verspielten Halbattacken reizte, und das Regal über ihrem Bett wurde immer noch von den vielen antiken Deko-Schneekugeln beherrscht, die sie als Kind mit Leidenschaft gesammelt hatte.
Wo waren also die tausend Kleinigkeiten, die auch junge Menschen im Lauf ihres Lebens schon angesammelt hatten und die sie unweigerlich mit sich nahmen, wenn sie zum ersten Mal in die Welt hinauszogen? Hier in Sondras Zimmer war nichts davon zu finden. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, dass ihr Leben erst mit ihrem Einzug ins Shaalizaar Inn begonnen hatte.
Und wer weiß, vielleicht ist es ja auch so. Vielleicht ist Sondra Rakosh erst an dem Tag geboren worden, als ich sie hier reingelassen habe, dachte Jessamy voller Unbehagen.
Aber sogar dafür musste es theoretisch irgendwelche Anhaltspunkte geben. Kein Mensch konnte der komplexen Maschinerie der imperialen Bürokratie ewig entkommen. Natürlich rechnete Jessamy nicht ernsthaft damit, hier auf so aussagekräftige und hochoffizielle Dokumente wie ID-Karten, Sozialversicherungsausweise oder Stammbücher voller Geburtsurkunden zu stoßen.
Aber sie ging sehr wohl davon aus, dass niemand ganz und gar ohne schriftliche Unterlagen auskam. Sogar Sondra – oder wie auch immer sie in Wirklichkeit heißen mochte – musste irgendwo ein paar Rechnungen oder Kontoauszüge oder ähnlich interessante und aufschlussreiche Dinge aufbewahren, eventuell ein paar ausgedruckte Mails oder vielleicht sogar ein Tagebuch, was nun wirklich ein sensationeller Erfolg und als Informationsquelle nicht mehr zu überbieten gewesen wäre. Die Frage war nur wo – schon wieder!
„Öfter mal was Neues", murrte Jessamy vor sich hin.
Aber dies war kaum der richtige Augenblick, um sich über die Monotonie ihrer Spürhundtätigkeit aufzuregen, also nahm sie sich zusammen und machte sich an die Arbeit. Sie durchsuchte den ganzen Schrank systematisch von oben bis unten, stöberte durch jeden Wäschestapel, fahndete über, unter und zwischen den Kleidern, tastete jedes einzelne Stück und sogar die Regalfächer ab, aber fündig wurde sie nicht …
Danach nahm sie sich das Bett vor. Sie wühlte sich rücksichtslos durch Decken, Laken, Kissen und Polster, sie knöpfte sämtliche Bezüge auf und nach einer sorgfältigen Inspektion ihres Innenlebens wieder zu. Sie spähte unter die Matratze, sie untersuchte den Rost, sie erforschte das Bettgestell Zentimeter für Zentimeter. Am Ende kroch sie in der stillen Hoffnung, dass ihr die Froschperspektive irgendeine Offenbarung brachte, sogar unter das Bett, aber alles war umsonst.
Sie brauchte fast eine Viertelstunde, um das superkorrekte Kasernenniveau von Sondras Ruhelager wieder herzustellen, denn sie war ein wenig aus der Übung, was die kleinen Tricks und Kniffs bei dieser Art von Kunstwerk anging. (Auf der Warbride hatte sie es nicht mehr nötig, auf solche Dinge zu achten – Captain Dakall wäre nicht einmal im Traum auf die Idee verfallen, seine kostbare Zeit mit der Kontrolle von Offizierskabinen zu verschwenden!)
Als dieses Glanzstück endlich vollbracht war, war Jessamy so gereizt, dass sie senkrecht an die Decke hätte gehen können. Es war aber auch zu frustrierend, dass alle ihre Bemühungen, der wahren Sondra auf die Spur zu kommen, im Sande zu verlaufen schienen. Sie hatte das Gefühl, überall auf unsichtbare Mauern und Zäune zu stoßen.
Und was sollte sie sich als nächstes vornehmen? Die Besenkammer? Den Keller? Den Speicher? In einem so großen Gebäude wie dem Shaalizaar Inn musste es beinahe unendlich viele Möglichkeiten geben, etwas so zu verstecken, dass es zwar außerhalb von Jessamys unmittelbarer Reichweite und damit vor Zufallsentdeckungen geschützt war, aber doch noch schnell genug greifbar, wenn Sondra es brauchte.
Aber dieses raffinierte Biest könnte auch genau so gut auf Nummer Sicher gehen und irgendwo in der City ein Bankschließfach haben, wo sie ihren ganzen Krempel unter Schloss und Riegel hält, dachte Jessamy, die inzwischen voller Ressentiments gegen Sondra war, was ihr auch nicht zu verdenken war. Ach, es ist hoffnungslos. Bloß raus hier!
Auf dem Weg nach draußen kickte sie voller Ärger die Schranktür zu, die sie im Eifer des Gefechtes zu schließen vergessen hatte. Vielleicht ließ ihre feindselige Stimmung ihren Fußtritt etwas kräftiger ausfallen, als sie es beabsichtigt hatte, vielleicht saß die Zierleiste, die bis dahin die obere Schrankkante gesäumt hatte, aber auch aus anderen Gründen viel zu locker, jedenfalls löste sie sich plötzlich von ihrem angestammten Platz und fiel herunter, wobei sie Jessamys Kopf nur um Haaresbreite verfehlte.
„MIST!"
Jessamy befürchtete schon einen größeren Schaden, aber als sie die Zierleiste aufhob, stellte sie mit freudloser Genugtuung fest, dass die Holzzapfen an der Rückseite unversehrt waren. Sie musste das Teil einfach nur wieder in die vorgesehenen Bohrlöcher in der Halterung stecken und es fest andrücken.
Sie schickte sich gerade an, genau das zu tun, als ihr Blick an einem vagen rechteckigen Umriss oben auf dem Schrank hängen blieb. Ein Koffer. Sondras Koffer. Bis jetzt völlig verborgen durch die hohe Zierleiste, die fast den ganzen Raum zwischen Schrankkante und Zimmerdecke ausfüllte – das ideale Versteck.
Natürlich! Das ist es!
Jessamy ließ die Leiste achtlos fallen, stellte sich auf die Zehenspitzen, packte den Koffer an seinem Griff und zerrte ihn mit einem energischen Ruck aus seinem improvisierten Geheimfach heraus.
Ihr blieb gerade genug Zeit, über das unerwartete Gewicht ihres Fundstücks zu staunen, als der Koffer ihr auch schon aus der Hand glitt und – dem Gesetz der Schwerkraft folgend – unter Donnergepolter auf dem Boden landete. Die Wucht des Aufpralls ließ die Schnappverschlüsse, die den Deckel sicherten, mit einem indignierten Klicken aufspringen ... und schon war der verblüffende, wenn auch wenig spektakuläre Inhalt entblößt: Vier große rote Ziegelsteine, sorgfältig in mehrere Lagen Luftpolsterfolie eingewickelt – das war das erste und vorläufig auch das einzige, was Jessamy zu sehen bekam.
Kein Wunder, dass das Ding so schwer war … dass alles so schwer war!
Jessamys Gedanken wanderten unwillkürlich zu dem Tag von Sondras Ankunft zurück, vor allem zu dem Taxifahrer, der damals ihre Mitbringsel in die Wohnung befördert hatte. Im Nachhinein fand sie, dass Sondras scheinbar übertriebene Großzügigkeit beim Trinkgeld durchaus gerechtfertigt gewesen war – immerhin hatte sie den armen Mann dazu gezwungen, sich mit einem Gepäck abzuschleppen, das zu neunzig Prozent aus einer ziemlich gewichtigen Attrappe bestanden hatte.
Ein paar Kleider, ein paar unverzichtbare Bagatellen wie Zahnbürste oder andere Körperpflegeutensilien … und der Rest einfach nur Ziegelsteine, in dicke Folienschichten gehüllt, damit sie beim Transport nicht aneinander schlugen und klapperten …
Jetzt weiß ich, warum sie nicht wollte, dass ich ihr beim Auspacken helfe!
Später hatte Sondra dann wohl zusammen mit ihren Umzugskartons auch die Steine Stück für Stück entsorgt. Warum sie allerdings vier davon behalten hatte und heute noch in ihrem Koffer aufbewahrte, war Jessamy schleierhaft.
Vielleicht ist sie einfach noch nicht dazu gekommen sie wegzuschaffen ... diese Riesendinger kann sie ja nicht gut durch den Müllschlucker jagen! Und es würde schon ein bisschen auffallen, wenn sie irgendwo in der Fußgängerzone stehen bleibt, so einen Brocken aus ihrer Handtasche fischt und ihn mitten auf dem Gehweg deponiert ...
Was Sondra ebenfalls behalten hatte, waren die beiden jetzt leeren Reisetaschen, die zu wurstförmigen Päckchen zusammengerollt unter den Ziegelsteinen lagen – und die übrigens gar nicht so leer waren, wie Jessamy zuerst angenommen hatte! Denn zumindest eine von ihnen gab ein ausgesprochen verlockend klingendes papierenes Knistern von sich, als Jessamy sie berührte. Endlich ein Hinweis?
Aufgeregt zog Jessamy den Reißverschluss auf, griff in die Tasche hinein und förderte ihre erste richtige Beute zu Tage, mehrere beschriebene Seiten, die an der Kante mit einer Büroklammer zusammengeheftet waren.
Das oberste Blatt war ein Briefbogen aus edlem handgeschöpften Büttenpapier. Ein in Gold und Silber eingeprägtes Emblem im Kopf zeigte einen stark stilisierten Katamaran, der schnittig über eine zickzackförmige Wellenlinie rauschte, die schäumende Wogen darstellen sollte. Der Text des Briefes verbarg seine geschäftstüchtige Sachlichkeit hinter einem zierlichen blauen Kursivdruck und übertrieben verbindlichen, beinahe schon servilen Höflichkeitsfloskeln.
Der Vorstand des Aquariana e.V. bedankte sich herzlichst für die Anfrage von Miss Sorkin (!) und war hocherfreut über ihr Interesse an einer Mitgliedschaft in seinem Club. Es war ihm eine außerordentliche Ehre, ihr in der Anlage einen entsprechenden Antrag und gleichzeitig ein Anmeldeformular für den von ihr gewünschten Segelkurs zu überreichen. Er bedauerte den lästigen, aber leider unvermeidlichen bürokratischen Aufwand unendlich und empfahl Miss Sorkin dringend, nicht nur das Merkblatt mit den allgemeinen Geschäftsbedingungen sorgfältig durchzulesen, sondern bei der Gelegenheit auch gleich darüber nachzudenken, ob dies nicht der geeignete Zeitpunkt war, eine preisgünstige Unfallversicherung abzuschließen. (Immerhin war jede Sportart mit ganz eigenen Risiken verbunden und die Versicherungsgebühren würden selbstverständlich mit einem großzügigen Rabatt auf den Jahresbeitrag verrechnet werden.) Eine Broschüre zu diesem Thema war dem Schreiben ebenfalls beigefügt ...
Miss Sorkin!
Jessamys Blutdruck stieg zusammen mit ihrem Adrenalinspiegel so rasant an, dass sie ein gefährliches Rauschen und Klingen in den Ohren hatte, als sie zur letzten Seite umblätterte, die nur eine Kopie war – das Original war natürlich längst wieder zurückgeschickt worden.
Doch die große kühne Handschrift, mit der die Anmeldung für einen sechswöchigen Anfängerkurs in der clubeigenen Segelschule des Aquariana e.V. ausgefüllt worden war, kam Jessamy trotzdem beunruhigend vertraut vor.
Aber wirklich erschüttert war sie erst beim Anblick ihres vollständigen Namens, den sie auf der dafür vorgesehenen Punktlinie am unteren Rand des Formulars vorfand. Es war von dem lang gezogenen J am Anfang über die schwungvollen S-Schnörkel in der Mitte bis zu dem leicht abgeschrägten kleinen N am Ende ihre eigene Unterschrift – oder vielmehr eine vollkommene Imitation davon.
Jessamy starrte ungläubig auf dieses unbegreifliche Autogramm, das ihrem eigenen zum Verwechseln ähnlich sah. Und wieder schlug das Bild, das sie sich in vertrauensseligeren Zeiten von ihrer Mitbewohnerin gemacht hatte, einen Salto mortale. Sie fragte sich prompt, wie oft Sondra inzwischen ihren Namen als Pseudonym missbraucht hatte und bei welchen Gelegenheiten sie noch genug kriminelle Energie für eine waschechte Urkundenfälschung entwickelt hatte.
Wie viel Übung brauchte ein Mensch eigentlich, um die Schreibweise eines anderen so perfekt nachahmen zu können? Jessamy sah sich das Formular noch einmal genauer an, aber ihr erster Eindruck bestätigte sich: Es war ihre Handschrift. Und man musste kein Graphologe sein, um zu erkennen, wie flüssig und natürlich der ganze Duktus war. Es gab keine Unterbrechung in dem gleichmäßigen Auf und Ab der Linienführung, nichts, was ein Stocken, eine Unsicherheit verraten hätte. Wie um alles in der Welt hatte Sondra das fertiggebracht? Es war ein Mysterium …
… und nicht das einzige, denn die Reisetasche hatte noch mehr zu bieten, wie Jessamy soeben entdeckte. Es gab auch noch ein mit Klettband gesichertes Seitenfach, das zwei Ausbuchtungen aufwies, die eine kleine und rund, die andere eckig und wesentlich größer.
Das Klettband erwies sich als widerspenstig, aber der Einsatz von roher Gewalt brachte Jessamy schnell zum Ziel. Bald war sie dazu in der Lage, auch diese Trophäen zu sichten. Eine weiße Plastikdose, die bis zum Rand mit Tabletten gefüllt war, wurde zuerst von ihr in Augenschein genommen. Das Etikett war von der Dose abgerissen, aber Jessamy brauchte weder Seriennummern noch irgendein Apothekerkauderwelsch, um zu wissen, was sie da vor sich hatte – diese winzigen grell orangefarbenen Pillen mit dem eingestanzten Symbol „L+" hätte sie unter Hunderten von Medikamenten wiedererkannt.
Aber beinahe noch bizarrer war der zweite Fund, eine Schachtel Polychroma Schaumtönung, die laut Inhaltsbeschreibung eine besonders intensive Pigmentmischung enthielt und eine absolut naturgetreue Umbrabraun-Schattierung mit Seidenglanzeffekten erzeugte, die bei sachgemäßer Anwendung der beiliegenden Pflegespülung mindestens zehn Haarwäschen überdauern sollte.
Jessamy betrachtete das abgebildete Model, das seine frisch getönte umbrabraune Mähne mit Seidenglanzeffekten zur Schau stellte ... und plötzlich musste sie lachen, bis ihr Tränen in die Augen schossen, was natürlich eher ein Resultat von überreizten Nerven als von echter Fröhlichkeit war.
„Das darf doch einfach nicht wahr sein!" stöhnte sie, als sie sich wieder ein wenig von ihrem leicht hysterischen Heiterkeitsausbruch erholt hatte. „Nichts an dieser Frau ist echt – nicht mal ihre gottverdammte Haarfarbe!"
Es dauerte eine Weile, bis sie das verdaut hatte, aber als es endlich soweit war, durchsuchte sie ziemlich lustlos die andere Reisetasche. Doch für heute waren wohl alle Möglichkeiten für sensationelle Entdeckungen endgültig ausgeschöpft und Jessamy war nicht gerade traurig darüber. Sie hatte schon genug gesehen – mehr als genug! Die Frage war jetzt nur, wie sie darauf reagieren sollte ...
Zunächst verstaute sie alles wieder genauso, wie sie es vorgefunden hatte. Nachdem sie auch noch den Schrank mit ein paar ziemlich kraftvollen Fausthieben gegen die wieder eingepasste Zierleiste in seinen ursprünglichen Zustand versetzt hatte, zog sie sich hastig aus dem Feindgebiet zurück und alarmierte die Hilfstruppen. Mit anderen Worten: Sie rief Zev an.
„Komm so schnell wie möglich her. Ich muss unbedingt mit dir reden."
Mehr sagte sie nicht und mehr war auch gar nicht nötig. Keine zwanzig Minuten später – Jessamy hatte noch nicht einmal damit begonnen, die Instantsuppe auszulöffeln, die sie in einem Anfall von Heißhunger gebraut hatte – war Zev da, gespannt wie ein Flitzbogen und außer sich vor Sorge.
„Was ist? Bist du krank? Hast du geweint? Du hast so merkwürdig ausgesehen ... Ist etwas passiert?" sprudelte er heraus und zog Jessamy gleichzeitig abrupt an sich, um sie stürmisch abzuküssen, was jeden Versuch, auch nur eine seiner Fragen zu beantworten, in gegenseitiger Atemlosigkeit stecken bleiben ließ.
Seltsamerweise war es gerade seine Aufregung, die Jessamy wieder völlig ruhig werden ließ, obwohl der ausgesprochen tröstliche Körperkontakt mit so viel maskuliner Wärme und Fürsorge natürlich auch sein Teil dazu beitrug. Wie auch immer, nachdem sie eine Weile umarmt und verhätschelt worden war, setzte sich ihr Mitteilungsdrang durch und Zev Gilfoy wurde in das neueste Kapitel ihrer WG-Tragikomödie eingeweiht.
Eine von Zevs vielen wunderbaren Eigenschaften bestand darin, dass er niemals auch nur den leisesten Zweifel daran hegte, wie mit einer gegebenen Situation richtig umzugehen war. Er hatte für jedes Problem eine Patentlösung parat – vor allem für das Sondra-Problem.
„Wirf sie raus! Heute noch!"
„Wie stellst du dir das vor? Sie ist nicht mal hier und ich bin schon in ein paar Stunden auch wieder unterwegs. Soll ich ihr vielleicht einfach den Koffer vor die Tür stellen und das Codeschloss austauschen lassen?"
Noch während Jessamy es aussprach, wurde ihr bewusst, dass eine derart rigorose Vorgehensweise im Ernstfall ohnehin unmöglich durchzuführen beziehungsweise durchzuhalten gewesen wäre: Gleb Botkin, offenbar ein überzeugter Rakosh-Anhänger (aber auf jeden Fall ein verbürgter Sorkin-Gegner!), hätte niemals zugelassen, dass Sondra einfach so ausgesperrt wurde. Aber Zev sah das natürlich ganz anders.
„Warum nicht? Schließlich käme Sondra damit immer noch verdammt gut weg – viel besser, als sie es verdient, wenn man bedenkt, wie sie dich reingelegt hat. Sie hat dich von Anfang an hintergangen, Sam! Du schuldest ihr nichts, gar nichts. Sie kann froh sein, dass du nicht die Polizei gerufen hast. Jeder andere an deiner Stelle hätte es schon längst getan."
„Die Polizei? Was hat denn die Polizei damit zu tun?"
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Sam, was diese Frau da macht, verstößt gegen das Gesetz! Sie hat sich unter einem falschen Namen bei dir eingenistet, sie benutzt deinen Namen, sie fälscht deine Unterschrift, sie klaut dein Boot. Und wer weiß, was sie sonst noch alles abgezogen hat. Was muss Sondra eigentlich noch anstellen, damit du endlich einen Schlussstrich ziehst? Deine Bude ausräumen, dein Konto plündern?"
Die Erwähnung dieser eher konventionellen illegalen Machenschaften erinnerte Jessamy an ein kleines, aber durchaus bemerkenswertes Detail, das sie bis jetzt völlig vergessen hatte.
„Weißt du, was ich noch bei ihr gefunden habe? Eine randvolle Dose Lindan Plus."
„Lindan was?"
„Plus! Das ist ein Beruhigungsmittel … ein Schlafmittel, wenn du so willst. Und ein richtiger Hammer noch dazu! Mit zwei, drei Pillen davon könntest du sogar ein Bantha ins Reich der Träume schicken. Und mit dieser Menge könntest du wahrscheinlich eine ganze Herde flachlegen.
Dieses Zeug ist unglaublich stark und gar nicht ungefährlich. Deshalb wird es eigentlich nur bei Patienten eingesetzt, die unter ständiger Aufsicht stehen, in Krankenhäusern oder Pflegeheimen oder so. Gewöhnliche Sterbliche wie du und ich kommen da jedenfalls nicht ran, nicht mal auf Rezept."
„Woher weißt du das alles?"
„Von meinem Vater ..."
Jessamy biss sich auf die Lippen, als sie an Jeoff Sorkin dachte, an seinen langen Kampf gegen diese heimtückische Krankheit, die so selten auftrat, dass sie kaum erforscht war, an die Hilflosigkeit seiner Ärzte, die eine sinnlose Therapie nach der anderen verordnet hatten, nur um nicht zugeben zu müssen, dass sie nicht mehr weiter wussten, an sein endloses Sterben …
„Sie haben ihm das gegeben, als die Schmerzen nicht mehr auszuhalten waren … damals, als es mit ihm zu Ende ging …"
Zev griff über den Tisch – inzwischen saßen sie nämlich in der Küche – und drückte ihre Hand. Dann, sichtlich bemüht, in die weniger schmerzliche Gegenwart zurückzukehren, pfiff er leise durch die Zähne.
„Die liebe, brave kleine Sondra, die nicht mal Kopfwehtabletten schluckt", sagte er ironisch. „Glaubst du, sie handelt mit Drogen?"
„Das würde immerhin einiges erklären, aber längst nicht alles. Nein, da steckt etwas ganz anderes dahinter ..."
Jessamy rührte geistesabwesend in ihrer längst kalt gewordenen Suppe herum, während sie versuchte, einen Verdacht in Worte zu kleiden, um den ihre Gedanken hartnäckig kreisten, seit sie das Anmeldeformular des Aquariana-Clubs gesehen hatte.
„Weißt du, vielleicht drehe ich ja langsam ein bisschen durch, aber wenn ich mir das alles so durch den Kopf gehen lasse und zwei und zwei zusammenzähle, dann kommen mir die wildesten Ideen."
Zev wurde sofort hellhörig. „Was für Ideen?"
„Es hört sich natürlich komplett wahnsinnig an, wenn ich das jetzt sage, aber … Könnte es sein, dass Sondra versucht, meine Identität anzunehmen?"
„Sie ist komplett wahnsinnig", betonte Zev. „Sie ist völlig besessen von dir, das habe ich ja schon immer gesagt. Und wer weiß, was noch alles passiert, wenn sie sich immer mehr da reinsteigert? Sam, es ist wirklich allerhöchste Zeit, dass du dir diese Verrückte endlich vom Hals schaffst!"
„Aber was ist, wenn Sondra gar nicht verrückt ist? Was ist, wenn sie in Wirklichkeit so normal ist wie du und ich und nur aus einem ganz bestimmten Grund versucht, mir ähnlich zu werden – so ähnlich, wie es überhaupt nur geht?"
Zev durchlebte unübersehbar erst einen Augenblick großer Verwirrung und dann großer Erleuchtung.
„Ach so … Meinst du vielleicht, sie plant irgendwas, was sie dir in die Schuhe schieben will, vielleicht einen groß angelegten Scheckbetrug oder einen Banküberfall oder so was in der Richtung?"
„In diese Richtung habe ich eigentlich nicht gedacht – eher in meine Richtung."
Zevs Augenbrauen zuckten hoch als wollten sie über seinen Haaransatz hinausspringen. „Du glaubst doch nicht etwa, dass Sondra zu den Rebellen gehört?"
„Wäre das wirklich so weit hergeholt? Überleg doch mal, Zev: Würde eine x-beliebige Durchschnittsdiebin, die nur darauf aus ist, meine Wohnung oder mein Konto zu plündern, monatelang damit warten und sich in der Zwischenzeit auch noch die Mühe machen, mich und mein ganzes Leben zu kopieren?
Würde eine zukünftige Bankräuberin, die mich zu ihrem Sündenbock machen will, den Standard-Leitfaden für Flottenoffiziere lesen und mich bei jeder Gelegenheit über meinen Job ausfragen? Denn sie hat mich ausgefragt, Zev – das wird mir erst jetzt so richtig klar. Sie hat mich regelrecht ausgehorcht. Dauernd wollte sie etwas über die Warbride hören, wie es dort so ist, was ich dort so treibe ...
Sie konnte von meinen Geschichten ja gar nicht genug bekommen. Sie hat jede noch so triviale Kleinigkeit förmlich verschlungen. Und warum sollte sie sich ausgerechnet dafür so interessieren?
Nein, Zev, Sondra hat irgendetwas vor, etwas, für das sie wenigstens eine Zeitlang in meine Haut schlüpfen muss. Sie hat wahrscheinlich einen ganz bestimmten Auftrag, eine Mission, die sie nur durchziehen kann, wenn sie dabei meine Rolle spielt. Und sie ist hier bei mir aufgetaucht, um sich darauf vorzubereiten, um ich zu werden … Oh Gott, das ist ja so was von unheimlich!"
Jessamy schwieg einen Augenblick lang, bevor sie langsamer fortfuhr: „Obwohl ich zugeben muss, dass ich absolut nicht verstehe, was ihr das im Endeffekt überhaupt bringen soll. Ich meine, mal ganz abgesehen davon, dass es glatter Selbstmord wäre, wenn sie versuchen würde, sich für mich auszugeben und sich auf der Warbride oder sonst wo einzuschleichen...
Also sogar wenn sie das schaffen würde, was hätte sie schon davon? Ich bin doch nur ein ganz kleines Licht, ein Niemand mit der niedrigsten Sicherheitsstufe überhaupt. Was könnte sie da schon großartig auskundschaften? Den monatlichen Treibstoffbedarf von TIE-Jägern? Die Menge an Klopapier, die die Crew verbraucht?
Jeder Bericht, jede Meldung, alles, was irgendwie wichtig ist, ist doch doppelt und dreifach codiert und mit Passwörtern abgesichert und was weiß ich noch. Also das einzige echte Sicherheitsloch bei uns auf der Warbride ist der Getränkeautomat auf der Brücke. Der Cofecea, den das Ding ausspuckt, ist lebensgefährlich – vor allem dann, wenn Sergeant Mjuly wieder mal vergessen hat, uns zu erzählen, dass er gerade eine Ladung Entkalker in den Wassertank gekippt hat. Ach Zev, irgendwie ergibt das alles überhaupt keinen Sinn …"
„Warum zerbrichst du dir überhaupt noch den Kopf über so was? Wirf sie einfach raus, Sam."
„Das wäre natürlich das Beste. Auf jeden Fall wäre es das Einfachste. Aber ich muss erstmal darüber nachdenken ... Ich meine, was ist, wenn ich Recht habe? Wäre es dann nicht meine Pflicht, irgendwas gegen sie zu unternehmen?"
Zev legte die Fingerspitzen zusammen, als faltete er die Hände zum Gebet, und wiederholte, jede Silbe skandierend: „Wirf. Sie. Ein-fach. Raus. Sam."
Durch den abgehackten Rhythmus gewann der Satz einen eigenartig hypnotischen Beiklang, ungefähr wie ein Mantra oder ein Demonstranten-Sprechchor.
„Oder noch besser: Lass es doch einfach mich machen – ich könnte es gleich morgen früh tun, wenn du schon unterwegs bist, Sam. Ich schmeiß das Luder ruckzuck für dich raus, wenn du mich nur lässt…"
Die Versuchung, die Sache Zev zu überlassen, war zugebenermaßen groß. Aber Jessamy widerstand ihr – wenn auch nur widerstrebend.
„Ich muss erstmal darüber nachdenken", wiederholte sie eigensinnig.
Zev stieß einen kleinen geduldigen Seufzer aus, der ihr begreiflich machen sollte, wie halsstarrig sie war und wie schwer sie ihm das Leben damit machte, ausgerechnet ihm, der doch nur ihr Glück im Sinn hatte. Als er sah, dass er damit keinen nennenswerten Eindruck hinterließ, verdrehte er vielsagend die Augen in Richtung Küchendecke und seufzte noch einmal, dieses Mal mit mehr Nachdruck.
„Na schön, Sam", sagte er schließlich. „Aber denk lieber nicht zu lange darüber nach. Und falls du dich irgendwann doch noch dazu aufraffen solltest, etwas gegen unsere Superagentin zu unternehmen, dann lass am besten gleich als allererstes dein Konto sperren – nur für den Fall, dass die Allianz völlig pleite ist und die finstere Absicht hat, mit deinen letzten paar Credits einen Großangriff auf Coruscant oder ein Attentat auf den Imperator zu finanzieren oder irgendwas in dieser Art."
„Das ist nicht komisch, Zev!"
„Ich weiß …"
Und damit endete ihre Diskussion. Vorläufig ...
Sondra kam an diesem Abend nicht mehr nach Hause und niemand bedauerte es. Nicht wirklich …
Die mit Zev verbrachte Nacht hatte alle Gedanken an die möglichen Ränke und Intrigen ihrer Mitbewohnerin für ein paar Stunden in Schach gehalten, aber sobald Jessamy am nächsten Morgen zur Warbride und damit zum Ernst des Lebens zurückgekehrt war, fing sie wieder an, sich darüber den Kopf zu zermartern.
Was sollte sie jetzt nur mit Sondra anfangen? Sollte sie sie einfach schnell loswerden und dann die ganze Angelegenheit vergessen, wie Zev es vorgeschlagen hatte, oder sollte sie dem Ruf der Pflicht folgen und die mutmaßliche Rebellin zur Strecke bringen?
Jessamy brütete elf Tage lang über ihrem Dilemma, ohne zu einer Entscheidung zu kommen. Dann trieb das bedrohlich näher rückende nächste freie Wochenende sie zu einer Verzweiflungstat: Sie schüttete Chevan ihr Herz aus.
Sie fing ihn abends auf dem Weg zum Freizeitdeck ab, wo er sich ein Smashballturnier zwischen zwei Pilotenteams ansehen wollte. Sie lotste ihn an einen abseits gelegenen Ecktisch in der Offiziersmesse, betäubte ihre Bedenken ob dieses riskanten Schrittes mit einem doppelten Hyperraumhopser ohne Eis (besondere Situationen erforderten einen besonders starken Tropfen zur moralischen Aufrüstung!) und vertraute ihrem Kollegen im Flüsterton und unter dem Siegel der Verschwiegenheit ihr dunkles Geheimnis an.
Chevan war davon so beeindruckt, dass er sogar das versäumte Spiel und die hundert Credits vergaß, die er in einem Anflug von Tollkühnheit auf einen ziemlich unwahrscheinlichen 3:0-Sieg der Delta-Staffel verwettet hatte.
„Krass! Total abgefahren, ehrlich!"
Obwohl er die Dreißig schon überschritten hatte, war es Chewan nie gelungen, seinen Schuljungenjargon ganz und gar abzulegen. Sogar in rein dienstlichen Gesprächen, die für gewöhnlich von dem stocksteifen Zeremoniell und der entsprechend gehobenen Ausdrucksweise militärischen Protokolls bestimmt wurden, kam es gelegentlich zu einem kleinen Ausrutscher und dem einen oder anderen geflügelten Wort – ein Umstand, der überlegene Intellektuelle wie Captain Dakall immer wieder zu zungenfertigen Bosheiten inspirierte.
Aber das war nicht ganz die Reaktion, die Jessamy von ihm erhofft und erwartet hatte.
„Und? Was sagst du dazu?" drängte sie.
Chevan sann eine Weile vor sich hin und gestand schließlich: „Ich hab noch nie einen echten leibhaftigen Rebellen aus der Nähe gesehen."
Auch das ging irgendwie am Kern der Sache vorbei, wie Jessamy fand. „Und? Was würdest du jetzt an meiner Stelle machen?"
„Keine Ahnung."
Chevan quirlte mit einem Stück Stangensulari in seinem eigenen Drink herum, einer schaurigen giftgelben Mixtur aus Limaaniwasser und einem undefinierbaren alkoholischen Zusatz, die aussah und roch wie ein Desinfektionsmittel.
„Ich glaube, ich würde einfach zum Alten gehen."
„Zum Captain?! Nein, danke – nicht mal mit den Füßen voraus!" sagte Jessamy so laut, dass Commander Rellnik, der erste Offizier der Warbride, der an der Bar stand und sich ebenfalls einen Feierabendabsacker gönnte, sich zu ihr umdrehte und mild tadelnd mit dem Zeigefinger wackelte.
Jessamy errötete heftig und nahm hastig einen viel zu großen Schluck von ihrem Hyperraumhopser, der ihr prompt in die falsche Kehle geriet.
Nachdem sie sowohl den Hustenreiz als auch die allgemeine Peinlichkeit überstanden hatte, zischte sie Chevan sotto voce zu: „Er ist so ungefähr der letzte Mensch in der Galaxis, dem ich diese Story erzählen will."
„Aber das ist einfach eine Nummer zu groß für dich, Sorkin. Rück Dakall lieber rechtzeitig auf die Bude und beichte ihm alles, dann kann dir niemand einen Strick daraus drehen, egal, was diese Schnalle anstellt.
Hältst du aber dicht und es passiert irgendwas, dann bist du im Eimer, sobald die Sache auffliegt, denn sie werden natürlich als allererstes von dir wissen wollen, warum du das nicht sofort gemeldet hast. Und wie willst du ihnen das erklären?
Glaub mir, du handelst dir einen Riesenärger ein, wenn die auf die Idee kommen, dass du diese Rebellentussi gedeckt hast. Am Ende denken die noch, dass du selber ein Rebell bist – und dann bist du wirklich im Eimer. Die nageln dich glatt an die Wand, Sorkin!"
Von diesem Standpunkt aus hatte Jessamy es noch gar nicht gesehen. Sie sah ihren Kollegen großäugig an, völlig aufgewühlt von seiner düsteren Prognose.
„Und deshalb würde ich an deiner Stelle jetzt lieber mal über meinen Schatten springen und so schnell wie möglich zum Captain traben", schloss Chevan.
Er goss die Überreste seines Drinks hinunter und alarmierte den kleinen R6-Droiden, der als Kellner fungierte, mit einem Fingerschnippen.
„Noch einen Sonnentau, Blechkopf, geschüttelt und nicht gerührt – und das Ganze ein bisschen flockig, klar?"
Der R6, dessen Spracherkennungsprogramm ebenfalls Schwierigkeiten mit Chevans saloppem Stil zu haben schien, kippte prompt eine Ladung Kokosraspel in den neuen Sonnentau.
„Mit flockig meine ich schnell her mit dem Gesöff, keine Kokosflocken!" fauchte Chevan nach einem Moment der Überraschung.
Der R6 gab ein entschuldigendes Quietschen von sich, setzte das Glas aber trotzdem vor ihm auf dem Tisch ab und rollte einfach davon, ohne sich weiter um seine Beschwerde zu kümmern. Chevan war fassungslos …
„Jetzt sieh dir das an! Ist das zu glauben? Was muss ein Mann eigentlich noch machen, um in dieser fliegenden Mausefalle einen anständigen Drink serviert zu bekommen? Niemand hier versteht mich, niemand!" klagte er.
Jessamy, die andere Sorgen hatte als seine Kommunikationsprobleme, nickte zerstreut. „Hör mal, Chevan", sagte sie nach einer Weile, „das bleibt doch unter uns, ja?"
„Natürlich! Was hast du denn gedacht?" klang es entrüstet zurück.
Aber auf diese Frage hin hüllte sich Jessamy lieber in Schweigen. Sie konnte schließlich nicht gut zugeben, dass sie es schon halb bereute, Chevan in einem schwachen Moment ins Vertrauen gezogen zu haben, denn abgesehen von den ausgesprochen beunruhigenden Prophezeiungen, die sie damit heraufbeschworen hatte, fragte sie sich bereits, ob sie sich darauf verlassen konnte, dass er dicht hielt.
Chevan musterte die unerwünschte Sonnentau-Variation voller Abscheu, probierte sie trotzdem und verzog angewidert das Gesicht.
Doch nach einer kummervollen Schweigeminute sagte er betont beiläufig: „Du gehst doch zum Captain, Sorkin, oder?"
Jessamy dachte, dass nichts und niemand sie jemals dazu bringen würde, freiwillig zu Dakall zu gehen, denn er verkörperte das genaue Gegenteil des Vorgesetztentyps, dem sie sich auf Gedeih und Verderb ausgeliefert hätte. Aber das behielt sie lieber für sich.
„Darüber muss ich erstmal nachdenken", sagte sie ausweichend und dachte dabei an ihren Lieblings-Rotschopf.
„Denk lieber nicht zu lange darüber nach!" sagte Chevan in einer unbewussten Imitation von Zev Gilfoy.
„Den Text habe ich doch gerade schon mal gehört", seufzte Jessamy.
„Von mir bestimmt nicht." Chevan zögerte einen Augenblick lang, dann fuhr er fort: „Ich will ja nicht drängeln, Sorkin, aber wenn du weißt, was gut für dich ist ..."
„Ja, ja!" sagte Jessamy ungeduldig.
Doch in Wirklichkeit hatte sie bereits entschieden, dass die Sorkin-Rakosh-Wohngemeinschaft ohne weitere Einmischung von außen enden würde und das so bald wie möglich – was die Aussicht auf die Szene, die diesem Ende zwangsläufig vorausgehen würde, aber keineswegs erfreulicher machte.
Obwohl das Recht eindeutig auf ihrer Seite war, sah Jessamy der bevorstehenden Auseinandersetzung mit leiser Beklommenheit entgegen, denn sie hatte durchaus vor, Sondra damit zu konfrontieren, dass sie die Wahrheit oder zumindest einen Teil der Wahrheit kannte.
Aber wie würde Sondra auf ihre Entlarvung reagieren? Und wie würden die Leute, die hinter Sondra standen, darauf reagieren? Was war, wenn sich die Rebellen durch Jessamys Wissen bedroht fühlten und beschlossen, sie einfach aus dem Weg zu räumen? Würden Menschen, die vom Imperium keine Gnade zu erwarten hatten, sobald sie gefasst wurden, lange fackeln, wenn es darum ging, kurzen Prozess mit jemandem zu machen, der sie bestenfalls lebenslänglich in ein Arbeitslager und schlimmstenfalls vor ein Erschießungskommando bringen konnte?
In diesem Zusammenhang musste Jessamy unwillkürlich wieder an den unglückseligen Mr. Furgan und seinen seltsamen, nie wirklich aufgeklärten Unfall denken ... ein Unfall, der möglicherweise gar kein Unfall gewesen war …
Was war, wenn Mr. Furgan mit Sondra gesprochen hatte, wenn er irgendetwas gesagt oder getan hatte, was ihn in ihren Augen zu einer eindeutigen Gefahrenquelle gemacht hatte, die so schnell wie möglich beseitigt werden musste?
Jessamy lief eine Gänsehaut den Rücken hinunter, als sie sich plötzlich an etwas erinnerte, das sie längst vergessen hatte: Sie selbst hatte Sondra damals in aller Unschuld erzählt, dass Mr. Furgan davon überzeugt war, noch nie von ihr und ihrer Bewerbung um Jessamys freies Zimmer gehört zu haben. Und kurz darauf war der arme Mann tödlich verunglückt ... Hatte Sondra hier vielleicht ihre Finger im Spiel? Hatten sie und ihre Komplizen Mr. Furgan zum Schweigen gebracht?
Aber wenn das stimmt, dann bin ich ja schuld an seinem Tod! dachte Jessamy entsetzt.
Erneut kam ein großer Zorn über sie und für einen kritischen Augenblick schwankte sie in ihren Grundfesten und war schon fast dazu bereit, ihren gerade gefassten Entschluss wieder über Bord zu werfen und doch noch zu Captain Dakall zu gehen, die ganze Sache zu melden, Sondra anzuzeigen und der Gerechtigkeit ihren Lauf zu lassen. Denn wenn irgendjemand es verdient hatte, an die Wand genagelt zu werden, wie Chevan es ausdrückte, dann war es Sondra. Und überhaupt …
Aber dann war dieser Augenblick wieder vorüber und Jessamys plötzlich aufgeflammter Zorn sank in sich zusammen wie ein ausgebrannter Scheiterhaufen. Sie war einfach keine Denunziantin, das war das Problem. Ob Sondra es nun verdient hatte oder nicht, Jessamy brachte es einfach nicht über sich, sie in ein Arbeitslager oder vor ein Erschießungskommando oder wohin auch immer zu bringen.
Sie empfand gerade jetzt nicht die leiseste Sympathie für die Allianz, aber sie hatte immerhin ein ganzes Jahr lang mit einer möglichen Parteigängerin dieser Truppe unter einem Dach gewohnt, mit ihr an einem Tisch gesessen, mit ihr gelacht, mit ihr gelebt – das alles konnte Jessamy nicht einfach unter den Teppich kehren und so tun, als wäre es nie gewesen!
Oh, wenn sie doch nur verschwinden würde! dachte Jessamy wild. Wenn ich doch nur nach Hause kommen könnte und sie wäre einfach weg, auf und davon, über alle Berge!
Aber das war natürlich reines Wunschdenken und brachte sie keinen Schritt weiter. Sondra würde nicht einfach von selbst verschwinden. So unangenehm es auch war, es würde Jessamy nichts anderes übrig bleiben, als dafür zu sorgen, dass sie verschwand.
Wieder dachte sie kurz an Zev, der sich angeboten hatte, ihr diese Unannehmlichkeit abzunehmen.
Wenn ich ihn jetzt anrufen könnte, dann würde ich ihn darum bitten, es tatsächlich zu tun, dachte Jessamy.
Aber es war natürlich undenkbar, von der Warbride aus private Anrufe zu machen oder hier auch nur welche zu empfangen. Nicht einmal der Tod eines nahen Angehörigen erlaubte eine Ausnahme von dieser ehernen Regel – wie Jessamy aus eigener Erfahrung nur allzu gut wusste.
Sie würde sich also an ihre ursprüngliche Strategie halten müssen – mit einer kleinen, aber signifikanten Abweichung. Denn natürlich wäre es in Wirklichkeit purer Wahnwitz, Sondra bei ihrem nächsten und hoffentlich letzten Wortwechsel einfach ins Gesicht zu sagen, wofür sie sie hielt. Jessamy war bestimmt kein Feigling, aber sie war auch nicht lebensmüde. Sie würde sich auf gar keinen Fall mit einer fanatischen Horde von selbsternannten Revolutionären anlegen und sich damit automatisch selbst zum Abschuss freigeben.
Jessamy seufzte schwer. Alles, was sie in diesem Augenblick wollte, was sie sich leidenschaftlich wünschte, war, wieder ein ganz normales Leben führen zu dürfen. Sie sehnte sich mit jeder Faser ihres Seins nach Ruhe, nach Sicherheit, nach Geborgenheit, nach allem, was sie früher besessen, aber wahrscheinlich nie genug gewürdigt hatte, bevor Sondra Rakosh auf ihrer Türschwelle aufgetaucht und ihre unkomplizierte kleine Welt völlig aus den Fugen geraten war.
Nein, Sondra durfte nie erfahren, dass sie Bescheid wusste. Jessamy würde einfach den Weg des geringsten Widerstandes gehen und ihr unter einem Vorwand den Laufpass geben – und an Vorwänden fehlte es ihr nun wahrhaftig nicht!
Ich werde ihr einfach sagen, dass sie gehen muss, weil sie die Nivess genommen hat. Und sie muss sofort gehen. Ich dulde sie nicht einen Tag länger in meiner Wohnung als unbedingt nötig. Und das sage ich ihr ins Gesicht, so oder so!
Zev hat ganz Recht: Ich schulde dieser Frau nichts, gar nichts. Ich werde sie nicht anzeigen, nein, aber ich werde sie vor die Tür setzen und damit Schluss.
Und wenn ich das hinter mich gebracht habe, wenn ich sie endlich los bin, wird alles wieder so sein, wie es früher war … na ja, nicht ganz wie früher, aber immerhin. Wir werden endlich zusammen sein, Zev und ich, und wir werden glücklich sein. Alles wird gut! Alles und jedes wird gut!
Eine goldene Minute lang fühlte sich Jessamy wie erlöst – endlich hatte sie diese quälende Unentschlossenheit hinter sich gelassen, endlich wusste sie ganz genau, was sie zu tun hatte. Doch leider war diese Hochstimmung nur flüchtiger Natur, denn allzu schnell überkam sie das bohrende Gefühl, dass sie irgendetwas übersehen hatte, etwas Wichtiges.
Und egal, was sie am Tag Z zu Sondra sagen oder auch nicht sagen würde, es würde auf jeden Fall in einem Streit münden, denn egal, was Sondra und ihre Rebellenfreunde eingefädelt oder auch nicht eingefädelt hatten, Jessamy war auf jeden Fall im Begriff, ihre Pläne zu sabotieren, und das würde ihnen mit Sicherheit gar nicht gefallen. Und plötzlich hatte Jessamy wieder dieses unangenehme Kribbeln in der Magengrube, das lästigerweise immer dann in Erscheinung trat, wenn sie mit vollen Segeln in unbekannte Gewässer steuerte – und damit waren nicht unbedingt ihre Ausflüge mit der Nivess gemeint!
Und so kam es, dass sie wahrscheinlich das einzige Besatzungsmitglied war, das nicht in das unterschwellige, aber unüberhörbare Gemurre und Gestöhne einstimmte, das sofort ausbrach, als der Captain am Freitagmorgen mit einem sardonischen Funkeln in den Augen verkündete, dass die Warbride auf Befehl von Großadmiral Thrawn an einem Flottenmanöver im benachbarten Saatoo-System teilnehmen sollte, weshalb alle beantragten und ja, auch alle schon genehmigten Urlaube mit sofortiger Wirkung gestrichen waren, denn …
„… denn ich bin sicher, Sie alle sind sich dieser Ehre bewusst und werden trotz der belanglosen kleinen Unannehmlichkeit, die das für Sie persönlich bedeuten mag, wie immer Ihr Bestes geben", schnarrte Dakall und erdolchte mit einem schnellen kalten Blick alle Anwesenden, deren Gesichter unklugerweise verrieten, dass sie sich dieser Ehre nicht bewusst waren und deshalb auch keine große Lust verspürten, ihr Bestes zu geben.
Doch Jessamy war im Gegensatz zu ihren Kollegen zum ersten Mal in ihrem Leben froh über den „bis auf weiteres" hinausgezögerten Urlaub, weil Tag Z damit in eine beruhigend unbestimmte Entfernung verschoben wurde ...
Aber leider war sie nicht die Einzige, die in dieser Verzögerung einen deutlichen Wink des Schicksals sah, denn da war auch noch Chevan, der inzwischen die enervierende Angewohnheit angenommen hatte, ungefähr siebzehnmal am Tag zu fragen, ob Jessamy schon beim Captain gewesen war beziehungsweise, wann sie vorhatte, endlich zu ihm zu gehen. Er war sehr gekränkt, als sie nach rund einer Woche die Beherrschung verlor und ein ziemlich dickes Bündel Computerausdrucke nach ihm warf …
„Dir ist schon klar, dass das rein theoretisch unter die Rubrik ,tätlicher Angriff auf einen vorgesetzten Offizier' fällt, ja?" sagte er beleidigt, als er würdevoll durch das enge Büro stakste und die überall verstreuten Papiere wieder aufklaubte.
„Tut mir Leid, tut mir wirklich Leid, aber warum musst du mich auch dauernd damit löchern?" rief Jessamy aufgebracht.
„Ich hab's nur gut gemeint, Sorkin. Schließlich geht mich die Sache ja eigentlich gar nichts an. Es könnte mir völlig schnuppe sein, was aus dir wird."
„Ja, genau – es geht dich wirklich nichts an! Also warum zum Henker mischst du dich ständig ein?" schnappte Jessamy zurück.
„Und das ist jetzt der Dank!" sagte Chevan elegisch. „Ich mache nachts kein Auge mehr zu vor lauter Sorgen um dich – und du ..."
Er schüttelte traurig den Kopf, rückte das verrutschte Rangabzeichen auf seiner Jacke wieder in Position und polierte es zärtlich.
Doch Jessamy kaufte ihm diese zur Schau gestellte Seelengröße nicht ab. Stattdessen fragte sie sich nicht ganz zu Unrecht, ob Chevans angebliche Schlaflosigkeit nicht eher der Sorge um sein eigenes Wohlergehen entsprang. Befürchtete er etwa, durch sie in Dinge hineingezogen zu werden, mit denen er nichts zu tun haben wollte?
Aber ich Dummkopf musste ihm ja unbedingt alles auf die Nase binden – das hab ich jetzt davon! wütete sie innerlich.
Für den Rest des Tages war die Stimmung zwischen den beiden Kontrahenten ziemlich frostig. Chevan war eingeschnappt und Jessamy immer noch viel zu aufgeregt und vielleicht auch zu stolz, um einzulenken. Als ihre gemeinsame Schicht beendet war, marschierte Chevan sehr verschnupft und grußlos auf und davon – und Jessamy wurde von bösen Vorahnungen heimgesucht.
Aber wirklich Angst bekam sie erst am nächsten Morgen, als Chevan sich gleich nach seiner reichlich verspäteten Ankunft hinter seiner Computerkonsole verschanzte und es krampfhaft vermied, in ihre Richtung zu sehen.
Und als nur Minuten später eine zehn Zoll große Version von Dakalls steinernem Gesicht in einer Ecke ihres Bildschirms erschien und donnerte: „Lieutenant Sorkin! In mein Büro! Sofort!", da wusste sie ganz genau, warum Chevan ihr nicht mehr in die Augen sehen konnte …
„Wie konntest du mir das antun?!"
Chevan weigerte sich immer noch, ihrem anklagenden Blick zu begegnen, raffte sich aber wenigstens zu einer Rechtfertigung für den ultimativen Vertrauensbruch auf.
„Ich hab's dir ja gleich gesagt: Diese Geschichte ist einfach eine Nummer zu groß für dich – und für mich auch", murmelte er.
„Ich wäre nie hinter deinem Rücken zu Dakall gelaufen. Niemals!"
„Ich hab's nur gut gemeint", verteidigte sich Chevan. „Und auch wenn du es jetzt noch nicht einsiehst: Es ist das Beste so!"
„Ja. Das Beste für dich!" erwiderte Jessamy bitter und ging hinaus, ohne seine Antwort abzuwarten.
Es war das Ende ihrer Freundschaft und sie wussten es beide …
Jessamy erreichte Dakalls Büro gerade noch rechtzeitig genug, um Commander Rellnik darin verschwinden zu sehen. Offenbar hatte der Captain entschieden, die Angelegenheit zwar nicht vor einem ganz großen Publikum, aber auch nicht unter vier Augen mit ihr auszufechten. Jessamy, die den 1O für relativ menschlich hielt, war erleichtert – wenn Rellnik dabei war, konnte es so schlimm nicht werden, oder?
Aber als nach ihrem schüchternen Klopfen die wabenförmige Metalltür erneut zischend aufschnellte und sie Dakall drohend wie eine grollende Gewitterwolke auf sich zu schweben sah, revidierte sie diese Meinung schnell wieder.
„Setzen!" bellte der Captain.
Jessamy sank fügsam auf den nächstbesten Stuhl und machte sich auf das Schlimmste gefasst, obwohl Rellnik, der sich diskret im Hintergrund hielt, ihr ermutigend zulächelte.
Dakall ließ sich auf seiner Schreibtischkante nieder, was ihm erlaubte, auf sie herunterzusehen.
Jessamy, die sich dadurch sehr unterlegen und ausgeliefert fühlte – ein Effekt, der zweifellos auch beabsichtigt war! –, dachte vage, dass der Captain mit seiner vornüber gebeugten Haltung und seinem langen hageren Gesicht, dem ein Ausdruck permanenter Missbilligung schon angeboren zu sein schien, an einen magenkranken Geier mit extrem schlechter Laune erinnerte. Zumindest musterte er sie mit derselben sauertöpfischen Abneigung, die ein magenkranker Geier für ein besonders unappetitliches Stück Aas in einem fortgeschrittenen Stadium der Verwesung empfinden mochte.
„Als erstes, Lieutenant, muss ich Ihnen sagen, wie enttäuscht ich bin, dass Sie nicht von selbst den Weg zu mir gefunden haben."
Dakall legte eine kleine Kunstpause ein, um Jessamy Zeit zu lassen sich auszumalen, wie tief der Grad seiner Enttäuschung war.
„Zum Glück haben Sie Vorgesetzte, die so eine Situation nicht nur viel besser einschätzen können als Sie, sondern die auch noch dazu bereit sind, Ihnen eine helfende Hand zu reichen und Ihnen den ersten Schritt abzunehmen. Dafür sollten Sie wirklich dankbar sein, Sorkin."
Jessamy rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her und entschied in einem spontanen Anfall von Rachsucht, dass diese helfende Hand ziemlich bald herausfinden würde, wie dankbar sie war.
Dakall kam jetzt langsam, aber sicher in Fahrt.
„Dass ich Ihr Verhalten in dieser Angelegenheit unmöglich … nein! … unglaublich finde, versteht sich ja wohl von selbst. Wir haben Krieg! Die Rebellion breitet sich mit jedem Tag weiter aus. Und obwohl die Allianz uns zahlen- und waffenmäßig immer noch weit unterlegen ist, hat sie doch schon einige Siege zu verbuchen – entscheidende Siege, Sorkin!" fauchte er, als wäre Jessamy höchstpersönlich für diese Schmach verantwortlich. „Und ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, was für ein Schlag die Zerstörung des Todessterns für unsere Seite war oder welche Rolle das ausgetüftelte Spionagesystem der Rebellen dabei gespielt hat.
Unter diesen Umständen kann ich beim besten Willen nicht verstehen, was zum Teufel eigentlich in Ihrem Kopf vor sich geht. Wie konnten Sie nur so leichtsinnig sein? Wie konnten Sie eine derart wichtige Information so lange zurückhalten?"
„Aber ich wusste doch gar nicht … Ich weiß nicht mal jetzt genau, ob es überhaupt stimmt, Sir", stammelte Jessamy.
„Es ist völlig irrelevant, ob es stimmt oder nicht! Sie hätten es mir auf jeden Fall melden müssen und das so schnell wie möglich. Wirklich, Sorkin, wenn ich Sie nicht bis in die Fingerspitzen kennen würde, dann würde ich mir jetzt ernsthaft Gedanken über Sie machen.
Aber so, wie die Dinge liegen, ist das überflüssig. Sie sind nicht aus dem Holz geschnitzt, aus dem man Rebellen macht, so viel steht fest – obwohl Sie eindeutig einen Hang zur Insubordination haben, das muss endlich mal ganz klar ausgesprochen werden!"
Jessamy traute ihren Ohren nicht. „Insubordination?!" keuchte sie ungläubig.
„Unterbrechen Sie mich gefälligst nicht, Sorkin. Immerhin …"
„Aber das ist einfach nicht fair, Sir! Ich habe doch noch nie …"
„Immerhin würden es die meisten Senioroffiziere schon als Insubordination ansehen, wenn ein naseweiser Lieutenant, der noch nicht mal trocken hinter den Ohren ist, einfach nicht den Schnabel halten kann und ihnen ständig ins Wort fällt", sagte Dakall eisig.
„Und das ist nur einer von vielen Punkten, die mir bei Ihnen immer wieder auffallen, Sorkin. Sie haben grundsätzlich ein Wenn und Aber auf Lager, Ihre Unpünktlichkeit ist schon fast chronisch und Sie liefern schlampige Arbeit, wenn Sie sich langweilen – und Sie scheinen sich in letzter Zeit ziemlich oft zu langweilen, junge Dame. Es fehlt Ihnen einfach rundherum an Disziplin." Typisch Frau! fügte sein Blick hinzu, auch wenn er es nicht laut aussprach.
Jessamy, am Boden zerstört angesichts von so viel Ungerechtigkeit, brachte keinen Mucks mehr heraus. Aber Dakall war noch nicht fertig und feuerte eine letzte tödliche Salve auf die bereits in Auflösung begriffenen feindlichen Linien ab.
„Wenn Sie tatsächlich so etwas wie eine Karriere innerhalb der Flotte anstreben, dann werden Sie sich mehr Mühe geben müssen – sehr viel mehr Mühe, Sorkin. Auf meinem Schiff fällt niemandem eine Beförderung einfach so in den Schoß. Ich erwarte von jedem Mitglied meiner Crew hervorragende Leistungen und eine tadellose Führung. Und wenn Sie nicht dazu bereit sind, beides zu bringen, dann haben Sie hier keine Zukunft – weder auf meinem Schiff noch auf irgendeinem anderen. Sie können sich darauf verlassen, dass ich Sie im Auge behalten werde. Mehr habe ich zu diesem Thema im Augenblick nicht zu sagen.
Was nun Ihre sogenannte Mitbewohnerin angeht, so muss diese Angelegenheit selbstverständlich sofort an unsere Spionageabwehr weitergeleitet werden. Die zuständige Nachrichtendienststelle sitzt auf Vardiss. Commander Rellnik bringt Sie hin."
„Jetzt gleich?! Sir?" fügte Jessamy gerade noch rechtzeitig hinzu. (Begreiflicherweise stand ihr im Augenblick nicht unbedingt der Sinn nach irgendwelchen Ehrenbezeugungen für den grausamsten, tyrannischsten und niederträchtigsten Captain, der jemals einen armen, wehrlosen kleinen Lieutenant völlig grundlos in der Luft zerrissen hatte.)
Dakall, der trotz ihrer Geistesgegenwart Meuterei witterte, beugte sich noch ein wenig mehr vor. „Ja, Sorkin, jetzt gleich – oder haben Sie etwas dagegen?" fragte er lauernd.
„Nein, Sir", wisperte Jessamy. (Sie wusste, wann sie besiegt war.)
„Gut", schnurrte Dakall. (Er wusste, wann er gewonnen hatte!) „Wegtreten! Commander?" Er gab dem 1O einen herrischen Wink.
Und noch bevor Jessamy wusste, wie ihr geschah, war Rellnik an ihrer Seite und dirigierte sie mit sanfter Gewalt hinaus, was völlig in Ordnung war, denn sie war so erschüttert, dass sie kaum noch wusste, wo oben und unten war, so dass es fraglich war, ob sie die Tür von alleine wiedergefunden hätte.
Tatsächlich war sie so durcheinander, dass sie um ein Haar vergessen hätte zu salutieren – oder revoltierte einfach nur ihr Unterbewusstsein gegen diesen vorschriftsmäßigen Gruß? Aber der Commander erinnerte sie mit einem dezenten kleinen Knuff in den Rücken an die elementarste Geste militärischer Etikette. Und dann standen sie plötzlich draußen auf dem Gang vor Dakalls Büro und das Elend war überstanden. Vorläufig.
„Kommen Sie, Sorkin", sagte Rellnik freundlich.
Er hörte niemals auf, ermutigend zu lächeln. Er lächelte, während er Jessamy in den Hangar eskortierte und in ein Shuttle setzte, und er lächelte auch auf dem mehrstündigen Flug nach Vardiss praktisch ununterbrochen.
Er lächelte immer noch, als sie schließlich auf dem Dach eines riesigen festungsartigen Gebäudes aus grauem Permabeton landeten und von einem bis an die Zähne bewaffneten Trupp durch ein undurchdringliches Dickicht aus Sicherheitsabsperrungen geschleust wurden. Er lächelte, bis er Jessamy an einem von dicken Panzerglaswänden umgebenen Empfangspult ablieferte wie ein Eilkurier ein Expresspaket.
„Ich hole Sie nachher wieder ab und bringe Sie auf die Warbride zurück", sagte er, als ein sehr junger und nervöser Mann in einer schmucklosen olivgrünen Uniform auf sie zuschoss, um Jessamy seinerseits abzuholen.
Vielleicht sah Rellnik ihr an, dass sie sich gerade fragte, wie dieses „Nachher" für sie aussehen würde, denn er fügte aufmunternd hinzu: „Jetzt lassen Sie mal nicht die Flügel hängen, Sorkin. Machen Sie einfach nur Ihre Aussage, dann kommt alles wieder ins Lot, Sie werden schon sehen. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird – nicht mal auf der Warbride."
Jessamy nickte kläglich (und ziemlich ungläubig) und ließ sich von dem olivgrünen Jüngling abführen. Nach einer längeren Wanderung durch einen Irrgarten aus grell beleuchteten Korridoren endeten sie schließlich in dem deprimierendsten Wartezimmer, das Jessamy je gesehen hatte. Aber auch das war in Ordnung – das trostlose Grau in Grau passte wunderbar zu ihrem allgemeinen Weltschmerz!
„Bleiben Sie hier. Ich komme gleich wieder", sagte der Olivgrüne fahrig und entschwand.
Auf dem harten Stuhl zusammengekauert, der am weitesten von der Tür entfernt war, versank Jessamy in einer zermürbenden Mischung aus Lampenfieber und Melancholie.
Sollte sie diesen Geheimdienstleuten jetzt wirklich alles erzählen, sollte sie ihnen Sondra einfach auf einem silbernen Teller servieren?
Wenn ich das tue, wird es mich mein Leben lang verfolgen, dachte Jessamy in einem selten klaren Augenblick der Erkenntnis. Freiwillig oder gezwungen, es wird mich für den Rest meines Lebens verfolgen, dass ich sie ans Messer geliefert habe, ich und niemand sonst. Es wird nie wieder so sein wie früher. Nie wieder!
Und wenn sie Sondra nicht ans Messer lieferte? Wenn sie die Wucht ihrer Anklage einfach abschwächte, indem sie an den entscheidenden Stellen gewisse Einzelheiten unter den Tisch fallen ließ, so dass Sondra am Ende dastehen würde wie ein Unschuldslamm und sie selbst wie eine komplette Närrin mit Verfolgungswahn, was dann? Was würde Dakall tun, wenn Sondra mit ihrer Hilfe davonkam und er es herausfand? Und dass er es herausfinden würde, war mehr als nur wahrscheinlich – Jessamy traute es ihm durchaus zu, dass er nachhakte, dass er spätestens nach ihrer Rückkehr hier anrief und sich nach Art und Umfang ihrer Aussage erkundigte, weil er ihr nicht mehr traute.
Und wenn er erfuhr, dass Jessamy auf Vardiss nur ein Bruchteil von dem erzählt hatte, was Chevan ihm erzählt hatte … tja, dann würde die Hölle selbst über Jessamy hereinbrechen! War Sondra das wert? War ein reines Gewissen das wert?
Nein, dachte Jessamy mit dem sinkenden Gefühl, das jeden Menschen in dem Augenblick überkam, in dem er erkennen musste, dass sein Selbsterhaltungstrieb viel stärker war als seine edleren Regungen. Nichts ist das wert, gar nichts!
Entweder Sondra oder sie, entweder Verrat oder Untergang …
Hatten sich Chevans Gedanken auf dieser Schiene bewegt, hatte auch er nur noch diese eine Alternative vor sich gesehen, als er mit fliegenden Fahnen zum Captain gelaufen war?
Jessamy konnte ihn jetzt beinahe verstehen – was natürlich nicht hieß, dass sie ihm seine Treulosigkeit je verzeihen würde! Denn im Gegensatz zu ihr selbst hatte Chevan die beneidenswerte Möglichkeit offen gestanden, sich einfach aus allem herauszuhalten. Aber stattdessen hatte er es vorgezogen, sich einzuschalten und sein Wissen auszuposaunen – wofür sie jetzt bezahlen musste.
Jessamy stöhnte laut auf. Wie war sie nur in eine so ausweglose Situation hineingeraten?
Ich würde alles dafür geben, alles, wenn ich jetzt einfach die Zeit zurückdrehen könnte! Um ein ganzes Jahr … um zwei, drei Wochen … um einen einzigen Tag, dachte sie unglücklich. Oh Gott, kannst du die Uhr nicht wenigstens um vierundzwanzig Stunden zurückdrehen? Nur dieses eine Mal? Mir zuliebe?
Aber ihr Stoßgebet verhallte ungehört. Gott war offensichtlich anderweitig beschäftigt oder hielt eine persönliche Intervention durch die kurzfristige Außerkraftsetzung des Raum-Zeit-Kontinuums für überflüssig …
Sogar ER lässt mich im Stich!
Jessamy überließ sich einer Welle von Selbstmitleid, die erst wieder verebbte, als der olivgrüne Knabe hereingestolpert kam, was sie ablenkte, aber nicht lange genug.
„Colonel Breghala will Sie jetzt sehen. Los, los, kommen Sie schon, er hat viel zu tun und eigentlich gar keine Zeit für Sie", kläffte er aufgeregt.
Und schon wurde Jessamy von ihrem übereifrigen jungen Wachhund aus dem Wartezimmer hinaus- und den Gang hinuntergetrieben wie ein widerspenstiges Schaf in seinen Pferch.
„Der Colonel muss in einer halben Stunde zu einer wichtigen Konferenz, also fassen Sie sich bloß kurz", zischte der Jüngling ihr noch ins Ohr, als er sie am anderen Ende des Korridors in ein riesiges Büro voller teurer Möbel aus Glas und Stahl und edlem schwarzen Taurückenleder hineinscheuchte.
Jessamy sah sofort den berühmten Silberstreif am Horizont. Vielleicht drückte Gott ja doch noch ein Auge zu und regelte die Dinge auf SEINE Weise. Wenn dieser Colonel Sowieso gleich weg musste und keine Zeit oder keine Lust hatte, sich mit einem Niemand wie ihr aufzuhalten ...
Aber dann drehte sich der hochgewachsene grauhaarige Mann, der am Fenster stand und ihr bis jetzt den Rücken zugekehrt hatte, um und richtete zugleich mit seinem scharfen Raubvogelprofil seine geballte Aufmerksamkeit auf sie wie eine Linse einen gebündelten Lichtstrahl.
Und Jessamy konnte förmlich fühlen, wie ihre letzte Hoffnung unter diesem intensiven Blick zusammenschrumpfte und zu einem Häufchen Asche zerfiel. Vor diesem Mann konnte man nichts verbergen – schon gar nicht, wenn man ein Niemand war wie sie ...
„Willkommen auf Vardiss, Lieutenant Sorkin. Nehmen Sie doch Platz", sagte der Colonel mit einer einladenden Handbewegung zu dem Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch.
Jessamy sank mit einem matten "Danke, Sir" auf ihren Platz und wünschte sich weit, weit weg ...
Fortsetzung folgt …
