XIII.
Devon:
Der Sommer kam spät in diesem Jahr, aber als er kam, war er wundervoll. Lange blaugoldene Tage wurden von einem sanften warmen Ostwind über Delamere hinweggeweht und gingen in milde sternklare Nächte über wie ein endloser Traum. Die Bäume schienen ein intensiveres Grün zu haben als sonst und die Blumen mit einer nie gesehenen Üppigkeit zu blühen.
Doch Zev Gilfoy hatte keine Augen für die Schönheit, die ihn umgab. Nichts konnte die Apathie durchdringen, mit der er unter der riesigen schattenspendenden Sikomura, die den Garten seiner Eltern beherrschte, in einem Liegestuhl hing. Nichts hätte ihm gleichgültiger sein können als der strahlende Sonnenschein. Und wenn er die verschwenderische Pracht der in allen Farben leuchtenden Fenryswurzel-Beete und der fast überquellenden duftenden Rosenrabatten ringsum überhaupt bemerkte, dann allenfalls mit einer matten Verwunderung darüber, dass eine schon längst untergegangene Welt so hartnäckig darauf beharrte, seine abgestumpften Sinne mit einer solchen Fülle an gänzlich unerwünschten Lebenszeichen zu bedrängen.
Die Welt war an einem kalten nassen Sonntagmorgen vor fast genau acht Monaten untergegangen, als Zev durch die Windschutzscheibe seines Gleiters ungläubig auf die rauchgeschwärzte Fassade und die leeren Fensterhöhlen der Wohnung gestarrt hatte, die keine vierundzwanzig Stunden zuvor noch das schillernde Zentrum seines ganz persönlichen Universums beherbergt hatte.
Später konnte er sich nicht einmal mehr daran erinnem, wann und wie er auf dem Parkplatz des Shaalizaar Inns gelandet war. Er wusste nur noch, dass er plötzlich irgendwo dort gesessen hatte, eine Decke aus silbrig schimmemder Isofolie um seine Schultern gehängt und einen Becher kochendheißen Cofecea in der Hand, während ein sehr geduldiger Mann in dem sterilen weißen Overall eines Sanitäters ihn immer wieder nach seinem Namen fragte. Irgendwann war dann auch seine Mutter aufgetaucht, um sich schluchzend auf ihn zu stürzen und ihn so heftig zu umarmen, als wollte sie ihm die Rippen brechen. Zev hatte ihre Umklammerung ebenso unbewegt über sich ergehen lassen wie ihren fassungslos herausgestammelten Wortschwall.
„Oh, mein armer Liebling, mein armer lieber Junge! Was für ein Unglück! Was für eine Tragödie! Oh, das arme Mädchen ... Arme, arme Sam …"
Ja. Arme, arme Sam …
Zev wiederholte Glinda Gilfoys Worte wie einen Kanon, wie ein Echo, wie eine schadhafte Audiodisc, die immer an derselben Stelle hängen blieb, obwohl er nicht wirklich an die unvorstellbare und schon deshalb unmögliche Realität von Jessamys Tod glauben konnte.
Er glaubte nicht einmal dann daran, als noch mehr Männer in weißen Overalls auf der Szene erschienen und eine sorgfältig abgedeckte Bahre mitbrachten, die sie nicht in ihrem grellfarbigen Rettungsgleiter, sondern in einer grauen Schwebelimousine mit getönten Fenstern verschwinden ließen. Er plapperte einfach nur die Worte seiner Mutter nach, bis sie ihn an der Hand nahm und ihn davonführte wie ein fügsames Kind.
Er ließ sich widerstandslos von ihr in ihren eigenen Gleiter setzen und heimbringen. Dort wartete schon der Hausarzt der Familie auf ihn, ein freundlicher älterer Herr, der ihm mit markiger Herzlichkeit auf die Schulter klopfte und ihn "junger Mann" nannte (als wäre Zev wieder zehn Jahre alt und seine einzige Anfechtung ein milder Anfall von Draavin-Pocken!), bevor er irgendetwas von Schock und absoluter Ruhe faselte und seinem Patienten eine gigantische Spritze verpasste, die offensichtlich genug Beruhigungsmittel enthielt, um sogar einen geifernden Tobsüchtigen in einen Zustand verklärt lächelnder Teilnahmslosigkeit zu versetzen.
Vielleicht lag es an den Nachwirkungen dieser Spritze, vielleicht lag es aber auch an den ausgetüftelten Selbstverteidigungsmechanismen des menschlichen Gehirns, das seine eigenen Methoden hatte, wenn es darum ging, seinen Besitzer vorübergehend auf Standby-Modus zu schalten und ihn so für eine kleine Weile vor der unerträglichen Wahrheit zu beschützen – jedenfalls verbrachte Zev die folgenden Tage in einem barmherzigen Nebel.
Sogar das Martyrium von Sams Beerdigung (natürlich von den Gilfoys organisiert und bezahlt, da es keine echten Verwandten mehr gab) gipfelte zunächst nur in ein paar flüchtigen verzerrten Momentaufnahmen von unzähligen kunstvollen Gestecken und mit Schleifen durchflochtenen Kränzen aus taufeuchten Karmissveilchen und den gemurmelten Beileidsbezeugungen von verwirrend vielen bekannten und unbekannten Gesichtern, die alle dieselbe benommene Erschütterung zeigten.
Doch dann war der einzige Mensch auf ihn zugekommen, der aus der Menge von Kondolenzbesuchern herausstach, ein sehr, sehr freundlicher und sehr, sehr taktvoller Offizier, der sich als Commander Rellnik und offizieller Vertreter der Warbride-Crew vorstellte und vor diskretem Mitgefühl beinahe überfloss.
Es war Rellniks Nachruf auf Sam, eine dezent formulierte Huldigung der echten und imaginären Tugenden der lieben Verstorbenen, die zum ersten Mal eine nadelspitze Lanze aus rohem unverfälschtem Schmerz durch den sorgfältig gepolsterten Schutzschild von Zevs Betäubung jagte. Es war in diesem Augenblick, als ihm zum ersten Mal wirklich bewusst wurde, dass er die Liebe seines Lebens verloren hatte, dass Sam tot war, für immer und ewig tot ...
Ja, Sam war tot – aber ihre Mörderin war immer noch quicklebendig: Sondra Rakosh, die wie ein unglückverheißender Komet aufgetaucht war, einen Feuerschweif der Zerstörung hinter sich her ziehend, ein Inferno, das die Sonne von Zevs Welt verdunkelt und schließlich ganz zum Erlöschen gebracht hatte. Es war dieser Gedanke, der wie ein Skalpell durch die Narkose seines willenlosen Schockzustandes schnitt, der ihn so abrupt aufweckte wie ein Schwall kaltes Wasser.
Und was jetzt? Sollte er Sams Tod etwa einfach so hinnehmen? Sollte er jetzt einfach die Hände in den Schoß legen und sich seiner Trauer überlassen? Nein! Dafür war immer noch genug Zeit, wenn die Gerechtigkeit gesiegt hatte, wenn Sam gerächt war. Denn das war das Einzige, was Zev Gilfoy jetzt noch wollte, das Einzige, was seinem Leben zwar keinen Sinn, aber immerhin so etwas wie ein Ziel gab: Gerechtigkeit! Und Rache!
Noch am selben Abend wurde das Büro des Polizeiinspektors, der für die Ermittlungen im Fall Sorkin zuständig war, vom vereinten Gilfoy-Clan gestürmt. (Tork und Glinda waren so froh darüber, ihren Sohn aus seiner beunruhigenden Passivität erwachen zu sehen, dass sie alles getan hätten, um ihn in Gang zu halten. Nun ja, vielleicht nicht gerade alles … Aber was Lelja und Godis betraf, so hätte man sie schon zu Hause anketten müssen, um zu verhindern, dass sie sich dem Kreuzzug ihres großen Bruders gegen das „Rakosh-Monster" anschlossen.)
Inspektor Gremmlin, ein rundlicher Endsechziger mit überraschend seelenvollen braunen Augen in einem bärbeißigen Bulldoggengesicht, verbarg seine Bestürzung angesichts dieses Überfalls hinter einer verbindlichen Beamtenmiene und zog sofort alle Register, als es darum ging, die unerwartete Gästeschar zu bewirten und gleichzeitig zu (ver)trösten.
Er hatte eine Menge Übung im Umgang mit mehr oder weniger hysterischen Angehörigen von Mordopfern und glaubte felsenfest an die besänftigende Wirkung einer großen Kanne stark gezuckertem Camiljartee, zusätzlich gesüßt durch sein sozusagen dienstlich abgesegnetes Einfühlungsvermögen und verbrämt mit den üblichen Floskeln und Versprechungen. (Natürlich würde die Täterin bald gefasst werden … Vielleicht sogar schon morgen … oder übermorgen … oder spätestens nächste Woche. Schließlich lief die Fahndung nach Rakosh auf Hochtouren und die ganze Abteilung arbeitete an diesem Fall, jawohl, rund um die Uhr und mit Feuereifer … Ach, du liebes Bisschen! Was für ein Schnitzer, was für ein Ausrutscher! Wie dumm von ihm, wie geschmacklos! Natürlich sollte das keine Anspielung auf die schrecklichen Umstände sein, unter denen … Bitte vielmals um Entschuldigung! Vielleicht noch ein Schlückchen Tee? Nein? Wirklich nicht?)
Woran Gremmlin allerdings trotz seiner Beflissenheit nicht ganz so felsenfest glaubte, war die reichlich verworrene Story, die ihm nun schon zum zweiten Mal aufgetischt wurde. Die erste Version davon hatte ihm Mr. Gilfoy senior geliefert, nachdem er sich tapfer dem Horror von Sorkins verkohlten Überresten in der Pathologie gestellt hatte.
Natürlich war die so genannte Leichenschau ohnehin nur eine reine Formalität gewesen und hätte dieser Einfaltspinsel von einem Staatsanwalt nicht ausdrücklich darauf bestanden, hätte Gremmlin dem Beinahe-Schwiegervater des Opfers diesen grauenvollen Anblick nur zu gerne erspart. Eine Identifizierung des Opfers durch Familienmitglieder war in einem Fall wie diesem sowieso unmöglich und darüber hinaus unnötig, denn der winzige hitzeresistente Metallzylinder, der in die Brusttasche jeder imperialen Uniform eingenäht war, enthielt alle benötigten Daten wie Namen, Rang und Dienstnummer. Hinzu kamen natürlich noch wie üblich DNS-Proben und Gebissabdrücke – und das alles ließ hier leider (oder Gott sei Dank) keinen Zweifel an der Identität der Toten zu.
Ansonsten hatte Sorkins Leiche keinerlei Informationen mehr preisgegeben – selbst der Chef-Pathologe hatte es nach einer bemerkenswert flüchtigen Autopsie, die nur die eigentliche Todesursache abklären sollte, schnell aufgegeben, nach anderen aus forensischer Sicht relevanten Details zu suchen. Und damit war Gremmlin auch ganz einverstanden, denn dieser Fall machte ihn nervös und er wollte ihn so schnell wie nur möglich abschließen und zu den Akten legen.
Ein Mord an einem imperialen Offizier war immer eine kitzlige Angelegenheit, denn man musste jederzeit damit rechnen, dass sich die Militärpolizei einschaltete, die sich grundsätzlich überall einmischte, zu den unmöglichsten Zeiten Berichte und anderes Informationsmaterial forderte, bei den Recherchen dazwischenfunkte, sämtliche Zeugen in Angst und Schrecken versetzte und auch sonst die reinste Plage war, wenn sie nicht sogar die Ermittlungen ganz und gar an sich riss – eine Amtsanmaßung, die an Impertinenz kaum noch zu überbieten war und folglich jeden tatsächlich zuständigen Gesetzeshüter an den Rand der Raserei trieb. (Dass die Militärpolizei auch noch die Schamlosigkeit besaß, sich mit fremden Federn zu schmücken und ohne weiteres alle Lorbeeren einzuheimsen, wenn ein Fall aufgeklärt wurde, aber dafür jeden Fehlschlag sofort ihrem zivilen Gegenpart in die Schuhe schob, trug auch nicht gerade zur Entwicklung kollegialer Gefühle bei!)
Und schon deshalb war Gremmlin gar nicht glücklich über diese abstruse Geschichte, die ihm nun von Mr. Gilfoy junior erneut serviert wurde ...
Rebellen? Spione? Das alles hörte sich gefährlich politisch an und wenn Gremmlin, der übrigens kurz vor seiner Pensionierung stand, irgendetwas um jeden Preis vermeiden wollte, dann war es eine Fußangel, die ihn buchstäblich in letzter Minute zu Fall brachte.
Er sehnte sich nach einer ehrenhaften Entlassung in seinen wohlverdienten Ruhestand – und das Letzte, was er jetzt brauchte oder wollte, war die Aufmerksamkeit des imperialen Geheimdienstes, der eine höhere Instanz der Militärpolizei und folglich noch unausstehlicher war, wenn das überhaupt möglich war.
Nein, Inspektor Gremmlin vom Dritten Revier in West-Delamere hatte im Fall Sorkin die Zügel fest in der Hand und das ganz alleine – und dabei würde es auch bleiben, vielen Dank!
Und was die Geschichte der Gilfoys anging ... sorry, aber er hatte keinerlei Verwendung für wirrköpfige Zeugenaussagen, die den Kurs seiner Untersuchung völlig auf den Kopf stellten.
Diese Sondra Rakosh war ganz offensichtlich nichts anderes als eine arme Irre, das war doch wohl vollkommen klar, oder? Wenn sie überhaupt je geschnappt und vor Gericht gestellt wurde (was nach einer bis jetzt gänzlich ergebnislos verlaufenen Großfahndung allmählich fragwürdig war!), dann würde zweifellos irgendein cleverer Hundesohn von Pflichtverteidiger eine große Show abziehen und sie mühelos herauspauken. Er würde die Geschworenen und den Richter so lange mit psychiatrischen Gutachten über die Unzurechnungsfähigkeit seiner Mandantin bombardieren, bis er sie alle weichgeknetet hatte. Und am Ende würde Rakosh nicht in die Todeszelle des Ying-Yang-Gefängnisses wandern, sondern in den Hochsicherheitstrakt irgendeiner Klapsmühle, wo sie den Rest ihres Lebens zwischen anderen mordlustigen Verrückten und genervten Seelenklempnern verbringen würde – und wer konnte schon sagen, was schlimmer war? (Gremmlin für sein Teil hätte eine halbwegs schmerzfreie Hinrichtung der Option Gummizelle plus Zwangsjacke auf jeden Fall vorgezogen.)
Aber so ging es nun einmal zu im Leben. Pech für das tote Mädchen. Pech für diesen Jungen, ihren Verlobten, in dessen grünen Augen ein so wildes Flackern lag, dass er eines Tages wahrscheinlich selbst in einer Zwangsjacke enden würde, wenn seine Eltern nicht besser auf ihn aufpassten. Aber das war zum Glück nicht Gremmlins Problem. Er hatte nur dafür zu sorgen, dass dieser Fall abgeschlossen wurde, egal, ob mit oder ohne Erfolg. Und abschließen würde er ihn und das bald. Sehr bald!
Nicht einmal ein Bruchteil von Gremmlins Gedankengängen wurde während dieser Unterhaltung laut ausgesprochen, aber Zev, der nach seinem zumindest teilweise selbst verschuldeten Dämmerzustand noch mehr Scharfblick an den Tag legte als sonst, hörte zwischen den durchaus liebenswürdigen Phrasen des Inspektors alles heraus: Seine Skepsis gegenüber einer nicht ganz alltäglichen Aussage, seine an Ignoranz grenzende Dickfelligkeit, mit der er alles ablehnte, was nicht zu seiner eigenen Interpretation der Ereignisse passte, seine Befürchtung, in etwas hineingezogen zu werden, das er nicht mehr steuern und kontrollieren konnte, und das alles umrahmt und durchzogen von einem angeborenen Phlegma, das durch die Resignation nach zu vielen frustrierenden Dienstjahren noch verstärkt worden war.
So kam es, dass Zev im Gegensatz zu seinen Eltern und Schwestern von Inspektor Gremmlin keineswegs beeindruckt war. Tatsächlich war er schon nach Sekunden von dem Desinteresse des Mannes an einer wirklichen Aufklärung von Sams Tod überzeugt und nach weiteren zwei Minuten von seiner völligen Inkompetenz.
Und daher war Zev auch das einzige Mitglied der Familie Gilfoy, das weder Staunen noch Empörung zeigte, als die Ermittlungen keine sechs Wochen später „bis auf weiteres" eingestellt wurden. Gremmlin, der immerhin den Anstand besaß persönlich anzurufen, erklärte voller Bedauern, dass im Augenblick nicht viel zu machen war. Die mutmaßliche Täterin war offensichtlich untergetaucht, vielleicht hier auf Devon, vielleicht irgendwo außerwelt. Jetzt musste man eben abwarten, bis sie irgendwann wieder aus der Versenkung auftauchte ...
Abwarten. Tatenlos zusehen und warten ... warten ... warten ...
Genau das hatte Zev schon einmal getan und er würde das bis zu seinem letzten Atemzug bereuen. Denn er hätte dieses Drama verhindern können, wenn er es nur ernsthaft genug versucht hätte, dessen war er sich ganz sicher.
Sam hätte nicht sterben müssen, Sam könnte jetzt noch bei ihm sein, wenn er im entscheidenden Augenblick Stärke gezeigt und etwas unternommen hätte, wenn er etwas getan hätte. Aber er hatte es nicht gewagt, ihren Zom herauszufordern, indem er auf eigene Faust handelte, er war nicht dazu bereit gewesen, einen Streit mit ihr zu riskieren, der vielleicht sogar ihre Beziehung zerbrochen hätte.
Und nun hatte er Sam unwiderruflich verloren und das alles nur, weil er zu viel Angst davor gehabt hatte, sie zu verlieren. Das war es wohl, was die Leute meinten, wenn sie von Ironie des Schicksals sprachen ...
Aber Zev hatte aus seinem Fehler gelernt. Jetzt würde er auf eigene Faust handeln, etwas unternehmen, etwas tun. Die Polizei in Delamere überschlug sich natürlich nicht gerade vor Eifer, Sams Mörderin zur Strecke zur bringen, aber es gab da noch jemanden außerhalb der Familie Gilfoy, der sehr wohl daran interessiert sein musste, Sondra aufzuspüren und für ihr Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Und dieser Jemand war niemand anderer als der Geheimdienstfreak persönlich: Colonel Breghala. Breghala, der Sam in Gefahr gebracht hatte, indem er sie dazu gezwungen hatte, weiter mit Sondra unter einem Dach zu leben. Breghala, dessen Schnüffler sich nicht einmal die Mühe gemacht hatten, Sam zu beschützen, als sie ihren Schutz gebraucht hätte. Breghala, der allen, die Sam geliebt hatten, eine Menge Antworten schuldig war!
Schon zwei Tage später flog Zev nach Vardiss. Er tat es klammheimlich, weil er genau wusste, dass die ganze Familie in Aufruhr geraten wäre, wenn er erzählt hätte, was er vorhatte. Zumindest seine Eltern hätten alles daran gesetzt, ihm diesen nicht ganz ungefährlichen Besuch auszureden, und Zev wusste selbst recht gut, dass sie sämtliche halbwegs vernünftigen Argumente auf ihrer Seite gehabt hätten.
Es widersprach schlicht und einfach dem gesunden Menschenverstand, dem Leiter einer imperialen Geheimdienststelle ungebeten auf die Pelle zu rücken, um ihn in einem Atemzug mit wütenden Vorwürfen zu überhäufen und im nächsten Erklärungen und schließlich sogar Unterstützung von ihm zu fordern. Aber Zev befand sich in einem emotionalen Stadium, das mit Begriffen wie „Vernunft" oder „gesunder Menschenverstand" nicht mehr viel zu tun hatte, und außerdem war er schon von Natur aus ziemlich eigensinnig.
So kletterte er also an einem kühlen windigen Vorfrühlingsabend vor dem Grand Estoria, einem überteuerten und auch sonst ziemlich überschätzten Nobelhotel mitten in Camorrha, aus einem Taxigleiter, nur mit einer einsamen Reisetasche und seinem Eigensinn bewaffnet, aber zum Krieg gerüstet. Doch wie sich schon bald herausstellte, war es gar nicht so einfach, die feindlichen Linien auszuspähen, und am Ende sollte es sich als unmöglich erweisen, den Gegner zum Kampf zu stellen ...
Kurz nachdem Zev sich in einer eher mittelprächtigen Zwei-Zimmer-Suite des Grand Estorias niedergelassen und via Kom ein erstes Gefecht mit seinen völlig entgeisterten Eltern überstanden hatte (Tork tobte, als er hörte, wohin es seinen Ältesten verschlagen hatte, während Glinda sich langsam in Tränen auflöste wie eine Perle in einer Essiglösung!), wurde ihm klar, dass er es völlig versäumt hatte, einen Schlachtplan aufzustellen: Er hatte keine Ahnung, wie er Colonel Breghala überhaupt ausfindig machen sollte.
Der imperiale Geheimdienst hielt offensichtlich nicht viel von Kundenfreundlichkeit oder verzichtete einfach aus Sicherheitsgründen auf einen lebhaften Publikumsverkehr, auf jeden Fall veröffentlichte er die Adressen seiner Dienststellen nicht einmal in den „Roten Seiten", wie Zev naiverweise angenommen hatte, weil in diesem umfangreichen Katalog die Anschriften und Niederlassungen aller offiziellen staatlichen Organisationen enthalten sein sollten. Zev fragte sich, ob der Geheimdienst möglicherweise sogar so geheim war, dass er einen eher inoffiziellen Status hatte, aber mit den „Roten Seiten" war hier jedenfalls nicht viel anzufangen.
Und Breghalas gab es auf Vardiss wie Sand am Meer, was die Suche nach der Privatadresse des Colonels ungefähr so leicht machte wie die nach der sprichwörtlichen Stecknadel im Heuhaufen.
An diesem Punkt sah Zev ein, dass er Hilfe brauchte, professionelle Hilfe, und das war immerhin etwas, was er relativ mühelos finden konnte. Der Privatdetektiv, den er schließlich anheuerte, machte keinen besonders Vertrauen erweckenden Eindruck – tatsächlich war Zev nie ein schmierigerer Vertreter der Gattung Mensch untergekommen –, aber ein Profi war er zweifellos, besonders was seine Spesenabrechnungen anging, deren mysteriöse Punkte und Unterpunkte sogar den ausgebufftesten Steuerprüfer in tiefste Verwirrung gestürzt hätten.
So kostete es Zev also wesentlich mehr Zeit, Nerven und Geld, als er erhofft oder befürchtet hatte. Aber eines Tages stand er nach einem letzten kostenträchtigen Treffen mit seinem Profi-Schnüffler tatsächlich vor einem riesigen stahlgrauen Gebäude am Rande der Stadt. Ein Gebäude, das so auffällig unauffällig war, dass sich hinter seiner spiegelnden Fassade aus dunkelgetönten Fenstern alles Mögliche hätte verbergen können, ein ganzer Bienenstock voller wabenkleiner Büros für ein halbes Dutzend verschiedener Speditionsfirmen zum Beispiel oder eine Großbäckerei für die Liebhaber gesunder Vollwertkost oder vielleicht sogar eine Spielzeugfabrik.
Dass dieses Bauwerk weder den durchschnittlichen Mietbürokomplex beherbergte noch so nahrhafte und harmlose Aktivitäten wie die Produktion von glutenfreien Dreikornbrötchen oder Actionfiguren, verrieten lediglich ein paar kleine architektonische Eigenheiten hier und da, die nicht nur dem Juniorchef eines erfolgreichen Industriebauunternehmens ein warnendes Prickeln im Nacken verursacht hätten.
Ob es nun an dieser wenig einladenden schwärzlich-undurchsichtigen Fensterfront lag, die eindeutig aus Panzerglas bestand und eher der Tarnung als der Beleuchtung diente, oder an dem kompliziert verzweigten Antennenwirrwarr des Funkmastes, der aus dem Zentrum des weitläufigen, mit Landeplattformen übersäten Flachdachs herausragte wie der einsame Fühler einer angriffslustigen Urzeit-Riesenameise, oder doch eher an den ausgesprochen verdächtigen Ausbuchtungen, die direkt unterhalb der Dachkante aus den glatten Permabetonmauern herauswucherten wie Pestbeulen und mit beunruhigend zielsicherer Exaktheit genau auf die Straße ausgerichtet waren … Egal, was es war, eines stand fest: Das ganze Gebäude sagte laut und deutlich „Verschwinde!" zu jedem Passanten, der zufällig oder mit Absicht hier entlangkam.
Und wer nach dieser stummen, aber unmissverständlichen Botschaft immer noch nicht begriffen hatte, dass unwillkommene Besucher sich hier auf einen wenig herzlichen Empfang gefasst machen mussten, der brauchte nur einen einzigen Blick auf das noch unbelaubte, aber dafür extrem dornenreiche Gestrüpp der Büsche zu werfen, die in nur scheinbar wahllosen Reihen kreuz und quer über die erbarmungslos kurz geschorene Rasenfläche verteilt waren. Denn zwischen diesem Gestrüpp gab es noch viele andere sehr viel kleinere Antennen zu entdecken und man musste nun wirklich kein technisches Genie sein, um zu erkennen, dass es sich bei dieser Vorrichtung um einen nur sehr nachlässig versteckten Laserzaun handelte, der im Notfall durchaus eine revoltierende Menschenmenge in Schach halten konnte – natürlich nur für den höchst unwahrscheinlichen Fall, dass die sehr viel besser getarnten Lasergeschütze da oben direkt unter dem Dach aus irgendeinem Grund ihren Dienst versagen sollten ...
Zev verstand die Botschaft, die ihm hier übermittelt wurde, sofort und vollkommen und deshalb blieb er auch einen Augenblick lang stehen, um sie sehr schnell und sehr gründlich zu überdenken. Und dann machte er einen Schritt vorwärts ... und zwei Schritte zurück ... und dann wieder ein paar Schritte vorwärts – und plötzlich war er irgendwie da, wo er sein wollte, obwohl er dort eindeutig nicht sein sollte. Diese Meinung wurde jedenfalls durch ein sehr großes Schild verkündet, das neben einem ebenfalls gläsern-undurchdringlichen Eingang stand und in roter Schrift Zev Gilfoy und allen anderen Unbefugten dieser Welt den Zutritt verbot.
Der erste Feindkontakt erfolgte logischerweise gleich hinter der Tür und bestand im Wesentlichen aus einer gewichtigen und trotz ziviler Kleidung unübersehbar militärisch angehauchten Persönlichkeit, die in dem neonkalten Licht einer riesigen zugigen Eingangshalle auf Zev zurollte wie ein Panzer, um mit Stentorstimme nach seiner ID-Karte, nach dem Grund seiner Anwesenheit und ganz allgemein nach seiner Existenzberechtigung zu fragen.
Zevs Haltung straffte sich unwillkürlich angesichts dieser Herausforderung. Er sah dem Panzer auf Beinen fest in die Augen und sagte gebieterisch: „Ich will zu Colonel Breghala. Sofort!"
Der Trainer der Welpenschule, in der Jasper-der-wildeste-Rodarbal-aller-Zeiten inzwischen doch noch halbwegs zur Räson gebracht worden war, hatte den Gilfoys erfolgreich eingebläut, dass ein direkter Blickkontakt in Verbindung mit möglichst kurzen, aber betont energisch ausgesprochenen Kommandos wahre Wunder wirken konnte, wenn es um die eher schlicht strukturierten Gemüter von Hunden und anderen auf Gehorsam gedrillten Lebewesen ging. Doch der menschliche Wachhund, der Zev jetzt gegenüberstand, erwog sein Ansinnen mit angestrengt gerunzelter Stirn und schien dabei mit jeder Sekunde größer, breiter und bedrohlicher zu werden.
Zev, der trotz seiner zur Schau getragenen Dominanz allmählich leise Bedenken hegte, hielt sich vorsichtshalber an der Kante einer schimmernden Marmortheke fest, hinter der eine ebenfalls zivil gekleidete, aber entschieden streng dreinblickende Dame älteren Semesters thronte. Nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, war sie von Zevs Auftritt genauso wenig beeindruckt wie sein Wächter, der bereits Miene machte, den Arm des Eindringlings in einem geübten Klammergriff zu Brei zu zermalmen.
Zev überlegte verträumt, ob all diese Feindseligkeit allein durch sein Begehren ausgelöst wurde oder ob vielleicht seine Optik maßgeblich dazu beitrug. Das überall präsente getönte Glas reflektierte sein Spiegelbild aus mehreren Richtungen gleichzeitig und sogar er musste zugeben, dass er mit seinem zerknautschten gürtellosen Mantel und seinem fast genauso zerzausten roten Haarschopf einen wild bewegten Anblick bot, der einen Wachposten durchaus zu einer gewaltsamen Abwehrreaktion provozieren mochte.
Wie auch immer, seine Konfrontation mit diesem rabiaten Empfangskomitee war gerade im Begriff, eine ausgesprochen unerfreuliche Wendung zu nehmen, als auch schon die Rettung nahte und das in einer ziemlich bemerkenswerten Gangart, die man am ehesten als "Stechschritt im Galopp" hätte beschreiben können ...
„Danke, Raskill, ab hier übernehme ich. Sie können Mr. Gilfoy jetzt wieder loslassen", keuchte der unerwartete, aber trotzdem sehr willkommene Schutzengel, als er noch ein paar Schritte von ihnen entfernt war.
Zevs Wächter zögerte eine heikle Sekunde lang, bevor er sichtlich widerwillig seine großen groben Pranken von dem malträtierten Arm des Pseudo-Gefangenen nahm und den Rückzug antrat. Sehr weit entfernte er sich allerdings nicht vom Ort des Geschehens. Er schien davon auszugehen, dass seine rohe Tatkraft gleich wieder zum Einsatz kommen würde. Doch Zevs Schutzengel, ein hoch aufgeschossener blonder Jüngling in einer olivgrünen Uniform, die ihm mindestens eine Nummer zu weit war und an ihm herunterhing wie ein Sack, ignorierte ihn einfach.
„Es tut mir sehr Leid, Mr. Gilfoy, wirklich sehr, sehr Leid, aber der Colonel ist im Augenblick nicht zu sprechen. Für niemanden. Er ist in einer Konferenz und es wird Stunden und Stunden dauern, bis er da wieder rauskommt", sprudelte er atemlos heraus.
Zevs Blick wanderte von der gerade entdeckten Videokamera an der Decke zu seinem Retter zurück. „Ich kann warten."
„Aber das kann den ganzen Tag dauern!"
„Ich warte. Den ganzen Tag, wenn es sein muss", erwiderte Zev kühl.
Und warten würde er, bei Gott, den ganzen Tag, die ganze Woche oder für den Rest seines Lebens, wenn es sein musste, denn jetzt, wo er Breghala endlich aufgestöbert hatte, würde er ihm nicht mehr von den Fersen weichen. Nie wieder!
„Ich habe Zeit. Sehr viel Zeit." Es klang wie eine Drohung und das war gut so, denn als Drohung war es auch gemeint.
Und als Drohung wurde es auch aufgefasst, denn der junge Offizier schluckte jetzt und fuhr sich nervös mit der Hand über seinen stacheligen Blondschopf.
„Also wirklich, Mr. Gilfoy, was soll ich dazu sagen?"
„Am besten gar nichts."
Und damit kehrte Zev ihm einfach den Rücken zu und steuerte entschlossen eine grau gepolsterte Sitzgruppe an, die so verloren in der Mitte der Halle trieb wie eine winzige Insel in den bleifarbenen Weiten eines gnadenlosen Ozeans. Er ließ sich auf einem der ziemlich harten Sessel nieder, sehr aufrecht und die Arme über der Brust verschränkt, um anzudeuten, dass er das Gespräch als beendet und jede weitere Diskussion als reine Zeitverschwendung betrachtete.
Der junge Offizier, der von der ganzen Situation sichtlich peinlich berührt war, blieb noch eine Weile mit hängenden Schultern stehen und befingerte unruhig das reichlich schief hängende blaue Plastikquadrat auf seiner schmächtigen Brust, das ihn als Fähnrich oder ähnlich rangniedriges Etwas auswies. Schließlich machte er seinerseits kehrt und trabte mit sehr viel weniger Enthusiasmus als zuvor davon.
Erst als die schmale olivgrüne Gestalt durch eine Seitentür entschwand, wurde Zev bewusst, dass er gerade mehrmals mit seinem Nachnamen angesprochen worden war, obwohl er nie dazu gekommen war, sich vorzustellen. Er warf einen zweifelnden Blick auf seine ID-Karte, die er immer noch in der Hand hielt, und einen forschenden zu der nächsten Videokamera, die zufällig genau über seinem Kopf hing.
„Unglaublich! Diese Dinger werden auch immer besser", murmelte er vor sich hin.
Er grübelte eine Weile mit halbherzigem Interesse über die Meisterwerke der Überwachungstechnologie nach, die hier überall an der Decke verteilt waren und deren superempfindliche hochauflösende Linsen offenbar sogar die winzige Aufschrift auf einem so kleinen Gegenstand wie seinem Ausweis enträtseln konnten.
Als dieses faszinierende Thema seiner ohnehin eher zerstreuten Aufmerksamkeit nichts mehr zu bieten hatte, ging er dazu über, seine Umgebung zu beobachten, was allerdings auch nicht viel unterhaltsamer war. Im Grunde bestand die einzige Abwechslung, die ihm während der folgenden langen Stunden vergönnt war, aus seinem neuen Intimfeind Raskill, der eigentlich die Tür im Auge behalten sollte, was ihn aber nicht davon abhielt, in ziemlich regelmäßigen Abständen langsam um Zevs Sitzplatz herumzukreisen wie ein hungriger, aber sehr, sehr geduldiger Barrakaida um ein verheißungsvolles Rettungsfloß voller potenziell schmackhafter Schiffbrüchiger.
Um sich die Langeweile zu vertreiben, begann Zev seine Runden zu zählen, aber die Zeit kroch nur so dahin und als Raskill zum fünfzehnten Mal pflichtbewusst in Richtung Tür davon driftete, um sich zumindest vorübergehend dort nach Beute umzusehen, nickte das Objekt seiner argwöhnischen Wachsamkeit tatsächlich ein.
Ob es nun an der beinahe hypnotischen Wirkung der vielen Umlaufbahnen seines misstrauischen Satelliten lag oder einfach nur daran, dass Zev nach zu vielen durchwachten Nächten völlig übermüdet war, jedenfalls schlummerte er süß und selig vor sich hin, bis ihn ein zaghaftes ...
„Äh ... Mr. Gilfoy? Sir?"
... abrupt aus einem wundervollen Traum riss, in dem Sams Tod nur ein furchtbares Missverständnis war, das sich eben in einem Taumel aus Freudentränen, Küssen und Umarmungen auflösen wollte, als ihn die grausame Wirklichkeit unerbittlich einholte.
„WAS IST?!" fauchte Zev und da war etwas an seinem schlaftrunkenen Zorn, das den Fähnrich, der ihn im falschen Augenblick wachgerüttelt hatte, trotz der grinsenden bewaffneten Lebensversicherung in seinem Rücken ein wenig zurückweichen ließ.
„Tut mir Leid, Mr. Gilfoy, aber Sie müssen jetzt wirklich gehen", stammelte der seinerseits immer noch namenlose Fähnrich. „Es ist schon so spät ... und Colonel Breghala ist längst weg."
Zevs einzige Antwort bestand in einem Blick, der Durastahl zum Schmelzen gebracht hätte. Der Fähnrich wich vorsichtshalber noch einen Schritt zurück.
„Soll ich ihn jetzt rausschmeißen, Sir?" fragte Raskill aus dem Hintergrund. Seine Augen glitzerten vor boshafter Vorfreude und durch den soliden Gummiknüppel in seiner rechten Tatze ging ein erwartungsvolles Zucken.
Zev begriff, dass es höchste Zeit war, das Feld zu räumen, wenn auch nur vorläufig. Er stand mit Schwung auf und sagte sehr sanft: „Ich komme wieder!"
Und er kam wieder. Am nächsten Morgen rückte er schon in aller Herrgottsfrühe zum nächsten Sturm auf die Festung an. Er schenkte Raskill, der bei seinem Anblick unwillkürlich die Zähne fletschte, ein höflich-herablassendes Nicken und ließ sich alsdann in der Sitzecke nieder, die er zu seinem Brückenkopf auserkoren hatte.
Als nur Minuten später der Fähnrich auf der Bildfläche erschien, durch Raskill alarmiert und trotz aller bemühten Selbstbeherrschung sichtlich aufgewühlt, packte Zev gerade in aller Ruhe den Rucksack aus, den er dieses Mal mitgebracht hatte. Der Ausgang einer Belagerung hing nicht nur von der Widerstandskraft der belagerten Partei ab, sondern auch von der Ausdauer der belagernden Partei und aus diesem Grund hatte Zev sich in weiser Voraussicht mit Proviant und einer größeren Auswahl an Lektüre eingedeckt.
„Mr. Gilfoy!" rief der Fähnrich, der sichtlich seinen Augen nicht traute. „Was um Himmels willen ..."
„Guten Morgen", sagte Zev freundlich und legte eine Tageszeitung neben die Thermoskanne und die gut gefüllte Sandwichbox, die er inzwischen auf dem niedrigen Tisch vor sich deponiert hatte. „Colonel Breghala ist wohl noch nicht zu sprechen, was?"
„Nein! Er ... er ist noch nicht mal da. Er wird erst später kommen ... sehr viel später", stotterte der Fähnrich aufgeregt.
„Das habe ich mir schon gedacht", erwiderte Zev gelassen, schraubte die Thermoskanne auf und schenkte sich einen Becher dampfend heißen Tee ein. (Der Fähnrich beobachtete seine Frühstücksvorbereitungen mit Fassungslosigkeit.) „Wissen Sie, ich wollte ihn auf keinen Fall verpassen und deshalb bin ich extra früh gekommen." Zev nippte genießerisch an seinem Tee, bevor er mit unschuldsvollem Augenaufschlag fragte: „Meinen Sie, dass er heute ein bisschen Zeit für mich übrig hat?"
„Ich weiß nicht ... Ich weiß wirklich nicht ..." Der Fähnrich zögerte. „Ich werde sehen, was ich tun kann", sagte er schließlich resigniert.
Raskill, der schon wieder im Hintergrund lauerte, gab ein lautes Schnauben von sich – diese völlig unangemessene Nachgiebigkeit gegenüber einem Zivilisten, dessen Unverfrorenheit alle Grenzen sprengte, erfüllte ihn mit abgrundtiefer Verachtung.
„Mehr verlange ich auch gar nicht von Ihnen", entgegnete Zev und bedachte alle Anwesenden mit einem engelhaften Lächeln.
Der Fähnrich trottete niedergeschlagen auf und davon und entwich durch dieselbe Seitentür wie am Vortag. Zev dagegen widmete sich voller Elan seinem improvisierten Frühstücksbuffet.
Sobald er damit fertig war, schlug er mit demonstrativer Nonchalance seine Zeitung auf. Als er den Leitartikel überflogen hatte, konnte er der Versuchung nicht länger widerstehen und äugte mit betonter Unbekümmertheit über den Rand der Seite zu Raskill hinüber, der voller Frust erneut neben der Eingangstür Stellung bezogen hatte und dort vor sich hin grollte.
Sobald er Zevs unverschämten Blick auffing, zog er mit genießerischer Langsamkeit seinen massiven Zeigefinger quer über seine Kehle, eine Geste, die sich eindeutig auf die zunehmend kürzer werdende Spanne von Zevs Lebenserwartung bezog. Zevs Lächeln wurde sofort noch eine Spur engelhafter. Raskill, fast schäumend vor ohnmächtiger Wut über diese Provokation, ballte die Fäuste, woraufhin Zev sich mit einem Gefühl boshafter Zufriedenheit wieder in seiner Zeitung versenkte.
Aber dieses erfolgreich überstandene kleine Scharmützel änderte auch nichts an der Tatsache, dass er Breghala an diesem Tag genauso wenig zu Gesicht bekam wie an all den folgenden Tagen ...
Zev gewann schnell den Eindruck, dass dieser Colonel sein ganzes Leben in einer unendlichen Kette von Konferenzen und Meetings mit Gott und der Welt verbrachte und dass es schier unmöglich für ihn war, irgendwo in seinem Terminkalender auch nur fünf freie Minuten für einen uneingeladenen Besucher von der hartnäckigen Sorte zu finden.
Doch Zev übte sich in Geduld, wenn auch nur zähneknirschend. Zwei Wochen lang ließ er sich von dem Fähnrich, der übrigens Paejonn hieß, wie er zwischenzeitlich herausgefunden hatte, hinhalten und immer wieder mit denselben Ausreden abspeisen. Erst als Paejonn schließlich in einem Akt der Verzweiflung sein Blatt überreizte und sich zu der extrem unglaubwürdigen Behauptung verstieg, dass Breghala ganz unerwartet zu einer Dienstreise aufgebrochen sei und dass angeblich kein Mensch wüsste, wann er zurückkommen würde, platzte Zev endlich der Kragen.
„Sagen Sie mal, für wie dumm halten Sie mich eigentlich? Nein, sagen Sie es mir nicht, das würde mich nur deprimieren! Aber Ihrem Colonel können Sie das hier sagen: Bestellen Sie ihm einen schönen Gruß von mir und richten Sie ihm aus, wenn er sich weiter weigert, mich zu sehen, dann werde ich ihn einfach zu Hause besuchen.
Ja, ja, ich weiß, wo der Prinz der Finsternis wohnt, Sie traurige Sklavenseele! Und wenn er mich nicht sofort irgendwo hier in dieser Gruft zu einem offenen ehrlichen Gespräch von Mann zu Mann empfängt, dann werde ich jetzt gehen, mir einen Schlafsack und ein Zelt kaufen und solange in seinem hässlichen spießigen Vorgarten kampieren, bis er sich endlich dazu herablässt, meine Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen.
Ja, sagen Sie ihm genau das! Und sagen Sie es ihm jetzt gleich! Na los, worauf warten Sie noch? Und wenn Sie sich einbilden, dass das alles nur leeres Gerede ist und dass ich mich das sowieso nicht traue, dann sind Sie schief gewickelt! Ich tue es, bei Gott, ja, ich tue es! HEUTE NOCH!"
Paejonn schwankte unter dieser wortgewaltigen Attacke, kapitulierte und hisste sofort die weiße Fahne. „Tun Sie das bitte nicht, Mr. Gilfoy, bitte!" flehte er.
Und Zev ging endlich ein Licht auf.
„Er weiß gar nicht, dass ich hier bin, nicht wahr?" zischte er aufgebracht. „Er hat keine Ahnung, dass ich seit zwei Wochen von morgens bis abends hier herumhänge wie ein Idiot und mir Ihr verlogenes Geschwafel anhöre, Sie hinterhältiger, mieser, schleimiger kleiner ..."
„Sie haben keine Ahnung!" stöhnte Paejonn.
Er sah ängstlich über seine Schulter, als ob er jeden Augenblick damit rechnete, dass das Schicksal persönlich hinter ihm auftauchte. Aber die einzige Person, die ihrem Disput überhaupt so etwas wie Beachtung schenkte, war die ältliche Empfangsdame, die sich inzwischen so sehr an Zevs Präsenz gewöhnt hatte, dass sie ihm sogar unaufgefordert einen Besucherausweis aushändigte, wenn er kam, was man nach Lage der Dinge durchaus als Zeichen der Sympathie werten konnte.
Was Raskill betraf, so nahm er glücklicherweise gerade an der Raubtierfütterung in der Kantine oder im Zwinger (oder wo auch immer Leute seines Schlages verköstigt wurden) teil. Die Gelegenheit zu einem offenen ehrlichen Gespräch von Mann zu Mann war also relativ günstig und als Paejonn das erkannte, ließ er beinahe alle Hemmungen fahren und schleifte Zev mit sich durch die berühmte Seitentür, die seine tägliche Fluchtroute eröffnete.
Nach einem längeren Marsch durch einen grell erleuchteten Gang, von dem ungefähr tausend andere grell erleuchtete Gänge voller Türen abzweigten, landeten sie schließlich in einem schummrigen Kabinett, das offenbar als Lagerraum diente, denn die blanken Metallregale, die fein säuberlich an den Wänden festgeschraubt waren, brachen fast zusammen unter der Last von sorgfältig aufeinander gestapelten Kartons voller Tonerpatronen, Kopierpapier und anderen typischen Büroutensilien. Es war kein sehr anheimelnder Ort für eine Aussprache, aber es gab immerhin keine Überwachungskameras, was natürlich der Grund dafür war, warum sie ausgerechnet hierher gekommen waren.
Zev, halb erleichtert, dass er nicht in die moderne Version einer Folterkammer verschleppt worden war, halb erzürnt, befreite sich mit einem Ruck aus dem unsicheren Polizeigriff, mit dem er abgeführt worden war, und setzte zu einem neuen Wortschwall an: „Was zum Henker ...?"
„Halten Sie endlich die Klappe, jetzt rede ich!" schnappte Paejonn zurück. (Die „traurige Sklavenseele" hatte ihn bis ins Mark getroffen – von den übrigen Beleidigungen ganz zu schweigen.)
„Okay, Mister Großmaul, ich habe Sie angelogen und ich bin nicht stolz darauf. Aber ob Sie es jetzt glauben oder nicht, es war nur zu Ihrem eigenen Besten! Denn eines steht fest: Der Colonel wird sowieso nicht mit Ihnen reden, niemals!
Er wird mit gar niemandem jemals über diesen Fall reden. Er hat alles getan, um die ganze Sache unter einem Riesenhaufen Schutt zu begraben und er wird jedem die Hölle heißmachen, der versucht sie da wieder auszubuddeln.
Na schön, Mister, machen Sie, was Sie wollen, springen Sie ihm an den Hals, zelten Sie von mir aus in seinem Garten, tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber Sie werden damit nichts erreichen, absolut gar nichts! Sie werden nicht einmal in seine Nähe kommen. Und wenn Sie ihm richtig auf die Nerven gehen, wird er Sie einfach verhaften lassen, wegen Hausfriedensbruch oder wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses oder was weiß ich ... Ihm fällt schon irgendetwas ein ... Und Sie werden in einer Gefängniszelle landen, Löcher in die Luft starren und sich fragen, ob es die Sache überhaupt wert war. Und wenn Sie das überstanden haben ..."
„Es ist die Sache wert!"
„Und wenn Sie das überstanden haben, wird er immer noch hinter Ihnen her sein – nur um ganz sicher zu gehen, dass Sie ihm garantiert nie wieder auf die Nerven gehen. Der macht Sie ruckzuck fertig. Der ist zu allem fähig ... Das können Sie mir glauben ..."
Paejonn hielt inne und lehnte sich gegen eines der Regale, erschöpft von seiner Tirade. Vielleicht lag es nur an dem schummrigen Licht in dem Raum, dass sein Jungengesicht plötzlich so viel älter aussah, vielleicht aber auch nicht.
„Geben Sie endlich auf, Mr. Gilfoy", sagte er heiser. „Gehen Sie wieder nach Hause. Vergessen Sie die ganze Geschichte einfach."
Zev starrte ihn ungläubig an. Sam vergessen? Den Klang ihres Lachens vergessen, den Duft ihres Haars, die seidige Glätte ihres Nackens unter seiner streichelnden Hand, den salzigen Geschmack ihrer Lippen, wenn sie sich auf der Nivess geküsst hatten, die rührenden Schatten, die ihre Wimpern auf ihre Wangen warfen, wenn sie schlief ... Das alles vergessen? Unmöglich!
„Fangen Sie ein neues Leben an. Versuchen Sie es wenigstens."
„Unmöglich ..." wisperte Zev.
„Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, aber was kann ich schon tun?" sagte Paejonn voller Bitterkeit. „Bitte gehen Sie jetzt, Mr. Gilfoy. Gehen Sie einfach ..."
Und Zev ging. Was hätte er auch sonst tun sollen?
Nachdem er unter dem vage mitfühlenden Blick der Empfangsdame das Gebäude verlassen hatte, wanderte er ziellos durch die Straßen von Camorrha, ohne seine Umgebung wirklich wahrzunehmen, denn nun gab es nichts mehr, was er suchen oder finden musste, nichts mehr, was ihn vorantrieb, was ihn in Gang hielt. Er hatte keine Pläne mehr, keine Wünsche, kein gar nichts. Es war vorbei. Alles war vorbei ...
Irgendwie und irgendwann kehrte er wie ein ferngesteuerter Droide in das Grand Estoria zurück, wo er mechanisch seine Habseligkeiten zusammensuchte und seine Rechnung bezahlte. Irgendwie und irgendwann kehrte er wie ein Zombie unter den Einfluss eines fremden Willens nach Devon und in das Haus seiner Eltern zurück, wo er in ein großes schwarzes Loch fiel. Alles versank in tiefster Dunkelheit. Er konnte nicht essen, nicht schlafen, nicht denken, nicht einmal weinen ... Es war der endgültige Zusammenbruch ...
Die Zeit verging. Rings um ihn herum ging das Leben weiter, aber Zev nahm keinen Anteil mehr daran. Er fühlte sich leer, ausgebrannt, tot. Er war in seinem Elend gefangen, in seinem Leid eingesponnen wie eine Fliege in einem Spinnennetz.
Seine Schwestern machten sich Sorgen um ihn. Seine Eltern hatten Angst um ihn. Doch das spielte keine Rolle für Zev, er bemerkte es kaum. Mit dem ganzen Egoismus eines Menschen, der einen traumatischen Verlust erlitten und den Boden unter den Füßen verloren hatte, konzentrierte er sich nur auf seinen eigenen Schmerz und war dabei zwar nicht völlig immun, aber doch so gut wie gleichgültig gegen all den Kummer, den er anderen dadurch verursachte.
Aber die Zeit verging und die Welt blieb nicht einfach stehen, nur weil Zev Gilfoy es so wollte ...
Als der Sommer kam, begann Glinda hier und da zarte Andeutungen fallen zu lassen, in denen es um die wöchentlichen Sitzungen einer Selbsthilfegruppe für Trauerbewältigung ging. Tork dagegen begnügte sich bald nicht mehr mit zarten Andeutungen, sondern sprach immer öfter mit der brüsken Offenheit, die seinem geradlinigen Naturell entsprang, über ein neues Bauprojekt auf Ceti, für das er kürzlich den Zuschlag erhalten hatte und bei dessen Vorbereitung er auf Zevs Mitarbeit angewiesen war. Auch in einem Familienunternehmen konnte man nicht ewig Rücksicht auf das gebeutelte Gefühlsleben des Personals nehmen und außerdem war Tork sowieso der Meinung, dass er in den letzten Monaten geradezu übermenschlich viel Geduld für seinen Stammhalter aufgebracht hatte. Himmel, konnte der Junge sich nicht endlich ein bisschen am Riemen reißen?
„Ich brauche dich auf Ceti, Zev", verkündete er bei einer der seltenen gemeinsamen Mahlzeiten, an denen sein zunehmend in Einsamkeit vor sich hinbrütender Sohn noch teilzunehmen geruhte.
Zev stocherte lustlos in seinem Salat herum und ersparte sich eine ohnehin höchst überflüssige Antwort. Was sollte er auf Ceti? Was sollte er überhaupt irgendwo? Warum konnte sein Vater ihn nicht einfach in Ruhe lassen?
Aber so schnell gab Tork nicht auf. „Und dir würde es nur gut tun, mal wieder ein bisschen an die frische Luft zu kommen, mal wieder etwas zu machen. Herrje, es hat doch keinen Sinn, immer nur in der Gegend herumzusitzen und Trübsal zu blasen!"
„Tooork!" sagte Glinda warnend.
„Ist doch wahr! Stimmt's oder hab ich Recht, Mädels?"
Wie immer, wenn er Gefahr lief, von seiner Frau überstimmt zu werden, wandte sich Tork auf der Suche nach Unterstützung hoffnungsvoll an seine Töchter.
Auf Glindas Gesicht erschien sofort ein gefährlich strahlendes Lächeln, wie immer, wenn es darum ging, ihre Töchter davon abzuhalten, sich leichtfertig auf die Seite ihres Vaters zu schlagen und damit den sorgfältig ausbalancierten Familienfrieden aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Lelja war erwachsen genug, um dieses Alarmsignal zu erkennen und weibliche Solidarität zu heucheln, indem sie sich jeden Kommentar verkniff, aber Godis musste natürlich wieder den Aufstand proben, das aufmüpfige Gör!
„Na ja, irgendwie hat Dad schon Recht, findest du nicht auch?" sagte die kleine Verräterin zu ihrem großen Bruder und erntete prompt erzürnte Blicke aus allen Richtungen. (Nur der stolze Papa warf seiner jungen Verbündeten eine dankbare Kusshand zu.)
Zev dagegen warf seine Gabel hin, dass es nur so klirrte, und sprang auf. Alle zuckten zusammen – an diesen spontanen Ausbruch von Temperament und Energie war man gar nicht mehr gewöhnt.
„Wo willst du hin, Schatz?" rief Glinda besorgt.
„Nach draußen. Um wenigstens mal wieder ein bisschen an die frische Luft zu kommen, wenn ich schon nur in der Gegend herumsitze!" fauchte Zev und stürmte hinaus in den sonnendurchfluteten Garten.
„Und? Bist du jetzt zufrieden, Schatz?" sagte Glinda spitz, was sowohl ihrem Ehemann als auch ihrem Nesthäkchen galt, die beide gleichermaßen betroffen aussahen.
Tork und Godis brummelten etwas vor sich hin, das sich ungefähr so anhörte wie: „Hab's schließlich nur gut gemeint!" beziehungsweise „Wieder mal typisch – alle sind gegen mich!"
Aber das war auch schon alles, denn das Glitzern in Glindas Augen ermutigte nicht unbedingt zu einer Fortsetzung der Diskussion. Zu einer ganz alltäglichen Unterhaltung ermutigte es übrigens auch nicht – während des Desserts herrschte an der Tafel der Gilfoys eine ähnlich spannungsgeladene Stummheit wie in dem mäuschenstillen Refektorium eines fanatischen Mönchsordens unter lebenslänglichem Schweigegelübde. Zevs Dauerdepression war irgendwie ansteckend ...
Zev bekam davon natürlich nichts mit. Er hing in seinem Liegestuhl unter der Sikomura und litt – eine Stimmung, die sich dank Gewohnheit langsam, aber sicher zu seinem Normalzustand entwickelte. Der Anblick der blühenden Natur ringsum verschaffte ihm keine Erleichterung, sondern verleitete ihn nur zu eher morbiden Gedankengängen.
Er grübelte gerade darüber nach, wie lange er wohl noch vor sich hinsiechen musste, bis ihn sein gebrochenes Herz endlich dahinraffte und er von der allgemeinen Trostlosigkeit des irdischen Seins erlöst wurde, als das nervtötende Vogelgezwitscher in den Bäumen durch ein energisches Klingeln aus den Tiefen des Hauses übertönt wurde. Zev kümmerte sich nicht weiter darum – im Haus waren schließlich genug Leute, die an die Tür gehen konnten.
Doch etwa drei Minuten später ...
„Zevvie?"
Er reagierte nicht. Er fühlte sich nicht angesprochen – nicht nachdem er Godis schon ungefähr tausendmal erklärt hatte, dass er es hasste, mit „Zevvie" angesprochen zu werden!
„Zevvie! ZEEEVVVVIIIEEE!"
Er schloss gequält die Augen. Er wusste nicht wie das überhaupt möglich war, aber das Leben wurde zweifellos mit jedem Tag unerträglicher ...
„Da ist gerade ein Riesenpaket für dich abgegeben worden. Es steht in der Küche. Komm schnell!"
Zev öffnete die Augen wieder, sehr langsam. Sollte er sich jetzt tatsächlich der unvorstellbaren Anstrengung unterziehen aufzustehen und sich in die Küche zu schleppen, nur um dort ein völlig bedeutungsloses Paket zu öffnen? Ebenso gut hätte Godis von ihm verlangen können, den Gipfel des Mount Mandayala zu erklimmen. Wie lästig dieses aufdringliche Kind doch war! Einfach schrecklich! Und überhaupt: Wer zum Teufel schickte ausgerechnet ihm ein Paket, noch dazu ein Riesenpaket?
„KOMM SCHON!"
Godis verging offenbar fast vor Neugier, was für ihren großen Bruder hieß, dass sie ihn so lange peinigen würde, bis sie wusste, was in dem verdammten Paket war. Es sah ganz so aus, als hätte Zev gar keine andere Wahl ...
„Ja, ja!" sagte er mürrisch und schwang im Zeitlupentempo seine langen Beine aus dem Liegestuhl.
„BEEIL DICH!"
Zev beeilte sich nicht (aus purem Trotz gegenüber dieser Zwergtyrannin, die leider mit ihm verwandt war!), aber irgendwann stand er eben doch in der Küche, wo sich inzwischen die ganze Familie (einschließlich Hund!) in einem erwartungsvollen Halbkreis um das mysteriöse Paket versammelt hatte.
Zev beäugte es verdrossen aus sicherer Entfernung. Es war wirklich ziemlich groß. Und eigentlich war es gar kein Paket, sondern eher eine Transportbox. Eine große rechteckige Transportbox aus dunkelgrauem Kunststoff, an deren Längsseiten schwarze Pfeile und ein zerbrochenes Glas aufgemalt waren, um zu zeigen, was oben und was unten war. Offenbar musste man auf die richtige Position achten, weil der Inhalt dieser Box zerbrechlich war. Vielleicht war er sogar verletzlich, denn der Deckel und die Seitenteile der Box waren mit vielen kleinen Luftlöchern übersät, was darauf schließen ließ, dass der Inhalt Sauerstoff benötigte, um seinen Empfänger heil und gesund zu erreichen.
„Kein Absender", stellte Tork fest, nachdem er den Deckel kritisch inspiziert hatte. „Aber es kommt auf jeden Fall von außerwelt. Seht euch nur all diese Stempel an. Es ist erst durch den Zoll gegangen und dann sogar durch die Quarantäne-Station. Ich sag euch was: Da ist auf jeden Fall was Lebendiges drin!"
Diese scharfsinnige, wenn auch leicht verspätete Diagnose wurde durch ein leises Rascheln aus dem Inneren der Box bestätigt. Jasper, der schon die ganze Zeit aufgeregt an dem Gegenstand des allgemeinen Interesses herumgeschnuppert hatte, begann zu bellen. Zev, plötzlich ebenfalls von einer Aufwallung aus Neugier und Aufregung beseelt, kniete neben der Box nieder und versuchte durch eines der Luftlöcher zu spähen, konnte aber nichts erkennen.
Es raschelte wieder. Jasper wedelte ekstatisch mit dem Schwanz, kitzelte dabei Zevs Nase und bellte lauter. Aus der Box drang ein lautes zorniges Zischen. Alle Gilfoys erstarrten. Zev nieste zweimal, drängte ungeduldig den stürmischen Rodarbal zur Seite und schickte sich an, die Klammern zu öffnen, die den Deckel festhielten.
„Sei ganz, ganz vorsichtig, Schatz!" mahnte Glinda und umklammerte nervös den Arm ihres Angetrauten. „Tork, hat uns da etwa irgendjemand eine Giftschlange geschickt? Vielleicht ein unzufriedener Kunde oder so was in der Art?"
„Keiner meiner Kunden ist so unzufrieden, Glin. Außerdem: Eine kleine Schlange in dieser Riesenkiste?!"
„Na ja, vielleicht ist es ja gleich ein ganzes Dutzend Schlangen ..."
„Du siehst wirklich zu viele Holovidkrimis, Glin! Brauchst du Hilfe, Junge? Soll ich eine Zange holen?"
Doch Zev hatte den Deckel schon abgelöst und hob ihn ganz, ganz vorsichtig hoch, als plötzlich ...
... ein rotgolden getigerter Kugelblitz mit einem langen haarigen Schweif aus der Box sprang, quer durch die Küche raste und mit einem geschmeidigen Satz in der Speisekammer verschwand. Jasper nahm unter begeistertem Gekläff die Verfolgung auf.
„Eine Katze!" riefen Lelja, Godis und ihre Eltern im Chor.
Aber es war nicht irgendeine Katze!
Zev, dessen Herz beim Anblick der nur flüchtig wahrgenommenen, aber trotzdem so unendlich vertrauten flammenden Tigerzeichnung einen schmerzhaften Sprung gemacht hatte, rannte hinter dem Hund her und packte ihn, gerade noch rechtzeitig.
„AUS, JASPER! AUS!"
Er zerrte den sich heftig sträubenden Rodarbal aus der Speisekammer und übergab ihn Godis, die natürlich als Erste zur Stelle war.
„Schaff diesen dummen Köter bloß hier raus! Der dreht ja völlig durch."
Godis gehorchte genauso widerstrebend wie Jasper – genau wie der Hund hatte sie Angst, etwas Spannendes zu verpassen.
Zev achtete nicht weiter auf sie, den enttäuschten Rodarbal oder den verblüfften Rest der Familie – er war zu sehr damit beschäftigt, auf allen Vieren durch die enge Speisekammer zu kriechen und nach Jaspers flüchtiger Beute Ausschau zu halten. Er entdeckte sie im hintersten und dunkelsten Winkel, hoffnungslos eingekeilt zwischen einem Sack Batuknollen und einem Fässchen Krimmwein.
„Mom, ich brauche mehr Licht! Bei dieser trüben Tranfunzel kann ich ja gar nichts erkennen."
„Immer mit der Ruhe, Schatz. Hier." Glindas kühle Hand streifte seine erhitzte Wange, als sie ihm eine Stabtaschenlampe über die Schulter reichte.
Zev knipste die Lampe an, hörte ein gereiztes Maunzen, als lichtempfindliche topasfarbene Augen sich geblendet fühlten, richtete den Lichtkegel trotzdem auf die kleine geduckte Gestalt links vom Krimmwein ... und hielt den Atem an, als ein ungeheuerlicher Verdacht zur Gewissheit wurde ...
„Das ist Sams Kater", hauchte er.
„Aber das kann doch gar nicht sein! Eine zufällige Ähnlichkeit vielleicht, mehr nicht ... Wenn du mich fragst, dann sehen sowieso alle Katzen gleich aus."
„Er ist es!"
„Wie hätte denn das arme Tier aus der Wohnung rauskommen sollen? Das ist doch reines Wunschdenken, Junge. Du musst dich endlich damit abfinden, dass Sam ..."
Tork schnappte nach Luft, als sich der Stöckelabsatz seiner Frau rücksichtslos in seine Zehen bohrte, und verzichtete klugerweise auf jede weitere Protestkundgebung.
Zev ignorierte seinen Vater. Er schaltete die Taschenlampe, die so viel Irritation hervorgerufen hatte, wieder aus, legte sie ab, beugte sich vor und schob behutsam seine rechte Hand über den gefliesten Boden in die Nähe der verstörten vierbeinigen Postsendung.
Ob der Kater nun seine friedlichen Absichten missverstand oder ob er sich nur an die alte Feindschaft zwischen ihnen erinnerte, blieb unklar, aber als Zevs Finger näher rückten, explodierte das zusammengekauerte pelzige Bündel in einem Aufruhr aus Zähnen und Klauen und flüchtete mit einem Rekordsprung auf einen Hängeschrank an der gegenüberliegenden Wand
Zev schüttelte seinen blutenden Zeigefinger, fluchte und lachte gleichzeitig und sagte atemlos: „Du kannst mich immer noch nicht ausstehen, du kleiner Teufel, was?"
Der Kater fixierte seinen Gegner aus der Höhe seiner rettenden Bastion mit einem kalt abschätzenden goldenen Blick und hüllte sich in hochmütiges Schweigen. Jetzt, da er aufrecht und damit deutlich sichtbar auf dem Hängeschrank thronte, war sich Zev vollkommen sicher: Es war Sams Kater, wie er leibte und lebte, ein großer stattlicher roter Tiger mit einem ebenso stattlichen Bäuchlein, das seine katzenhafte Würde noch unterstrich.
Er war unverändert – bis auf das schmale grüne Lederhalsband, das er jetzt trug. An dem Halsband hing ein prismaförmiger Schmuckstein, der in dem vagen Licht der Glühbirne über der Tür funkelte wie ein Diamant. Aber es war kein lupenreiner Diamant. Genau in der Mitte hatte er einen Fehler, einen Schatten, einen Fleck ... Zev kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Irgendwas an diesem Stein ...
„Wenn wir ihn in Ruhe lassen, wird er von ganz alleine herunterkommen – spätestens, wenn er Hunger hat. Wir können ihm ja ein Schälchen Milch hinstellen", schlug Glinda vor.
„Milch ... Blödsinn!" maulte Tork, der die Stöckelabsatz-Attacke noch nicht verwunden hatte. „Stell ihm lieber eine Dose Friloc hin."
„Fressen Katzen Hundefutter?" fragte Godis, die nach Jaspers erfolgreicher Verbannung in den Garten wieder auf der Szene erschienen war.
„Warum nicht? Ist doch überall das gleiche Zeug drin", meinte Tork.
„Aber wenn Katzen Hundefutter fressen können und Hunde Katzenfutter, warum unterscheidet man dann überhaupt noch dazwischen? Da seht ihr mal wieder die Willkür dieser geldscheffelnden Wirtschaftsbonzen in ihrem Konkurrenzwahn! Statt sich zusammenzuschließen und so billig wie möglich ein einzelnes Produkt herzustellen, das man schlicht und einfach als Tierfutter bezeichnen und verkaufen könnte, füllen sie das Zeug lieber unter tausend verschiedenen Namen in tausend verschiedene, möglichst viel Müll produzierende Verpackungen ab und benutzen dann die Werbeindustrie, um Millionen von Leuten zu manipulieren und ihnen einzureden, dass sie ihre Viecher nur mit einem ganz bestimmten superteuren Zeug füttern dürfen, weil sie sonst ..."
„Geh uns bitte nicht auf die Nerven, Schatz! Hol einfach eine Dose Friloc, ja?" sagte Glinda mit einer gewissen Schärfe in der Stimme.
Sie hatte den kürzlichen Treuebruch ihrer Jüngsten noch nicht ganz verwunden und das Letzte, was sie jetzt hören wollte, war ein selbstgerechter Schulmädchenvortrag über die Übel des Kapitalismus und die daraus resultierende finanzielle Ausbeutung der unschuldigen Massen, von der damit verbundenen Umweltverschmutzung ganz zu schweigen.
„Warum immer ich?" jammerte Godis.
Doch als niemand auf den ultimative Klageschrei aller Teenager reagierte, trollte sie sich beleidigt in Richtung Küche, um den Befehl der garantiert herrschsüchtigsten und lieblosesten Mutter des ganzen Universums auszuführen. Ach ja, das Leben war hart und ungerecht ...
Noch vor einer Viertelstunde hätte Zev seiner kleinen Schwester aus vollem Herzen zugestimmt.
Jetzt nicht mehr. Übrigens hatte er von dem kurzen Familienzwist gar nichts mitbekommen – er war völlig davon in Anspruch genommen, die möglichst gewaltfreie und hoffentlich auch für alle Beteiligten schmerzlose Gefangennahme des Katers zu planen. Er wollte sich unbedingt diesen Stein ansehen und zwar sofort, nicht erst, wenn der Kater gnädig geruhte, seine Hängeschrank-Zitadelle wieder zu verlassen, um eine Portion Friloc zu naschen, was noch Stunden dauern konnte.
„Dad, haben wir eigentlich immer noch dieses alte Schmetterlingsnetz im Gartenhaus? Mom, Lelja, geht mal aus dem Weg, ich muss an die Trittleiter ran."
Glinda rückte gehorsam zur Seite, aber Lelja verdrehte nur die Augen. Leitern und Schmetterlingsnetze, also wirklich! Typisch Mann!
„Bevor hier noch mehr Blut fließt, lass lieber mich mal ran, Bruderherz."
Zev wickelte geistesabwesend ein Taschentuch um seinen immer noch tröpfelnden Zeigefinger. „Er wird dir ins Gesicht springen, Lel."
„Kaum. Katzen sind sensible Wesen. Frauen auch. Deshalb kommen Frauen auch so gut mit Katzen klar. Seelenverwandtschaft, verstehst du?" verkündete Lelja mit einem aufreizend überlegenen kleinen Lächeln.
Jetzt war es Zev, der die Augen verdrehte. Aber vielleicht steckte in Leljas Prahlerei doch ein Körnchen Wahrheit, denn keine fünf Minuten später marschierte sie unter dem Beifall ihrer Eltern mit hoch erhobenem Kopf aus der Speisekammer heraus, in ihren Armen ein behaglich zusammengerolltes Knäuel, das sanft vor sich hin schnurrte und alles in allem so tat, als könnte es kein Wässerchen trüben. Sensibilität hin, Seelenverwandtschaft her – Sams Kater stand eindeutig mehr auf die zarte weibliche Hand. Unter Leljas zarter Hand entspannte er sich sogar so weit, dass er friedlich stillhielt, als Zev den Schmuckstein von seinem Halsband löste.
„In dem Anhänger ist ja was drin", sagte Glinda erstaunt, als sie ihn zum ersten Mal richtig sehen konnte.
„Sieht aus wie ein Zettel", meinte Lelja.
Und genau das war es auch, wie Zev feststellte, als es ihm nach mehreren behutsamen Versuchen gelungen war, den Stein einfach aufzuklappen wie ein Medaillon.
Es war nur ein kleines Stück Papier und es war so eng und fest zusammengerollt, dass Zev schon fürchtete, er würde es beim Auffalten zerreißen. Aber schließlich öffnete es sich wie die zerknitterten Blütenblätter einer Mondblume ... und entblößte statt eines mit Pollen überpuderten Kelchs eine Botschaft ...
Es waren nur fünf kurze Zeilen, mit einem blauen Filzstift und in einer fürchterlichen Krakelschrift geschrieben. Ein paar Worte nur, halb verschmiert und kaum leserlich, aber sie veränderten alles von Grund auf, alles ...
Mariam Smee
Talamasca-Allee 475
Orinawa City
Khetomer XII
Ortego-System
Die Familie stand natürlich vor einem Rätsel.
„Was soll das sein?"
„Eine Adresse?"
„Wer ist Mariam Smee?"
„Was hat das zu bedeuten, Schatz?"
Doch Zevs Augen leuchteten wie Sterne.
„SAM LEBT!"
Sein unerwarteter Jubelschrei erschreckte den Kater so sehr, dass er sich aus Leljas schmeichelnden Fingern wand und unter dem nächstbesten Sessel Zuflucht suchte.
Einen Augenblick lang herrschte ehrfürchtiges Schweigen, dann erhob sich ein neues Stimmengewirr.
„Was ist bloß passiert?"
„Wie kommt Sam ausgerechnet nach Khetomer?"
„Warum hat sie so lange nichts von sich hören lassen?
„Und wen um Himmels willen haben wir ganz offiziell unter ihrem Namen unter die Erde gebracht? Oh Gott, kannst du dir vorstellen, was für Scherereien wir mit der Polizei haben werden, was für einen Papierkrieg, wenn das herauskommt?" Glinda, praktisch wie immer, dachte schon an die Zukunft.
Zev beantwortete all diese Fragen mit einem ungeduldigen Achselzucken. Wen interessierten schon diese völlig nebensächlichen Details? Hauptsache war doch, dass Sam lebte, oder nicht? Doch als er die besorgten Gesichter ringsum sah, wurde er weich.
„Ich weiß auch nicht, was passiert ist, Lel. Und ich habe keine Ahnung, warum Sam nichts von sich hat hören lassen, Dad. Aber eines weiß ich ganz genau: Sie muss einen wirklich guten Grund dafür gehabt haben. Vielleicht hat irgendwas sie daran gehindert, mit uns Kontakt aufzunehmen. Oder irgendjemand. Und deshalb glaube ich auch nicht, dass wir uns über Probleme mit der Polizei den Kopf zerbrechen sollten, Mom. Ich habe eher das Gefühl, es sollte besser niemand erfahren, dass Sam auf Khetomer ist und dass wir jetzt darüber Bescheid wissen."
Niemand sagte etwas, bis Godis laut aussprach, was alle in diesem Moment dachten. „Zevvie? Was ist, wenn es gar nicht Sam ist, sondern ... die andere?"
„Keine Sorge, Kleines. Dieser Name ... Das ist kein Zufall, weißt du? Sondra hat garantiert noch nie etwas von einer Mariam Smee gehört. Ich dagegen schon."
Tork schüttelte langsam den Kopf. „Ich wünschte, es wäre so. Ich wünsche es mir wirklich – schon deinetwegen, Sohn. Aber irgendwie kann ich nicht daran glauben. Ich meine, sag selbst, ist das nicht alles ein bisschen zu schön, um wahr zu sein? Und außerdem kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass Sam uns das antun würde, dass sie uns tatsächlich acht verdammte Monate lang in dem Glauben lassen würde, dass sie tot ist, nur um uns dann plötzlich aus heiterem Himmel als erstes und einziges Lebenszeichen ausgerechnet das da ins Haus zu schicken."
Er deutete mit anklagender Miene auf den Kater, dessen Nase gerade weit genug aus seinem Schlupfwinkel herausragte, um voller Skepsis das viel diskutierte Schälchen Friloc zu beschnuppern, das Godis inzwischen verlockend nah vor seinem Sessel abgestellt hatte.
„Oh, das ... Das war gar nicht Sam."
„Wer dann?" fragten die übrigen Gilfoys wie aus einem Munde.
Und Zev lachte – zum ersten Mal seit einer Ewigkeit, wie es ihnen erschien.
„Jemand, der offensichtlich doch keine traurige Sklavenseele ist", sagte er vergnügt.
Und mit dieser geheimnisvollen Antwort mussten sie sich zufriedengeben ...
Es war eine wissenschaftlich erwiesene Tatsache, dass der Vollmond sogar auf die intelligentesten Lebewesen ausgesprochen seltsame Auswirkungen hatte. Das galt besonders für Menschen, die immerhin schon unter normalen Bedingungen dazu neigten, sich so zu verhalten, als hätte ihnen die Evolution nicht den kleinsten Funken von Intelligenz mit auf den Weg gegeben – vor allem dann, wenn sie in Rudeln auftraten.
Aber was sich heute Abend unter dem Einfluss dieses himmlischen Trabanten in der Abfertigungshalle des Raumhafens von Delamere abspielte, spottete schlicht und ergreifend jeder Beschreibung!
Iniego M'Bindo, gebürtiger Dhiloteraner und erster stellvertretender Assistent des Gepäckschalter-Managers, zupfte mit einer nervösen Vier-Finger-Hand an seiner untersten Kiemenfalte und sandte ein Stoßgebet an N'Ungungu, die Göttin der Geduld. Aber er wurde irgendwie das dunkle Gefühl nicht los, dass er noch vor dem Ende seiner Schicht um den Beistand aller achthundertsechsundsiebzig Götter seiner Heimatwelt flehen würde ...
Er vollführte das rituelle dreifache Von-links-nach-rechts-Kopfrucken, das sein angespanntes Scheitel-Shuurgrii von negativen Energien befreien sollte, und wandte sich so erfrischt wieder der eleganten Dame zu, die sich hartnäckig weigerte einzusehen, dass ein zwei Meter hoher Schrankkoffer nicht unbedingt den Richtlinien für die Beförderung von Handgepäck entsprach.
Danach hatte er eine hitzige Debatte mit einer Horde von überdrehten Austauschschülern, die sich in dem hauseigenen Supermarkt mit einem Süßigkeitenvorrat eingedeckt hatten, der einer ausgehungerten Division als Marschverpflegung hätte dienen können. Leider war die Ausführung von Lebensmitteln streng verboten, was Iniego dazu zwang, alle Süßigkeiten zu beschlagnahmen.
Die Schüler waren darüber gar nicht erfreut, zumal ihre Wegzehrung sie die Überreste ihres Taschengeldes gekostet hatte, was sie so lautstark wie nur möglich mitteilten. Nun waren sie der Meinung, dass Iniego ihnen eine Entschädigung schuldete.
Auch dies hatte eine lange anstrengende Diskussion zur Folge, die erst endete, als sich zwei gestresst aussehende Lehrer zu Wort meldeten und verkündeten, dass sie höchstpersönlich für die kalorienreichen Plombenzieher ihrer verfressenen Schützlinge aufkommen würden. Diese Lösung wurde von den Kindern mit lärmender Begeisterung aufgenommen und von Iniego mit einem stillen Dankgebet an V'Tohinga, den Gott der Einsicht.
Trotzdem fühlte er sich ein wenig angeschlagen und als der rotschopfige junge Mann, der der Nächste in einer schier endlosen Reihe aus reiselustigen menschlichen Nervensägen war, einen großen vergitterten Korb auf seiner Theke abstellte, der ein sehr schlecht gelauntes Exemplar einer kleinen, aber offensichtlich fleischfressenden Gattung enthielt, überkam Iniego ein leises Schwindelgefühl ...
„Ich bedaure, Sir, aber lebende Tiere müssen nach Paragraph 495 Absatz 138 C der Statuten des Gesundheitsministeriums erst einer mindestens einwöchigen Quarantäne unterzogen werden, bevor sie den Planeten verlassen dürfen. Sie finden die Quarantäne-Station im vierten Stock, Abteilung E wie Epidemie. Wenden Sie sich einfach an den diensthabenden Veterinär", zirpte er matt.
„Aber meine Katze kommt doch gerade erst aus der Quarantäne", protestierte der Besitzer des fraglichen Vierbeiners. „Hier ... sehen Sie."
Er zog ein zerknittertes Attest aus seiner Manteltasche und präsentierte es mit so viel Schwung, dass es beinahe über den Rand von Iniegos blankpolierter Theke hinausgerutscht wäre.
Iniego fing das misshandelte amtliche Dokument gerade noch rechtzeitig auf und hielt es mit spitzen Fingern vor seine ziemlich kurzsichtigen Stielaugen.
„Bedaure, Sir, aber dieses Attest bezieht sich eindeutig auf ein Tier, das ununterbrochen in einer artgerechten und verplombten Transportbox der Quarantäne-Station untergebracht war."
Der junge Mann runzelte die Stirn. „Ich konnte den armen kleinen Burschen unmöglich da wieder reinpferchen. Und wenn wir schon von artgerecht sprechen ..." Er rümpfte seine lange sommersprossige Nase.
„Sie geben also zu, dass sich das Tier eine Zeitlang außerhalb dieser versiegelten Box aufgehalten hat?"
„Na ja, er musste sich schließlich mal die Beine vertreten und ein bisschen was futtern und ..."
„Und dabei könnte es sich ohne Weiteres bei Artgenossen mit einer ansteckenden Krankheit infiziert haben." Iniego musterte den möglichen Krankheitsüberträger voller Abneigung.
„Er war nur in meinem Haus. Und da gibt es keine Artgenossen, weder kranke noch gesunde, das können Sie mir glauben."
„Glauben ist nicht wissen!" sagte Iniego und beäugte nervös die Warteschlange hinter dem jungen Mann, die immer länger und immer unruhiger wurde. Was für ein Aufstand um so eine Kleinigkeit!
Das fand Zev Gilfoy auch. Er bereute schon, dass er sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, für den Kater eine etwas bequemere Reisemöglichkeit zu finden. Aber Sam hätte es ihm nie verziehen, wenn er ihr ihre Samtpfote in dieser abscheulichen Kiste angeschleppt hätte. Und überhaupt ...
Er beschloss, es mit Charme zu versuchen.
„Hören Sie", sagte er mit einem schmelzenden Lächeln, „heute ist der glücklichste Tag meines Lebens – den wollen Sie mir doch nicht verderben, oder?"
Iniego, der wie jeder wahre Gläubige des Zhaak'Ti'La-Kultes grundsätzlich von Sanftmut und Nächstenliebe gegenüber allen seinen Mitgeschöpfen erfüllt war, schüttelte so heftig den Kopf, dass sich sein Scheitel-Shuurgrii mit einem neuen schmerzhaften Zwicken bemerkbar machte.
„Guuut!" schnurrte Zev. „Und wenn ich Ihnen jetzt erzähle, dass mein Flug in knapp einer Stunde geht und dass dieses entzückende kleine Wesen hier ein elementarer Bestandteil in der ersten Begegnung zwischen Liebenden ist, die durch ein Schicksal schlimmer als der Tod für Äonen voller Gram und Schmerz voneinander getrennt waren und die jetzt endlich wieder zueinander finden könnten, wenn Sie es nur zulassen würden – können Sie es dann tatsächlich mit Ihrem Gewissen vereinbaren, uns beide für eine ganze Woche in die Quarantäne-Station zu verbannen? Können Sie wirklich so grausam sein?"
„Gott, das ist ja sooo romantisch!" schluchzte eine ältere Dame direkt hinter ihm gerührt.
Und sie war offenbar nicht die Einzige, die so dachte ...
Zev warf einen schnellen erstaunten Blick über seine Schulter und sah, dass die ganze Welt auf seiner Seite war – zumindest für diesen einen Augenblick. Nun, er würde das Eisen schmieden, so lange es heiß war ...
Auch Iniego registrierte jetzt voller Unbehagen, dass sie inzwischen im Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit standen und dass die meisten Personen in dieser wirklich sehr, sehr langen Warteschlange dazu bereit waren, Stellung zu beziehen – und zwar eindeutig gegen ihn.
Er schrak unwillkürlich zusammen, als sich der junge Mann vor seiner Theke auf die Knie warf und mit ausgebreiteten Armen und voller Pathos rief: „Geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß! Lassen Sie mich und meine Katze in Frieden ziehen, denn wir sind auf der Suche nach der wahren Liebe!"
„Ja, genau! Geben Sie Ihrem Herz einen Stoß, Mister! Lassen Sie den Jungen und seine Katze endlich gehen!" riefen verschiedene Leute.
„Aber die Vorschriften ...", klagte Iniego.
„Nieder mit den Vorschriften! Es lebe die wahre Liebe!" schrien die Leute zurück.
Es lag unleugbar ein Hauch von Volkszorn und Krawall in der Luft. Aus dem Hintergrund nahten schon die ersten Sicherheitsbeamten. Iniego begriff, dass die Dinge jeden Augenblick eskalieren konnten, wenn er nicht handelte und das schnell.
„Nehmen Sie Ihre verdammte Katze und verschwinden Sie! Und beeilen Sie sich, damit Sie Ihr Schiff noch kriegen!" raunte er dem jungen Mann zu.
Die Menge jubelte und klatschte, als Zev geschmeidig aufsprang, den umstrittenen Korb von Iniegos Schalter klaubte, schwungvoll herumwirbelte und sich mit einer tiefen Verbeugung bei seinen Mitstreitern bedankte.
Iniego dagegen stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, als der Unruhestifter endlich davon schwebte.
„Der Nächste bitte! Haben Sie etwas zu verzollen, Lady?" sagte er mit leicht gezwungener Höflichkeit zu der immer noch aufgewühlten alten Dame. Vollmond! dachte er grimmig.
Doch Zev Gilfoy blieb vor dem Gate stehen, das zu dem Passagierschiff führte, das ihn in einer knappen Stunde ins Ortego-System entführen würde, und starrte wie verzaubert zu der riesigen leuchtenden Sphäre hinauf, die den mit Sternen bestickten samtschwarzen Himmel krönte und die Ränder der Wolken mit Gold und Silber säumte.
„Sieh dir das an, Tiger! Wenn das nicht reine Magie ist ... Ob es auf Khetomer XII auch sowas gibt?"
Zev schloss die Augen und atmete den Nachtwind ein, der kühl und süß und voller Verheißung war.
„Aber wenn nicht ... na ja, dann ist es auch gut ... Weil alles jetzt gut ist, einfach alles, hörst du?"
Und genau so war es auch ...
E N D E
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