KAPITEL 5
Tim kauert hinter einer Säule. Die Schüsse schlagen wahllos auf dem Bürgersteig ein. Verpassen die vielen Menschen, die überall Schutz gesucht haben. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis es ein Opfer geben wird. Sein Team ist ebenso, wie er in Deckung. Und dann tut sich eine winzige Lücke auf. Es gibt eine kleine Feuerpause und er entscheidet in die Offensive zu gehen.
„Po, Sergio, gebt mir Deckung.", hört es sich rufen. Und Po und Sergio geben ihm Deckung, denn sie sind ein eingespieltes Team. Er kann vorrücken und kann sich dem Van von hinten nähern. Er hat seine Waffe im Anschlag. Ist bereit die letzten fehlenden Meter zu machen. Er nähert sich seitlich von hinten. Eine der beiden Hintertüren blockiert seine Sicht. Er hört eine tiefe, raue Stimme im Inneren schreien. „Was soll das?"
Der Schütze kommt in sein Sichtfeld. Er hat aber noch keine freie Schussbahn, weil der Winkel zu schlecht ist. Er sieht, wie der Mann mit einer Hand nach jemanden neben ihm schlägt und dabei brüllt „Verpiss dich. Oder die nächste Kugel bekommst du ab." In der anderen Hand hat er eine Schnellfeuerwaffe, die nach vorne gerichtet ist. Aber Tim kann jetzt zuschlagen. Der Schütze ist abgelenkt. Er macht einen weiteren Schritt zur Seite, um den Schusswinkel zu verbessern. Hebt seine Waffe etwas nach oben, denn der Schütze ist groß. Er will ihm in die Schulter seiner Schusshand schießen. Ziel effektiv ausschalten, ohne zu töten. Noch ein Schritt und er ist da.
Und dann läuft alles in Zeitlupe ab. Er sieht, wie jemand, der hinter der zweiten geschlossenen Türe steht, versucht nach der Waffe des Mannes zu greifen. Tim hat freie Schussbahn, sein Finger am Abzug bewegt sich langsam Richtung Auslöser. Der Mann weicht zur Seite aus, um dem Arm der Frau zu entgehen, die mit ihm rangelt. Gleichzeitig fällt diese etwas nach vorne. Sie hat das Gleichgewicht verloren, als der Mann zur Seite ausgewichen ist. Und dann ist sie in der Schussbahn und er blickt ihr in die Augen. Und ihre Augen blicken ihn an und es ist der absolute Horror, der sich vor ihm ausbreitet. Denn er blickt in die Augen der Frau, die sein Leben ist. Die Augen, die die Welt für ihn bedeuten.
Er blickt in die Augen von Lucy und er sieht, wie sie diese vor Angst aufreißt. Und er erkennt, dass es nicht Angst um sich selbst ist. Denn sie weiß, dass er ihr nie ein Haar krümmen könnte. Und sein Instinkt hat auch bereits sein Handeln übernommen. Er hat den Abzug bereits losgelassen. Und dann erkennt er in ihren Augen die pure Panik. Panik um ihn. Denn aus dem Augenwinkel sieht er, wie der Mann neben ihr seine Waffe hebt und dann hört er einen Schuss. Es reißt ihn nach hinten. Der Schmerz ist so unvermittelt, so qualvoll. Er denkt noch, dass das echt beschissen gelaufen ist. Dass die Kugel genau den Punkt treffen muss, an dem seine schutzsichere Weste eine kleine Lücke in seinem Bauch freigegeben hat. Weil er nach oben gezielt hat und die Weste nach oben gerutscht ist. Er spürt, wie er hart mit dem Kopf aufschlägt und ihm die Waffe aus der Hand fällt. Er spürt sogar, wie das Blut zu sprudeln beginnt. Und er hört sie seinen Namen schreien. So voller Panik, wie er noch niemals jemanden in seinem Leben schreien gehört hat. Und bevor alles um ihn herum dunkel wird, denkt er nicht an sich oder seinen Schmerz, sondern nur:
„Verdammt Lucy. Jetzt wissen sie, dass du ein Cop bist. Und jetzt werden sie dich töten."
Lucy blickt in die Mündung der drei Waffen, die auf sie gerichtet sind. Ihr Blick ist nicht klar, da sie immer noch Tränen in den Augen hat. Nichtsdestotrotz sieht sie die Gesichter der drei Männer auf sich gerichtet. Voller Wut und Hass.
Als der Van scharf um die nächste Kurve biegt, werden die Insassen alle leicht nach rechts geworfen. Sie hört das Heulen von Polizeisirenen und hört die Geräusche eines Hubschraubers.
Und währenddessen wiederholt sie ständig das gleiche Mantra in ihrem Kopf.
Lassihnlebenlassihnlebenlassihnlebenlassihnleben
Mitch, der Fahrer, blafft seine drei Kollegen an. „Bindet ihr die Hände. Für alles andere ist später Zeit. Wir müssen hier weg."
Lucy wusste schon immer, dass Mitch der Schlauste der Gang ist. Deshalb ist er auch der Boss.
Sie spürt, wie Joe ihre Hände nach hinten verdreht und Schmerz sticht ihr in die Schultern. Es ist nichts Sanftes an seinen Bewegungen. Er bindet sie mit Kabelbindern fest, die er viel zu eng zusammenzieht. Sie schneiden sich in ihre Haut.
Eristnichttoteristnchttoteristnichttoteristnichttot
Dann ist plötzlich Joes Gesicht neben ihrem Ohr. „Wir unterhalten uns später noch Schätzchen." Und er stößt sie nach hinten, so dass ihr Kopf gegen die Ecke eines Regales schlägt. Sie spürt, wie ihre Haut aufplatzt und Blut an ihrem Hinterkopf herabrinnt.
Es wird eine wilde Jagd kreuz und quer durch Los Angeles. Sie weiß, dass ihre Verfolger nicht riskieren, dass der Van verunglückt. Weil sie als Polizistin drinnen sitzt und an erster Stelle steht, ihr Leben zu schützen. Joe der an der Hintertür des Vans kauert und immer wieder Schüsse abgibt, während Buck diese aufhält, dreht sich zu ihr um und lächelt sie grausam an.
„Wenn du denkst deine beschissenen Cop-Freunde kriegen uns, dann denkst du falsch. Wir haben immer einen Plan B."
Und dann schießt er die nächste Salve ab.
Erdarfnichtsterbenerdarfnichtsterbenerdarfnichtsterben
Die Sirenen werden immer leiser und sie hört den Hubschrauber nur noch in der Ferne. Der Van hat seine Verfolger abgehängt. Sie sieht durch die Vorderscheibe, dass sie sich dem Hafen nähern und plötzlich fahren sie an meterhoch aufgestapelten Containern entlang. Dann bleibt der Van stehen. Die Männer springen aus dem Wagen. Joe zerrt sie auf die Füße und dann hinter sich her. Sie sieht, wie Mitch den Kofferraum zu einem grauen Ford öffnet. Einem Allerweltsfahrzeug, wie es tausende in der Stadt gibt und sie weiß, dass die Cops sie nicht mehr kriegen werden. Sie wehrt sich, als Joe sie Richtung Kofferraum drängt, denn Erinnerungen schießen in ihr hoch. Doch die Männer sind zu stark, ihre eigenen Hände sind auf ihrem Rücken gefesselt. Sie hat keine Chance. Sie wird in den Kofferraum geschmissen. Der Deckel fällt zu und sie muss mir ihrer aufkommenden Panik kämpfen.
Sie hört seine Stimme in ihrem Kopf.
Kontrolle Chen. Atmen. Situation analysieren. Den nächsten Schritt planen.
Und das tut schließt die Augen.
Und sie sieht sein Gesicht vor ihr. Er liegt im Bett neben ihr und hat einen Dreitagebart. Seine sonst so perfekt frisierten Haare stehen ihm kreuz und quer vom Kopf ab. Es ist früher Morgen. Er lächelt sie an. Und sein Gesicht ist friedlich und absolut entspannt.
Ihr Atmung beruhigt sich.
Es dauert einige Zeit, bis das Fahrzeug anhält. Der Kofferraum geht auf und sie wird ebenso rau, wie sie hineinbefördert wurde wieder herausgezerrt. Es liegt keine Sanftheit und kein Mitleid in den Händen der Männer. Sie ist in einem Viertel, das sie nicht kennt. Der Wagen steht in einem verlassenen Hinterhof. Sie sieht viele heruntergekommenen Häuser um sich herum. Und dann wird sie durch eine Tür geschubst, stürzt und schlägt mit ihrer Stirn auf dem Boden auf. Weil ihre Hände immer noch hinter dem Rücken gefesselt sind und nichts ihren Sturz abfangen kann. Das wird ein blauer Fleck werden oder eine Beule. Aber es ist ihr egal. Sie hört, wie Joe hinter ihr laut auflacht.
Joe ist der Sadist in der Gruppe. Derjenige, der Gewalt liebt. Der keine Grenzen kennt. Derjenige, der keinen Respekt vor Frauen hat. Er zerrt sie an ihren Fesseln hoch. Dann umfassen sie seine groben Hände und schieben sich unter ihr Oberteil. Sie kämpft gegen ihn an. Aber er ist zu stark, viel zu stark. Seine Hände wandern an ihrem Bauch nach oben. Und dann drückt er ihre Brüste fest und schmerzvoll. Er rammt seinen Körper in ihren Rücken und sie spürt eindeutig, dass er hart ist. Sie spürt, wie sich Galle in ihr sammelt. Sie könnte sich übergeben. Am besten direkt in sein Gesicht.
Und dann ist sein nach billigen Schnaps und Tabak riechender Atem neben ihrem Kopf und er flüstert ihr ins Ohr: „Magst du es hart Baby? Hat er es dir hart besorgt? Dein Tim. Ich bin auch ein harter Kerl. Ich werde dich ficken. So hart, wie du noch nie gefickt wurdest."
Und die Angst kriecht in ihr hoch.
Doch Mitch reißt Joe weg und hämmert ihn gegen die Wand des engen Ganges, in dem sie stehen.
„Finger weg von ihr. Such dir ein anderes Mädchen. Reagier dich meinetwegen an der nächsten Nutte ab. Du rührst sie nicht an."
„Aber warum Boss? Ich werde doch meinen Spaß mit ihr haben dürfen. Sie ist ein Cop. Die mögen es hart. Geben es nur nicht zu."
„Du hast mich gehört. Wir schließen den letzten Deal ab. Unser ganzes Geld steckt in diesem verdammten Deal. Und wenn irgendetwas schief geht, ist sie unsere Rückversicherung. Und bis dahin hälst du dich zurück."
Joe hebt die Hände nach oben und signalisiert, dass er verstanden hat.
„Du bist der Boss."
Es geht an einigen Türen vorbei und dann in eine Küche mit direkt angrenzendem offenen Wohnzimmer. Die Wohnung ist erstaunlich ordentlich und sauber. Man schneidet ihre Fesseln auf, setzt sie auf einen Stuhl und bindet ihr die Hände und die Füße an diesem Stuhl fest. Er ist aus Metall und sie hat keine Chance irgendeine Armlehne auszureißen.
„Buck, schalt den Fernseher ein und schau, ob du was über uns findest.", befiehlt Mitch.
Buck ist der größte Schwachpunkt der Gruppe. Er hat eine kleine Tochter, wie Lucy relativ früh aus Smalltalk in der Bar herausgefunden hat. Lucy denkt sich, dass sie es über ihn versuchen muss. Das er ihre beste Chance ist, aus dieser Lage wieder herauszukommen.
Doch was dann? Um in eine Wohnung zurückzukehren, die sich leer anfühlen wird? Um in der Arbeit an seinem Büro vorbeizukommen, in dem dann jemand anderes sitzt? Um mit Kojo allein Gassi zu gehen? Wieder schießen ihr Tränen in die Augen.
Konzentrier dich Chen. Denk nach. Warte auf einen Fehler. Und dann schlag zu.
Es sind wieder seine Worte.
Eswirdallesguteswirdallesguteswirdallesgut
Sie hat den Fernseher im Blick und sieht, wie Buck durch die verschiedenen Kanäle schaltet, bevor er bei einem Nachrichtensender hängen bleibt. Sie sieht Bilder von der Verfolgungsjagd und den Schriftzug Eilmeldung.
Und dann sieht sie eine Reporterin vor dem Bürgersteig stehen, auf dem zuvor Tim gelegen hat. Der Platz ist abgesperrt und viele Cops schwirren umher. Sie sieht Angela und Nyla, die Leute verhören. Sie sieht Aaron, der hinter dem Absperrband steht und dafür sorgt, dass niemand den Bereich betritt. Sie sieht, wie Grey Anweisungen gibt. Sie sieht Nolan und Celina durch das Bild eilen. Sie sieht Tims Kollegen aus der Metroeinheit und seine Vorgesetzte Pine. Doch sie sieht ihn nicht.
„Heute hat sich mitten in Los Angeles, mitten in Wilshire ein Drama abgespielt. Hinter mir sehen sie den Ort des Geschehens. Es ist noch keine Stunde her, dass es hier eine Schießerei gab. Die Hintergründe sind unklar. Klar ist jedoch, dass durch das rasche Eingreifen der Metro ein Debakel verhindert werden konnte und es keine Verletzten oder Toten unter den Zivilisten gibt. Nach ersten Informationen konnte ein Sergeant der Metroeinheit durch seinen beherzten Einsatz den Schusswechsel beenden."
Tims Bild wird in der oberen Ecke eingeblendet.
„Wir dürfen Sergeant Tim Bradford als Held des Tages feiern. Doch es hat sich Stille über den Platz gelegt."
Es folgt eine andere Kameraeinstellung und sie sieht, dass zahlreiche Menschen sich auf der anderen Straßenseite zusammengefunden haben. Sie sieht das Blumen niedergelegt werden. Und Plakate auf denen „Danke" und „Du bist mein Held" stehen. Und dass Kerzen angezündet werden.
Ihr Herz zieht sich zusammen. Sie fängt das Schluchzen an.
Blumen, Kerzen, Schilder.
Eristtoteristtoteristtoteristtoteristtot
Dann wird die Reporterin wieder eingeblendet.
„An diesem Tag ist Los Angeles vereint und betet für das Leben von Officer Bradford. Eines Mannes, der jeden Tag auf die Straße geht, um die Bürger dieser Stadt zu schützen. Und egal, wo sie sind, beten auch sie für ihn. Denn derzeit kämpft er im Krankenhaus um sein Leben. Nach ersten Informationen ist sein Zustand als kritisch und er wird derzeit notoperiert."
Es folgt ein Schnitt ins Studio.
Lucy entweicht ein Ton, den sie noch nie von selbst gehört hat. Es ist eine Mischung aus Erleichterung, Angst, Ausweglosigkeit.
Und sie betet im Stillen jedes Gebet, dass sie kennt.
