KAPITEL 6

Die nächsten Stunden vergehen für Lucy langsam und qualvoll. Was zum einen daran liegt, dass sich der Schmerz in ihrem Körper durch ihre unbequeme Position allmählich bemerkbar machen. Und sie langsam nicht mehr weiß, wie sie diese Schmerzen ausblenden soll. Zum anderen ist da noch der seelische Schmerz und dieser ist wie ein Pfahl, den man ihr direkt durchs Herz gerammt hat. Sie muss jede Sekunde an Tim denken und daran, wie er irgendwo gerade mit dem Tod ringt.

Der Fernseher läuft immer noch. Es gibt immer neue Aufnahmen, Interviews, Vermutungen, aber es gibt keine Updates zu Tims Status. Nur, dass seine Lage kritisch ist und er immer noch operiert wird. Sie redet sich ein, dass das gute Neuigkeiten sind. Denn kritisch heißt nicht tot. Es ist sogar ein Fernsehteam vor dem Krankenhaus positioniert und berichtet in regelmäßigen Abständen. Nur, dass die Updates keine Neuigkeiten bringen. Einmal meint sie im Hintergrund Angela zu sehen, wie sie das Krankenhaus betritt.

Sie müsste es sein, die im Krankhaus bei ihm ist. Sie müsste an seiner Seite sitzen. Sie müsste seine Hand halten. Und wieder verteufelt sie ihre Lage und diese dumme Undercover-Operation. Hätte sie doch nur auf ihr Herz gehört. Und nicht auf die Stimmen, die ihr was von Verantwortung und Pflichtschuld eingeflüstert haben. Hätte sie doch nur den Mut gehabt diese Mission abzulehnen. Denn in den letzten Stunden ist ihr dies zur Gewissheit geworden. Ihr hat der Mut gefehlt Nein zu sagen. Und deshalb würde Tim jetzt vielleicht sterben. Und sie vielleicht auch.

Plötzlich ändert sich das Fernsehbild und sie muss zweimal hinschauen, bis sie erkennt was zu sehen ist. Sie sieht ein Video von sich und Tim, wie sie händchenhaltend durch die Parkgarage des LAPD laufen. Auf ihre eigene Art. Ihre Hüften berühren sich dabei mehrmals. Immer Kontakt suchend. Sie hat ihre Tasche über ihre Schulter und Tim seinen Rucksack. Sie sind beide in Alltagsklamotten. Es muss nach Schichtende sein. Sie unterhalten sich gestenreich über irgendetwas und Tim lacht über einen Kommentar von ihr. Das Video endet damit, dass Tim ihr die Tür zu seinem Truck öffnet, sie kurz auf die Lippen küsst, dann seinen Truck umrundet, einsteigt und den Motor startet. Und dann der Truck aus dem Bild fährt. Sie hat diese Aufnahmen noch nie gesehen. Da sie aber eine gute Merkfähigkeit hat und Cop-Augen, für die Tim verantwortlich sind, weiß sie das Video sofort zuzuordnen. Es wurde anscheinend während der letzten Dokumentation gedreht und dann nicht verwendet. Der Dokumentation in der es um Jack und Sava ging. In der Dokumentation, in der der Regisseur viel zu viel über ihr Privatleben wissen wollte.

Dann folgt eine Überblendung und es ist ein Schnitt aus mehreren Handyvideos zu sehen, die zeigen, wie das Feuer aus dem Van heraus eröffnet wird. Wie Tim aus der Deckung kommt und auf die Rückseite des Vans vorrückt. Wie er die Waffe im Anschlag hat. Und obwohl, sie weiß, was kommen wird, bricht ihr der Schweiß aus. Jetzt werden die Bilder zweier Handyvideos im Bild nebeneinandergelegt. Auf dem linken sieht Lucy sich selbst, wie sie mit Joe ringt und ihm die Waffe entreißen will und rechts ist ein Video eingeblendet auf dem zu sehen ist, wie Tim die letzten Schritte geht und die Waffe nach oben hebt. Sie sieht, wie sie das Gleichgewicht verliert und in die Schussbahn fällt. Und dann erfolgt ein Zoom auf ihr Gesicht und das von Tim. Beide Bilder sind verpixeln. Da die Bilder von Handykameras stammen, die das Geschehen aus der Ferne aufgenommen haben und der Zoom auf ihre Gesichter die Qualität wesentlich verschlechtert hat. Dennoch ist die plötzliche Panik in ihrem Gesicht deutlich zu sehen und das Zögern in seinem, als er erkennt, wer das plötzlich vor ihm ist. Lucy denkt sich, dass wer auch immer dieses Video zusammengeschnitten hat, auch in Hollywood arbeiten und Dramafilme drehen könnte. Und dann sieht sie, wie Joe die Waffe hochreißt und abdrückt und Tim getroffen zu Boden geht. Nun ist sie wieder voll im Bild und ihr Schrei hört sich trotz der schlechten Tonqualität der Aufnahme kein bisschen weniger hysterisch an. Dann sieht man, wie sie nach hinten gezogen wird, die Türen sich schließen und der Van davonrast.

Es erfolgt ein Schnitt zu einer Reporterin, die etwas von Drama, Heldentaten, Traurigkeit und Anteilnahme erzählt. Und dann sind Martinez und Grey vor dem Gebäude des LAPD zu sehen, die vor einer Schar Reportern stehen und mit Fragen bombardiert werden

„Sergeant Grey, es kursieren mehrere Videos im Internet von der heutigen Schießerei. Was hat eine Polizistin des LAPD in einem Wagen zu suchen, aus dem das Feuer auf unschuldige Passanten eröffnet wurde? Das ist doch Officer Chen oder? Bekannt aus mehreren Dokumentationen des LAPD?"

Grey räuspert sich.

„Ich darf ihnen hierzu nicht alle Informationen zukommen lassen, da dies die laufenden Ermittlungen gefährden würde. Ich kann bestätigen, dass es ich bei der Polizistin im Transporter um Officer Chen handelt. Weiterhin darf ich ihnen die Information zukommen lassen, dass wir kurz vor der Schießerei von ihr über eine Gefahrensituation informiert wurden. Weshalb auch die Metroeinheiten so schnell vor Ort waren und durch ihre hervorragende Arbeit zivile Opfer verhindern konnten. Ich darf den betroffenen Einheiten in unser aller Namen unseren Dank aussprechen. Officer Chen wurde vor ein paar Woche mit einer Undercover-Mission betraut. Weshalb sie sich heute in dem Wagen befand, von dem aus dem Anschlag verübt wurde. Officer Chen hat alles in ihrer Macht Stehende getan, um zivile Opfer zu verhindern. Und dabei ihr eigenes Leben auf's Spiel gesetzt. Weitere Informationen zum Tatgeschehen darf ich ihnen noch nicht mitteilen. Die Ermittlungen laufen noch. Leider ist durch die tragischen Ereignisse heute die Tarnung von Officer Chen aufgeflogen, so dass wir zum jetzigen Zeitpunkt davon ausgehen müssen, dass sie von den heutigen Attentätern festgehalten wird und sich in Lebensgefahr befindet."

Nun schießen viele Hände nach oben. Eine ältere Reporterin in einem grauen Hosenanzug darf ihre Frage stellen.

„Gibt es eine Spur, wo sich Officer Chen gerade befindet?"

Martinez tritt an das Mikrofon.

„Dazu dürfen wir, um die Ermittlungen nicht zu gefährden, keine Auskünfte geben. Aber sie können sich sicher sein, dass das FBI und das LAPD alles tun werden, um sie zu finden. Und wir bitten um ihre Mithilfe. Jede noch so unwichtig erscheinende Information ist wichtig. Wir haben eine Hotline eingerichtet, an die sich Bürger wenden können. Die Kontaktdaten finden sie auf der Homepage des LAPD. Bitte halten sie ihre Augen offen. Wenn sie etwas sehen, melden sie dies bitte umgehend. Greifen sie aber selbst nicht ein. Auf unserer Seite finden sie auch die entsprechenden Fahndungsfotos der Schützen."

Wieder meldet sich fast jeder Reporter per Handzeichen und bittet um das Wort. Grey nickt einem jungen Reporter zu, der in der ersten Reihe steht.

„Gibt es Neuigkeiten zu Tim Bradford, dem Metro-Sergeant, der angeschossen wurde?"

„Nein, er befindet sich aktuell noch im Operationssaal. Sein Zustand gilt weiterhin als kritisch."

Die nächste Frage wird einfach in den Raum geworfen, ohne dass irgendjemanden das Wort erteilt worden wäre.

„Lucy Chen und Tim Bradford sind doch bekannt aus mehreren Dokumentationen des LAPD? Aus diesen geht auch hervor, dass die beiden ein Paar sind. Was können sie uns dazu sagen?"

Wenn man Grey kennt, merkt man, dass ihm diese Frage mehr als unangenehm ist. Lucy könnte das lustig finden, wenn es nicht so ernst wäre. Und wenn es nicht um sie gehen würde.

„Das Privatleben meiner Mitarbeiter ist … nun ja privat. Bitte verstehen sie, dass ich dazu keine Auskunft geben werde."

Doch natürlich lassen die Reporter nicht locker. Und Lucy versteht es. Würde es um jemand anders gehen, fände sie das ganze Drama auch interessant. Sie liebt Trash-Dokus. Und sie kommt sich vor, als wäre sie gerade mitten in einer.

„War Tim Bradford bewusst, dass seine Freundin in dem Transporter war?"

Oh, das ist eine geschickte Frage. Denn, wenn Grey die Frage so hinnimmt, ist auch klar, dass sie und Tim ein Paar sind.

„Nein, das war es nicht. Zu diesem Zeitpunkt wussten er nicht, dass sie in dem Transporter war."

Und da ist die Bestätigung. Er hätte auch sagen können, dass Sergeant Bradford nicht klar war, dass Officer Chen im Transporter war. Aber sie kann es Grey nicht übelnehmen. Erstens ist jedem, der sie schreien gehört hat, also allen, die das Video gesehen haben, sowieso klar, wie sie zu Tim steht. Und zum anderen, weiß sie, dass sich Grey unglaubliche Sorgen um sie und Tim macht. Da kann so etwas schonmal durchrutschen.

Jetzt wird ein Mann, den sie auf Mitte 30 schätzt, das Wort erteilt. Er wirkt ruhig, aber auch so, als würde er nun gleich die Frage seines Lebens stellen.

„Sergeant Grey! Vielen Dank, dass sie unsere Fragen beantworten. Es ist uns hier allen klar, wie schwierig die Situation für sie ist. Aber sie müssen auch verstehen, dass wir alle daran interessiert sind die Helden der täglichen Polizeiarbeit zu ehren. Und nach dem heutigen Tag und ihren Informationen ist klar, dass Officer Bradford und Officer Chen das Leben vieler Menschen geschützt haben. Und wir können nur hoffen, dass sie ihren Einsatz nicht mit ihrem eigenen Leben bezahlen."

Oh, der Mann ist gut. Grey ist integer, steht hinter seinen Leuten und hat immer das Wohl des LAPD im Blick. Aber für persönliche Schmeicheleien ist er immer offen. Lucy sieht, wie sich seine Brust leicht nach oben hebt und sein Blick etwas stolz wird. Der Reporter hat ihn. Und Lucy ist klar, dass er einer dieser sensationsgierigen Reporter ist. Der für eine Klatschzeitung arbeitet und nun auf eine möglichst dramatische Aussage hofft. Damit seine Zeitung hohe Auflagezahlen verkaufen kann. Sie ist gespannt, was nun kommt und was er aus der Geschichte macht.

„Ich habe mir glaube ich jedes Handy-Video angesehen, dass im Umlauf ist und für mich stellt sich die Situation, wie folgt dar: Sergeant Bradford ist auf dem Weg einen Attentäter zu stellen. Ihm gelingt es sich unbemerkt in Schussposition zu bringen. Was er zu diesem Zeitpunkt nicht weiß ist, wie sie gerade bestätigt haben, ist, dass seine Freundin Officer Chen in dem Transporter ist und in genau demselben Moment versucht dem Schützen die Waffe aus der Hand zu reißen. Und dann passieren mehrere Dinge auf einmal. Officer Bradford setzt zum Schuss an und im gleichen Moment stürzt Officer Chen in die Schuss-Bahn. Er hat kein sauberes Schussfeld mehr und es ist nicht sicher, wen er treffen wird, sollte er abdrücken. Er erkennt dies und drückt den Abzug nicht. Und riskiert damit, dass er selbst tödlich verletzt wird. Ist es nicht so, dass Tim Bradford, um seine Freundin zu schützen sein eigenes Leben riskiert hat? Ist es nicht so, dass er in diesem Moment bereit war für seine Freundin zu sterben?"

Jeder Kopf dreht sich nun zu Grey. Es herrscht Stille auf dem Platz. Im Hintergrund hört man den Straßenverkehr und die Glocken einer Kirche schlagen. Warum müssen genau jetzt diese Glocken schlagen, fährt es Lucy durch den Kopf. Als wäre die Frage so schon nicht sensationsheischend genug. Greys Blick wird ernst und seine Lippen zu einem schmalen Strich.

„Diese Frage werde ich nicht beantworten."

Aber es bedarf keiner Antwort, damit alle wissen, dass dies ziemlich nah an der Wahrheit ist. Lucy war dies bereits in dem Moment klar gewesen, als sie in seine Augen geblickt hatte. Denn sie kann ihn lesen, wie ein Buch. Sie hat es an seinem Blick gesehen. So wie sie es zuvor in so vielen Blicken von ihm gesehen hatte. Es ist seine Art der Liebe. Ihre Sicherheit ist immer das Wichtigste für ihn. Er hätte schießen können. Die Chance wäre da gewesen, dass er Joe getroffen hätte. Aber er hatte nicht geschossen, weil das Risiko dabei sie zu treffen, genauso da gewesen war. Und er wusste, dass er nur diese eine Chance bekommen würde. Und dass wenn er nicht schießt, der Attentäter schießen wird. Er war bereit gewesen zu sterben. Und sollte er sterben, würde sie in ihrem ganzen Leben nicht darüber hinwegkommen. Es würde sie zerstören.

Martinez tritt an das Mikrofon.

„Die Pressekonferenz ist beendet. Wir danken für ihre Zeit. Für weitere Fragen steht ihnen die offizielle Presseabteilung des LAPD zur Verfügung."

Es erfolgt wieder ein Schnitt und dann sieht sie sich selbst mit Tim in ihrem Wohnzimmer sitzen. Die Szene erkennt sie sofort. Sie ist aus der Doku über Jack und Sava. Es ist das Interview, das sie und Tim zusammen am Ende der Doku gegeben haben. Das Interview, bei dem Tim so angepisst von dem Interviewer war, der ständig seine und Lucys Beziehung in Frage gestellt hatte, dass er ihn am Ende aus ihrer Wohnung geschmissen hat. Was keiner weiß, ist dass sie nachdem sie Sushi Essen waren und wieder zurück in ihrer Wohnung waren genau auf der Theke, die hinter ihnen zu sehen ist, den wohl innigsten Sex in ihrer Beziehung hatten. So als würden sie sich gegenseitig beweisen wollen, wie falsch der Interviewer gelegen hatte.

Wir stehen woanders.

Und wo wäre das.

Wenn sie das nicht wissen, dann haben sie nicht richtig zugehört.

An einem Ort der Ehrlichkeit, des Respekts und der Liebe?

Ja, ich finde das trifft es gut.

Aber ist das eine Garantie, dass ihre Beziehung erfolgreich wird, da wo die andere scheitert?

Wissen sie, natürlich nicht. Aber im Augenblick, muss ich sagen, sind Tim und ich an einem sehr guten Punkt. Und das ist alles, was zählt.

Eins lernen wir sehr schnell, als Polizisten. Die Zukunft ist nie sicher.

Ja, jederzeit könnte etwas passieren. Jedem von uns.

Es erfolgt eine Schwarzblende. Und dann wird ihr Bild eingeblendet mit einem Aufruf Informationen über ihren Verbleib unverzüglich dem LAPD zu melden. Dann werden mehrere Bilder eingeblendet, auf denen Joe zu sehen ist, wie er hinten im Van steht. Und auch Bilder, die Mitch am Steuer des Vans zeigen. Es folgt ein Aufruf zu melden, wenn diese Männer gesehen werden. Und dann folgt ein Live-Bild des Platzes, auf dem der Anschlag verübt worden war. Und sie sieht eine riesige Menschenmenge dort stehen. Ein Meer von Blumen und von Kerzen. Von Schildern mit Genesungswünschen und Aufrufen durchzuhalten. Sie sieht ihren und Tims Namen mehrmals auf verschiedenen Schildern stehen. Sie sieht Menschen, die beten und die ihnen Respekt zollen.

Und ihr läuft eine Flut von Tränen über ihr Gesicht. Geräuschlos. Sie ist nicht allein. Und Tim ist nicht allein.

Und Joe steht auf und hämmert auf den Ausschalter des Fernsehers. Und dann tritt er auf sie zu und verpasst ihr eine solche Ohrfeige, dass es ihren ganzen Kopf brutal nach hinten wirft und ihr schwarz vor Augen wird. Und sie in Dunkelheit versinkt.