Früchte

Dime


Ein Mann betrachtete mit vagem Unglauben an einem Stand auf dem Borough Market einen Pilz, der größer als sein Kopf war. "Riesenbovist...?" In der Tat riesig. Er gab ein belustigtes Schnauben von sich, welches direkt in ein offenes Lachen überging, als sein Blick zur nächsten Marktkiste weiterwanderte, deren Inhalt durch ein hilfreiches Schild als "Shittake-Pilz" ausgewiesen wurde – ein "Mist-nehm-Pilz" also.

Er wanderte langsam an der seltsamen Ansammlung von Pilzen vorbei in Richtung der Früchte. Er hatte Glück, seine Lieblingsfrüchte hatten noch Saison. Vorsichtig prüfte er ein besonders vielversprechendes Exemplar mit seinen behandschuhten Fingern, führte es dann zur Nase und atmete einen tiefen Zug fruchtige Flussluft ein.

"Mmmmh."

Drei Minuten später saß der Mann friedlich mit einer Tüte voll wunderschöner, reifer Pflaumen auf einer Balustrade am Fluss. Er war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, den Anblick seiner Pflaumen noch etwas länger zu genießen und dem Verlangen, sie endlich zu kosten, als er durch die Ankunft eines zweiten Mannes abgelenkt wurde. Dieser ließ sich mit einer verdächtig bekannt aussehenden Tüte in den Händen mit einem zufriedenen "Ah." neben ihm auf die Balustrade sinken.

Der erste Mann beobachtete mit einer Mischung aus Irritation und Neugier, wie der Mensch neben ihm, offenbar ein ebenso großer Obstliebhaber wie er selbst, seine Tüte öffnete und die Nase für einen tiefen, hörbar befriedigenden Atemzug hineinsteckte. Eine schlanke, blasse Hand glitt aus ihrem eleganten Handschuh und schlüpfte in der Öffnung der Papiertüte. Als sie wieder zum Vorschein kam, hielt sie einen glänzenden, perfekten grünen Apfel.

Von seiner Warte aus konnte der Mann mit den Pflaumen jedes Detail hören und riechen, als der Andere in seinen Apfel biss. Der Geruch des angebissenen Apfels war klar und frisch, doch die den Akt begleitenden Geräusche waren geradezu unanständig. Zunächst war da das erwartete anfängliche Knacken, als die Zähne durch die herbe, straffe Schale in das Fleisch eindrangen, während das Aroma sich entfaltete. Aber dann! Gleich nach diesem ersten Biss folgte ein Stöhnen, das ein schwuler Mann sich in seinen wildesten Fantasien nicht hätte vorstellen können, dann einige Kaugeräusche und schließlich, Jesus-Maria-und-Josef, ein schnelles, spritziges Schlürfen, um ein wenig Saft aufzufangen, welcher im Begriff war, am spitzen Kinn des Mannes herunterzulaufen.

Der Mann konnte nicht anders – er starrte offen. "Guter Apfel, was?"

Nicht im Geringsten verlegen ob seiner Vergehen an dem unschuldigen Apfel wandte der jüngere Mann sich mit überlegenem Gesichtsausdruck zu ihm um und stellte ruhig fest: "Äpfel sind offensichtlich die Kronjuwelen der Obstnahrungskette."

Eher amüsiert als beleidigt zog der erste Mann eine Pflaume aus seinem Beutel und erwiderte: "Da muss ich Ihnen widersprechen. Nichts, und ich wiederhole: Absolut gar nichts schmeckt besser als eine reife, sonnengewärmte Pflaume." Er untermalte seine Worte, indem er die Spitze seiner Pflaume abbiss, sie kurz auf Würmer überprüfte und dann eifrig das restliche Fruchtfleisch vom Kern abtrennte und diesen beiseite warf.

Seinen Begleiter vergaß er beinahe vollständig als der süße, klebrige Saft auf seine Zunge traf. "Mmmh!"

Ein leises Keuchen erinnerte ihn daran, dass er sich in Gesellschaft befand die genießerisch geschlossenen Augen öffneten sich wieder einen Spalt breit. Sie öffneten sich noch weiter als sie des jungen Mannes gewahr wurden, der seinen Apfel jetzt in eisernem Griff in einer Hand hielt, die davon abgesehen kraftlos in seinen Schoß gesunken war. Silberblaue Augen beobachteten ihn offen fasziniert. "Mann, ich habe noch nie jemanden eine Pflaume so genießen sehen."

"Ich schätze, uns beiden sind die schönen Dinge im Leben zu lange vorenthalten worden", vermutete der erste Mann.

"Wohl wahr", sagte sein Begleiter inbrünstig. Er schürzte nachdenklich die Lippen und nahm schließlich einen weiteren Bissen von seinem Apfel. "Draco Malfoy", sagte er abrupt und streckte dem anderen seine Hand entgegen.

"Bucky", erwiderte der, "Bucky Barnes." Sie schüttelten einander die Hände und trennten sich dann wieder von einander.

Draco und Bucky starrten einander einen Moment lang an. Ihre Früchte vergaßen sie beinahe angesichts des unglaublich lächerlichen Namens ihres Gegenübers.

"Okay", entschied Bucky schließlich und widmete erneut seine volle Aufmerksamkeit seiner Tüte Pflaumen. Er wählte mit Bedacht eine weitere aus und gab sich wollüstig dem Geschmack der perfekten Frucht auf seiner Zunge hin, dieser hinreißenden Mischung aus weicher, glatter, feuchter Süße auf seinen Lippen und zwischen seinen Zähnen und ach, dieser herrliche Duft!

Draco biss derweil erneut in seinen Apfel. Er ließ seine Hände gedankenversunken über die glatte Oberfläche der rundlichen Apfelbacken gleiten. Doch noch während er nahezu vor Entzückung bebte konnte er den Blick nicht von Bucky abwenden.

Das wusste Bucky, da es ihm nicht anders erging.

"Ich hatte seit Jahren keine Pflaumen mehr gegessen", vertraute Bucky ihm an. "Dann hatte ich endlich wieder Gelegenheit, welche zu kaufen – und es gab einen Notfall und ich musste meine Pflaumen zurücklassen." Allein der Gedanke daran reichte aus, dass er wieder spürte, wie ihm der Magen in die Hose rutschte, während ihm plötzlich der Boden unter der kleinen, feinen, sicheren Welt weggezogen wurde, die er sich so mühsam aufgebaut hatte.

"Mann", sagte der Jüngere mit mitfühlenden, großen Augen, "das ist übel!"

Sie hielten eine Schweigeminute ab, um der Tragödie gewaltsam entwendeter Früchte gehörig Respekt zu zollen. Dann fasste sich Draco ein Herz und erzählte seinerseits von seinem Lieblingsobst. "Äpfel hatte ich immer. Als ich klein war und mein Vater mit mir schimpfte, gab meine Mutter mir oft einen Apfel, um mich aufzumuntern. Als ich mich angesichts schrecklicher Gefahren in der Schule stark und unbeeindruckt geben musste, half mir ein Apfel, mich nicht unterkriegen zu lassen. Und als…" Ein Gewitter verdüsterte das ansehnliche junge Gesicht. "Als meine Eltern zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurden, wusste ich, dass man mir zumindest meine Äpfel nicht nehmen würde."

Bucky schauderte beim Gedanken an einen lebenslänglichen Gefängnisaufenthalt. "Niemand sollte so weggesperrt werden", stellte er fest.

Draco stieß einen langen, traurigen Atemzug aus. "Sie haben sich das selbst zuzuschreiben."

"Ich kenne ihre Geschichte nicht, und deine auch nicht, aber so oder so: Gefängnisse sind schrecklich."

"Du hast ja keine Ahnung", knirschte Draco verbittert.

Das ließ wiederum Buckys Gesicht finster werden. "Ein wenig", widersprach er.

"Es ist kein normales Gefängnis", eröffnete Draco ihm zögerlich. "Wo man sie hingesteckt hat. Es ist… Folter, gewissermaßen."

"Wie gesagt", beharrte Bucky mit zunehmend düsterem Gesicht, "ich kann mir ganz gut vorstellen, wie das so ist." Seine behandschuhte linke Hand zog sich ums obere Ende seiner Papiertüte zusammen und er zwang sich zur Ruhe, ehe er seine geliebten Pflaumen verletzte. Es funktionierte nur gerade so weit, dass die Pflaumen sicher waren.

Dracos Nasenflügel bebten, doch dann zwang auch er sich sichtlich zur Beherrschung. "Ich wollte dich nicht beleidigen", sagte er steif. Er schaute Bucky dabei fest in die Augen.

Bucky erwiderte den reservierten Blick mit mörderisch funkelnden Augen. Urplötzlich fragte sich Draco, was dieser Mann wohl getan haben mochte, dass man gerade ihn eingesperrt und gefoltert hatte.

Doch bevor Draco etwas Dummes tun und womöglich seine eigene Bewährung gefährden konnte senkte Bucky den Blick wieder zu seinen Pflaumen. Er öffnete seine Tüte erneut, wählte sein nächstes Ziel aus und vernichtete es gnadenlos. Danach sah er reumütig auf den Pflaumensaft, der an seinen Fingern klebte. "Tut mir leid. Das hast du nicht verdient."

Draco macht sich keine Illusionen, dass der Fremde ihn meinen könnte.

"Wusstest du Bescheid über… deine Eltern?", fragte Bucky, neugieriger als ihm selbst das lieb war. Der Apfeljunge neben ihm schien nicht grade der Typ Mafiasohn.

"Oh, ich wusste davon." Bitterer Selbsthass schwang in den nächsten Worten des Blonden mit. "Ich wusste davon, aber ich bin mit ihrer Philosophie der Überlegenheit des reinen Blutes groß geworden und bin blind gefolgt, bis es mich beinahe umbrachte."

"Reines Blut." Jegliche Empathie war mit einem Schlag aus Buckys Stimme verschwunden. "Du warst ein Faschist?"

"Mehr oder weniger?" Draco war zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt um zu bemerken, dass sich neben ihm am Flussufer sein höchst persönlicher Untergang zusammenbraute. "Ich meine, ich habe selbst nie jemanden umgebracht, aber ich…" Er ließ seinen Apfel in seinen Schoß sinken und spielte mit dem Stiel. "Ich habe einige Hasspropaganda herumposaunt und eine Menge Leute verletzt."

Er blickte erschrocken auf, als ein großer Schatten auf ihn fiel. Es war Bucky, der seine Pflaumen an seinem vorigen Sitzplatz zurückgelassen hatte und jetzt vor ihm stand, die Hände so fest zu Fäusten geballt dass sie zitterten. "Hydra?", grollte er.

Draco, der sich instinktiv vor der Gefahr zurücklehnte, fiel beinahe von der Brüstung als er heftig den Kopf schüttelte. "Hab von ihnen gehört, aber nein. Eine andere Gruppe von Arschloch-Rassisten."

"Davon gibt es echt zu viele", presste Bucky mit kratziger Stimme hervor. Doch Draco hatte offenbar die richtigen Worte gefunden: Er drehte sich um und kehrte deutlich weniger energisch zu seinem Platz zurück. Ein anderer Mann hätte sich, nachdem die wütende Energie so plötzlich von ihm abgefallen war, vielleicht mit hängenden Schultern und schlurfenden Schritten zurückgezogen; doch dieser König der Raubtiere sah selbst dann noch elegant und gefährlich aus, wenn er schmollend den Rückzug antrat.

Bucky nahm eine weitere Pflaume aus der Papiertüte, die er hastig wieder an sich genommen hatte, und fragte: "Was hat dich umgestimmt?"

Da er nun wusste, wie heftig der Andere auf dieses Thema reagierte, dachte Draco gebührend über seine Antwort nach.

"Es waren mehrere Dinge", entschied er schließlich. "Erstens" – er hielt die gerade apfelfreie Hand hoch und reckte den Daumen – "haben meine Eltern und ihre Verbündeten versucht, einige Kinder zu ermorden, mit denen ich zur Schule ging. Ich hab gerade diese Kinder vielleicht nicht besonders gemocht, aber dennoch..."

Er nahm einen Happs Apfel, um seine Nerven zu beruhigen. "Zweitens" – der Zeigefinger streckte sich – "hat ihr Anführer mir befohlen, meinen Schuldirektor umzubringen und es deutlich gemacht, dass ein Versagen nicht toleriert würde. Mein Pate hat das für mich übernommen, um mich zu schützen, und danach ging alles den Bach runter."

Bucky pfiff anerkennend durch die Zähne. Für ein Schulkind war das in der Tat eine Menge Druck und Trauma.

"Und drittens", schloss Draco während sein Mittelfinger sich zu den anderen beiden gesellte, "hat mich ausgerechnet der Typ, dem ich immer mit Begeisterung die Schuld an all meinen Problemen gegeben und dem ich dank Papas Propaganda mehrfach zu schaden versucht hatte, mich mitten aus einem lodernden Feuer gerettet. Das neigt dazu, die Dinge ins rechte Licht zu rücken."

"Das tut es allerdings", antwortete Bucky, dessen Gedanken zu seinen eigenen Erinnerungen an die Flucht aus einem rasenden Inferno auf den Spuren eines Menschen mit beruhigend breitem Rücken zurückwanderten.

"Hast du damit etwa auch Erfahrung?", fragte Draco zynisch.

Bucky grinste ihn an. "Ein wenig."

"Deine Geschichte macht mich neugierig", sagte Draco langsam, "aber irgendwie habe ich Hemmungen zu fragen."

"Kluger Mann", sagte Bucky finster. "Weiter so."

"Ach jetzt komm schon! Ich habe dir gerade mein Herz ausgeschüttet! Irgendwas kannst du mir doch hoffentlich auch erzählen." Draco würde nie im Leben zugeben, dass er jemals um etwas gebettelt hatte. Allerdings hätte er im Moment kein Detail seines Tonfalls nennen können, das ihn von einem Betteln unterschied.

Überraschenderweise lenkte Bucky ein. "Kurz gesagt: Ich wurde vor langer Zeit von Arschloch-Rassisten entführt, gehirngewaschen und ausgesandt, um unschuldige Leute abzuschlachten. Ich habe beinahe meinen besten Freund umgebracht während er seinerseits versuchte, mich zu retten. Meinen besten Freund, der" – trotz des düsteren Themas brachte er ein sarkastisches Grinsen zustande – "mich schon früher einmal aus einer üblen Lage gerettet und mich durch ein Feuer hindurch in Sicherheit gebracht hatte."

Draco stöhnte. Natürlich konnte Bucky auch diesmal eins draufsetzen. Auch wenn Draco daran zweifelte, dass Buckys Rettung so spektakulär gewesen war wie seine eigene. Denn wie könnte ein Muggel mit einem Besenflug auf dem Besen des Retters der Zaubererwelt persönlich mithalten? Wenngleich Draco das natürlich nicht erwähnen durfte. Das war so unfair.

Von Dracos innerlichem Schmollen bekam Bucky nichts mit und so fuhr er fort: "Und jetzt bin ich auf der Flucht vor der Obrigkeit, weil man mir kürzlich noch einen weiteren Mord in die Schuhe geschoben hat und nicht jeder gewillt ist zu glauben, dass ich nicht freiwillig der Superkiller einer Bande von Arschloch-Rassisten geworden bin."

Draco war von Natur aus blass, doch bei diesen Worten fiel bei ihm endlich der Groschen und er wurde noch bleicher. "Du bist der Winter Soldier."

"Der bin ich", bestätigte Bucky ruhig. Er machte sich keine Sorgen darüber, seine Identität so offen preiszugeben. Heute Abend würde er sowieso aus London abreisen und er hatte das deutliche Gefühl, dass dieser Mann ihn nicht an die Behörden ausliefern würde. Sie waren Seelenverwandte. Langsam nahm Bucky eine weitere Pflaume aus seiner Tüte, untersuchte sie auf Makel oder Wurmlöcher und biss dann herzhaft hinein.

Draco atmete einmal tief durch und rief sich sichtlich zur Ordnung, eher auch er seinen Apfel wieder aufnahm und sich einen stärkenden Bissen gönnte. "Weißt du", sagte er, vorsichtig einen Weg durch das Chaos in seinem Kopf suchend, "wenn du so lange nicht dein Leben leben konntest, wie die M- die Medien das behaupten, dann ist es Zeit, dass du mal was Neues probierst."

Die Papiertüte auf seinen Oberschenkeln balancierend steckte Draco seine freie Hand hinein und brachte einen zweiten strahlenden, perfekten grünen Apfel zum Vorschein. Er hielt ihn Bucky hin.

Bucky vergaß ob des großzügigen Angebots abrupt seinen ganzen Ärger. Er hatte gesehen, wie heilig diesem Mann seine Äpfel waren und er war von der selbstlosen Geste gerührt. Behutsam nahm er den Apfel mit der hohlen Hand an und saß dann einen Moment einfach nur mit dem Apfel in seiner Linken da. Er war sehr hübsch.

Widerstrebend fischte er schließlich aus seiner eigenen Papiertüte eine Pflaume für Draco heraus.

"Das ist nicht nötig", wehrte Draco augenblicklich ab, doch Bucky ließ sich nicht beirren.

Während der seinem Begleiter die Pflaume hinhielt, antwortete er: "Ich weiß. Aber wie du gesagt hast wird es Zeit, dass ich mal etwas Neues ausprobiere." Dracos fragend angehobener Augenbraue begegnete er mit einem traurigen Lächeln. "Die letzten siebzig Jahre lang habe ich den Menschen nichts als Tod und Trauer gebracht. Jemandem stattdessen etwas Schönes zu schenken, das ist… neu. Auf eine gute Art."

"Aber verdiene ich denn Geschenke?" Die Frage hätte lächerlich sein müssen, aber in diesem Moment an der Themse, mit Äpfeln und Pflaumen im Schoß und einem gemeinsamen Berg von Trauma, war sie es kein Bisschen.

Bucky schob Draco die Pflaume energisch entgegen. "Ich möchte glauben, dass wir sie verdienen."

Dracos Hand schloss sich sanft um die Pflaume. Sie war warm, weich und perfekt.


A/N: Konstruktive Kritik und positives Feedback sind wie immer sehr willkommen! : ) (Hinweise auf unrunde Formulierungen oder voll ausgewachsene Übersetzungsfehler ebenso - auch diese Fanfic habe ich wie so Vieles zunächst auf Englisch geschrieben und dann übersetzt.)