KAPITEL 2

Drei Monate zuvor

Lucy ist rastlos. In ihrem Apartment stehen zwei Taschen und ein Rucksack. Es stehen die Türen mehrerer Schränke und Kommoden offen. Und es liegt Kleidung verteilt auf ihrem Bett im Schlafzimmer, auf dem kleinen Schrank im Badezimmer und auf der Couch in der Wohnküche. Sie packt Sachen ein und wieder aus. Sie kann sich nicht entscheiden, welches ihrer Oberteile sie am besten einpacken soll. Sie mag das gelb-orange mit den kleinen Blumen gern. Es hat einen schönen weichen Stoff und einen Schnitt, der bequem ist, aber der trotzdem ihren Körper an den richtigen Stellen betont. Und sie weiß, dass Tim dieses Oberteil ebenso gerne mag. Also soll sie es einpacken und mitnehmen? Und, wenn sie es trägt, daran denken, wie er immer seinen Blick über sie wandern lässt, wenn sie es anhat? Daran denken, wie sich dann dieses Lächeln auf sein Gesicht stiehlt. Weil sie genau weiß, welche Wirkung das Oberteil auf ihn hat. Was genau der Grund ist, warum sie es anzieht. Und sie weiß, dass er weiß, dass sie es genau deswegen anzieht. Oder soll sie es lieber daheimlassen, weil es ein könnte, dass sie es nicht mehr mit heimbringen wird? Sie hätte nicht gedacht, dass Packen für einen Undercover-Einsatz so schwierig sein kann. Was es auch noch nie war. Was aber daran liegt, dass sie bisher immer nur auf kurze Einsätze geschickt wurde. Einsätze, bei denen sie wusste, dass sie nicht irgendwann in einer fremden Wohnung liegen würde und ihn so schrecklich vermissen würde, dass jedes Kleidungsstück eine Erinnerung an ihr eigentliches Leben wäre. Eine Erinnerung, die sie brauchen würde, um bei Verstand zu bleiben.

Denn, wenn du mit dem Kopf nicht hundertprozentig bei der Sache bist, dann kann es dich töten.

Das ist es, was Tim ihr immer wieder eingetrichtert hat. Doch das gleiche Chaos, das in ihrer Wohnung herrscht, herrscht in ihrem Herzen. Sie liebt Undercover. Ja, das ist richtig. Sie mag den Nervenkitzel, sie mag die Rollen, in die sie schlüpfen kann. Sie mag den Adrenalinkick, den sie bekommt, wenn sie dazu beitragen kann die bösen Buben und natürlich die bösen Mädchen hinter Gitter zu bringen. Doch, wenn sie etwas mehr liebt, dann ist es Tim. Und deshalb ist dieser Einsatz der erste bei dem sie gezögert hat. Bei dem sie Bedenkzeit erbeten hat. Bei dem sie sich nicht sicher ist.

Vor wenigen Tagen war sie direkt nach der Frühbesprechung in Greys Büro gebeten worden. Dort hatte Captain Martinez vom FBI auf sie gewartet. Das musste man sich mal vorstellen. FBI. Sie hatten ihre eigenen Leute und doch war der Name Lucy Chen an irgendeiner Stelle gefallen. Hatte sie eine Empfehlung bekommen und deshalb wurde ihr der Job angeboten. Es war die Chance, auf die sie immer gewartet hatte. Der Schub für ihre Karriere. Der eine Fall, der sie nach oben bringen könnte. Es war alles, was sie sich immer erhofft hatte. Und gleichzeitig war es nicht mehr das, was sie sich erhofft hatte. Denn erst als sie im Büro saß und ihr die groben Details vorgestellt wurden und als es hieß, dass es eine langfristige Operation wäre, diese sich Wochen oder auch Monate hinziehen könnte, erst da war ihr bewusst geworden, dass sie mit dem Herz nicht mehr ganz bei der Sache war. Denn Wochen oder Monate Undercover hießen auch Wochen oder Monate ohne Tim. Und sie wusste weder, ob sie das wollte noch, ob sie das konnte. Doch hatte sie die Möglichkeit diesen Auftrag abzulehnen? Nachdem sie den Platz an der Undercover-Schule in Sacramento bekommen hatte? Nachdem das FBI, man stelle sich vor das FBI, sie angefragt hatte? Nachdem so viele Leute sie gefördert hatten? Leute, wie Grey und Harper? Könnte sie diese enttäuschen? Und so erbat sie sich Bedenkzeit. Sie sah eine leichte Enttäuschung im Gesicht von Martinez. Doch er gewährte ihre Zeit bis zum Schichtende. Denn um sie einzuschleusen, gab es nur ein kleines Zeitfenster und jede Stunde der Vorbereitung wären wichtig. Lebenswichtig. Und, wenn sie jemand anders den Job anbieten würden, dann wäre die Zeit noch knapper. Es wurde deutlich, dass es keine wirkliche Back-Up-Lösung gab. Dass man mit ihrem Ja gerechnet hatte.

18:00 Uhr wieder in Greys Büro. Sie hatte nur wenige Stunden Zeit sich zu entscheiden. Und deshalb musste sie schnellstmöglich mit Tim sprechen. Vielleicht hätte sie es da schon als Wink des Schicksals sehen sollen, als aus schnellstmöglich später Nachmittag wurde. Denn Tim war zu einem Metro-Einsatz abberufen worden und sie hatte keine Möglichkeit ihn zu kontaktieren. So konnte sie ihm nur eine Nachricht schreiben. Dass sie ihn unbedingt sprechen müsse, sobald er zurück sei. Und als seine Antwort kam, dass der Einsatz abgeschlossen war und sie sich zu einem verspäteten Mittagessen treffen könnten, kam ihr ein angetrunkener Autofahrer in den Weg, der zwei Fahrzeuge gerammt hatte und dann geflüchtet war. Als sie in die Dienststelle zurückkam, war Tim in einer Besprechung mit seiner Vorgesetzten Pine. Also ging sie zu Harper. Die eine Art Mentorin für Lucy ist und deren Meinung ihr wichtig ist. Doch sie hatte keine zwei Sätze mit Harper gewechselt, als Angela an ihren Schreibtisch stürmte und sie zu einem Einsatz mitnahm, der keinen Aufschub duldete.

Also setzte sie sich an einen der freien Schreibtische und begann am PC zu recherchieren. Auftragsziel war ein neuer Waffenhändlerring. Aktivitäten in Mittelamerika hatten sich auf die Westküste der USA ausgebreitet und derzeit war der Ring verstärkt in Los Angeles tätig. Es wurden hauptsächlich Kleinkaliberwaffen gehandelt. Kleinkaliberwaffen, die in den ärmeren Stadtvierteln reißenden Absatz fanden und in den Händen von noch halben Kindern landeten. Kleinkaliberwaffen, die illegal waren und die dringend aus dem Verkehr gezogen werden mussten. Kleinkaliberwaffen mit denen Unschuldige getötet wurden. Von Martinez hatte sie erfahren, dass BelMonte, ein Insider, vom FBI verhaftet worden war und gegen Haftminderung das Plaudern angefangen hatte. Doch es musste jemand eingeschleust werden, um die nächste Lieferung abfangen zu können und die Gang zu überführen. BelMonte berichtete, dass dem Ring eine Bar als Treffpunkt diene. Wie abgedroschen war das eigentlich? Und dass jemand gesucht wurde, der den Betrieb der Bar managen würde. Einkäufe, Betrieb, Ausschank, Personal und alles, was dazugehörte. Denn die vorherige Managerin war wegen Drogenbesitzes und -verkauf vor wenigen Tagen verhaftet worden. Und dass diese Stelle die Möglichkeit bieten würde die Gruppe zu infiltrieren. BelMonte könnte jemanden einschleusen und den Deal einfädeln. Doch das Zeitfenster war eng. Deshalb wäre es nötig, wenn BelMonte noch heute Nacht Kontakt aufnehmen würde und alles in Gang setzten würde.


Ihr Handy vibriert. Sie wirft einen Blick darauf und sieht, dass es eine Nachricht von Tim ist.

Tim: Sorry Babe. Ich muss zum nächsten Einsatz. Kann es noch ca. 10 Minuten schieben. Bin in meinem Büro.

Lucy springt von ihrem Stuhl auf und marschiert so schnell, wie möglich in Tims Büro. Zehn Minuten, um diese wichtige Entscheidung zu treffen. Es ist beschissen. Aber, so wie der bisherige Tag gelaufen ist, sind es vielleicht die einzigen Minuten, die sie kriegt.

Die Tür steht offen, sie tritt ein und schließt diese hinter sich. Als sie sich umdreht, steht Tim schon vor ihr.

„Hey." Er lächelt sie an. Und sie denkt sich wieder einmal, dass erstens dieses Lächeln und zweitens diese Metrouniform verboten gehören.

„Hey selber." Sie spürt, wie sich ihre Mundwinkel nach oben ziehen und wie sie das erste Mal, seit sie heute in Greys Büro war, lächeln kann.

Und obwohl sie beide versuchen sich der Arbeit so professionell, wie möglich zu verhalten und Körperkontakt möglichst zu vermeiden, findet sie sich in Tims Armen wieder. Und sofort entspannt sich ihr ganzer Körper. Ihr Gesicht liegt auf seiner Brust. Sie hört sein Herz schlagen. Gleichmäßig und stark. Sie spürt, wie er sie noch ein wenig näher an sich drückt. So als würde er genau wossen, dass es genau das ist, was sie braucht. Ihn. Und ihre Knie werden weich bei dem Gedanken, dass sie genau das die nächsten Wochen und Monate oder wer weiß, wie lange nicht mehr haben kann oder wird.

„Es tut mir leid. Beschissener Tag heute. Was ist los?", sein weicher Bariton umschmeichelt ihr Herz.

Sie löst sich aus seiner Umarmung. Denn, wenn sie ihn umarmt, dann ist ihr Hirn nicht ganz bei der Sache. Seine Hände verbleiben auf ihren Schultern. Sie schaut nach unten. Sieht, wie ihre Hände sich ineinander verkneten und muss sich zwingen diese still zu halten. Als sie spricht, ist ihr Blick auf die Mitte seines Metroshirt gerichtet und sie kann die Abdrücke seiner Muskeln darunter erkennen.

Verbot von Metroshirts wäre auch eine gute Idee.

„Heute früh wurde ich in das Büro von Grey gerufen."

Seine rechte Hand drückt leicht ihre Schulter und seine Daumen streichen langsam über ihr Schlüsselbein. Es ist die letzte Ermutigung, die sie braucht und dann sprudelt es aus ihr raus.

„Es gibt eine neue Undercover-Operation. Sie wollen, dass ich übernehme. Das FBI will, das ich übernehme. Und ich muss es bis heute Abend um 18:00 Uhr entscheiden. Eine Waffenring agiert in Los Angeles. Ich kann eingeschleust werden. Sie haben einen Insider verhaftet, der den nötigen Zugang liefern kann. Ich würde als Barmanagerin arbeiten und mir dann Zugang verschaffen. Ich soll Daten zur nächsten Lieferung sammeln, so dass die Hintermänner auf frischer Tat ertappt werden können und für hoffentlich den Rest ihres Lebens hinter Gittern wandern."

Erst jetzt kann sie zu Tim hochblicken. Sein Blick ist verschlossen und lässt sich nicht deuten. Sie weiß genau, welche Gedanken ihm durch den Kopf schießen. Waffenring. Gefahr. Doch genauso weiß sie, dass er sie immer unterstützen wird und egal, wie sie sich entscheidet, den Weg mitgehen wird. Und, dass er sich ihr nie in den Weg stellen wird. Denn das ist Tim. Er ist immer ihr Anker. Und ihr Unterstützer. Seine Daumen haben nicht aufgehört zu kreisen. Und es ist ein beruhigendes Gefühl.

Er schaut sie an, legt den Kopf leicht zur Seite. Weil er weiß, dass das noch nicht alles war.

„Und?"

Sie schließt die Augen, atmet durch und öffnet diese wieder. Und dann blickt sie in seine Augen.

„Es ist eine Langzeit-Undercover-Operation. Einige Wochen, wenn es gut läuft. Monate, wenn es schlecht läuft."

Das kurze Innehalten seiner Finger verrät ihn. Doch er hat sich sofort wieder im Griff. Jemand anderem wäre es nicht aufgefallen. Ihr schon. Sie schluckt kurz.

„Das könnte die Chance sein, auf die ich gewartet habe. Das würde einige Türen öffnen." Sie schluckt wieder. „Aber ich weiß nicht, ob ich gehen soll."

Ihre Hände wandern zu seinen Hüften und unter sein Shirt. Und nun streichen ihre Daumen über seine Haut. Ihre Stimme wird zu einem Flüstern.

„Ich weiß nicht, ob Wochen und Monate zu lange sind. Ich weiß nicht, ob ich das tun soll. Tun kann. Ich weiß nicht, ob wir das tun können. Tim, du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben."

Er drückt sie wieder an sich. Ihre Hände wandern unter seinem Shirt an seinem Rücken nach oben. Halten ihn. Sie spürt, wie er seine Lippen auf ihren Kopf drückt.

„Und du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben."

Die Zeit scheint stehen zu bleiben.

Sie macht fast einen kleinen Hüpfer, als er spricht.

„Du weißt, dass ich nirgends hingehen werde. Oder? Gott ich werde dich jeden Tag vermissen. Nein jede Minute. Und Kojo wird dich natürlich vermissen. Niemand mehr, der ihn mit diesem ganzen Spielzeugkram verzieht."

Ihr entweicht ein Lachen.

„Das ist kein Spielzeugkram. Das sind wichtige Utensilien für den Besten seiner Art."

„Ja sicher."

Dieses Mal ist es Tim, der sich aus der Umarmung löst. Er nimmt ihre Hände in die seinen. „Also, was wirst du tun?"

Das ist typisch Tim. Er fragt sie, was sie tun wird. Ohne sie beeinflussen zu wollen. Und egal, wie sie entscheidet, er wird den Weg mit ihr gehen. Wenn es noch möglich wäre ihn noch mehr zu lieben, dann würde sie es jetzt tun. Noch etwas tiefer für ihn fallen. Wenn das noch möglich wäre.

Doch, sie kann es nicht allein entscheiden. Sie ist im Konflikt. Zwischen dem, was ihr Herz will und dem was ihr Verstand ihr einflüstert. Sie will Tim. Sie will nicht monatelang von ihm getrennt sein. Sie will Tamara. Sie will nicht die Geburtstage ihrer Freunde verpassen, das Heranwachsen der Kinder von Angela und Wes, von Nyla und James. Sie will sich weiter mit Tims Schwester Genny über all die lustigen Geschichten aus Tims Kindheit amüsieren. Sie will die Baseballspiele von Tims Neffen sehen. Sich mit ihnen über ihre Siege freuen. Sie will mit Nolan über Smitty lachen. Aaron weiter zeigen, wie man sich als Normalo ohne Millionen in der Hinterhand durchs Leben schlägt und Celinas wilden Theorien über Energieflüsse hören. Sie will das alles. Ihr Herz will das alles. Doch ihr Verstand redet ihr ein, dass sie viele Leute enttäuschen würde, wenn sie nicht geht. Viele Leute, die ihre Karriere unterstützt haben. Die ihre Türen geöffnet haben. Und es ist ein gewisses Schuldgefühl, dass sich bei ihr einstellt.

Und deshalb stellt sie dem einzigen Menschen, den sie diese Entscheidung überlassen würde, die Frage, die sie selbst nicht beantworten kann.

„Tim, wenn ich nicht gehen soll, dann sag nur ein Wort und ich lehne ab."

Später, als sie im Van sitzt und ihr die Tränen über ihr Gesicht laufen. Und ihre Hände zittern. Und ihr Herz in tausend Teile zersprungen ist. Und sie nur Tims leblosen und blutüberströmten Körper vor sich sieht, denkt sie sich, dass sie die Frage vielleicht andersherum hätte stellen müssen. Dass dann die Antwort vielleicht eine andere gewesen wäre. Und ihr Leben nicht in Trümmern liegen würde. Tim nicht gerade im Sterben liegen würde oder bereits tot wäre.

Doch so ist seine Antwort eine andere. Und sie weiß nur, dass jede Faser ihres Herzens gehofft hatte, dass er gesagt hätte, dass sie bleiben soll. Aber das hatte er natürlich nicht. Denn Tim Bradford würde nie seine persönlichen Gefühle über das Wohl von Lucy Chen stellen. Er würde immer hinter ihr stehen, aber nie in ihrem Weg.

„Das kann ich nicht Lucy. Ich will nicht, dass du dich eines Tages fragst, ob ich dich ausgebremst habe. Und du für mich deine Karriere aufgegeben hast. Und das irgendwann zwischen uns steht. Du bist der beste Rookie, den ich jemals ausgebildet habe. Und ich kann mich nur wiederholen. Du verdienst es gesehen zu werden."

„Huu. Beste? Nicht mehr Top 5."

„Ich wusste, dass dir das zu Kopf steigt."

Und dann klopft Sergio von Tims Metro-Team an die Tür und öffnet diese.

„Serge. Wir müssen." Er nickt ihr kurz zu. „Hey Lucy!" Und damit ist er auch schon wieder weg.

Tim küsst sie nochmals kurz auf den Mund. „Heute Abend bei dir? Ich nehm' was von unterwegs mit und dann ein Film? Mit Tamara?"

Sie lächelt ihn an.

„Ja, das klingt super."

„Und Lucy, egal, wie du dich entscheidest. Ich bin für dich da. Wir machen das zusammen."

Und damit ist er weg.