KAPITEL 7

Tim weiß, dass er träumt. Aber es ist so ein bittersüßer Traum. Und er will aus diesem nicht aufwachen.

Was wird das? Ich bleib noch etwas bei dir. Das musst du nicht. Ich weiß.

Das Risiko lohnt sich nicht. Und wenn doch?

Frag mich nochmal. Danach.

Das ist die bessere Story für die Enkelkinder. Jetzt haben wir schon Enkelkinder?

Sorry. Not Sorry.

Willst du das Essen überspringen?

Eines Tages wirst du ein prima Vater.

Oh Babe.

Er sieht ihr Gesicht vor sich. Ihre Haare, die ihr über die Schultern nach unten fallen. Er liebt es dieses zwischen seinen Fingern zu drehen, wenn sie gemeinsam einen Film anschauen. Sieht ihre braunen Augen, die ihn voller Liebe anschauen. Und die immer auf diese spezielle Art aufblitzen, wenn er etwas Tim-Typisches sagt, wie sie es nennt. Er sieht, wie sie ihn anlächelt mit dem Lächeln, dass sie nur ihm schenkt.

Und dann wandelt sich das Bild und er sieht, wie sich ihr Lächeln in Panik verwandelt. Und er hört, wie sie seinen Namen schreit.

Und er schlägt die Augen auf und kann nur „Lucy" schreien. Dass jedoch eher, wie ein Krächzen klingt. Und er weiß, dass er zu ihr muss. Denn sie werden sie töten. Wenn sie nicht schon tot ist.


Angela sitzt auf einem dieser unbequemen Krankenhausstühle und denkt sich, warum noch niemand auf die Idee gekommen ist, für bequeme Stühle zu sorgen. Das wäre doch das Mindeste, wenn man dasitzt und hofft, dass ein geliebter Mensch aufwacht.

Tim ist mehrere Stunden notoperiert worden. Er hat viel Blut verloren, ansonsten aber einfach nur unglaubliches Glück gehabt. Die Kugel hat alle lebenswichtigen Organe verpasst. Das so viel Blut geflossen war, lag nur daran, dass Tim am Morgen mit Kopfschmerzen aufgewacht war und eine Aspirin genommen hatte. Einen Blutverdünner. Außerdem hat ihn der harte Aufschlag auf seinen Kopf unverzüglich ausgeknockt. Weswegen er auch eine leichte Gehirnerschütterung hat. Das liegt nur an seinem Dickschädel, denkt sich Angela. Jeder andere hätte eine schwere Gehirnerschütterung erlitten. Die Ärzte sind sich sicher, dass er mit ein paar Tagen Ruhe wieder vollkommen genesen wird.

Angela schnauft. Ein paar Tage Ruhe? Niemals. Sie kann froh sein, wenn sie Tim davon abhalten kann, sobald er aufwachte seine Infusionsnadel zu ziehen und loszustürmen, um Lucy zu suchen.

Denn auch, wenn Tim bisher keine Aussage machen konnte, gibt es Aufnahmen von mehreren Überwachungskameras, Handys und genügen Zeugen. Nicht zuletzt Po und Sergio von der Metro. Es war eine Sache von Sekunden und eine Verkettung von unglücklichen Umständen. Und so hatte nicht Tim den Schuss abgegeben, sondern der Schütze aus dem Van. Und Tim war blutüberströmt zusammengebrochen.

Und Lucy hatte seinen Namen geschrien. Wie war ihr das zu verdenken? Angela hat auf den Aufnahmen die absolute Panik auf ihrem Gesicht gesehen, als Tim getroffen wurde und das Blut zu fließen begann.

Problem ist nur, dass Lucy in diesem Moment ihre ganze Tarnung hat auffliegen lassen. Und jetzt wird sie vermisst. Und niemand würde Tim aufhalten können, sobald er aufwacht. Niemand, außer vielleicht sie. Und deshalb sitzt sie auf diesem unbequemen Stuhl und wartet, dass er die Augen aufschlägt. Statt im Revier bei der Suche nach Lucy zu helfen. Bei der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Angela kann nicht fassen, dass sich die Geschichte wiederholt. Doch sollten sie dieses Mal zu spät kommen, würden sie nicht nur Lucy verlieren. Sondern auch Tim.

Plötzlich hört sie Tim ein Geräusch von sich geben und sieht, wie er die Augen aufschlägt. Sie ist in nur einer Sekunde bei ihm und legt ihm die Hand auf die Brust, um ihn davon abzuhalten, sich aufzurichten.

Sie sieht, wie er sich umschaut und dann die Erkenntnis durchsickert, dass er in einem Krankenhausbett liegt. Dann findet sein Blick den ihren. Seine Stimme ist schwach und kratzig, wie eben bei jemanden, der nach einer Narkose wieder aufwacht.

„Lucy?"

Angela schließt kurz die Augen. Jetzt kommt der unangenehme Part.

„Das ganze LAPD und das FBI sind auf der Suche nach ihr. Wir werden sie finden."

„Ich muss ins Revier." Und wie vermutet legt er seine Hand auf die Infusionsnadel. Doch Angela ist schneller, weil sie damit gerechnet hat und zieht seine Hand wieder weg.

„Das wirst du schön bleiben lassen. Du nützt niemanden, wenn du nach ein paar Schritten zusammenbrichst. Hier trink das."

Und damit drückt sie ihm ein Glas Wasser in die Hand. Man kann sehen, dass die Narkose noch nachwirkt, denn Tim trinkt das Wasser ohne weitere Rückfragen in wenigen Schlucken aus. Gut.

Sie nimmt ihm das Glas anschließend wieder ab und stellt es auf den Nachttisch. Dann hebt sie den Finger und schaut ihm mit dem Blick an, der sogar Verbrecher zusammenzucken lässt.

„Hör mich erst an. Ok?"

Er nickt, doch sie weiß, dass Anhören nicht heißt, dass sie ihm einen langen Vortrag halten kann, sondern, dass sie vielleicht 30 Sekunden bekommt. Hochgerechnet. Wenn er geduldig ist.

„Wir wissen, dass Lucy noch lebt."

Tim ist ein beherrschter Mann. Aber die Vielzahl der Emotionen, die in diesem Moment über sein Gesicht wandern, hat sie noch nie bei ihm gesehen.

„Wir haben Bilder aus einer Überwachungskamera im Hafen. Dort wurde das Fluchtauto gewechselt. Und Lucy ist auf den Bildern zu sehen. Wenn sie sie hätten töten wollen, hätten sie sie gleich im Van erschossen. Also gehen wir davon aus, dass es einen Grund gibt, warum sie noch lebt. Und das verschafft uns Zeit. Die ganze Stadt sucht nach ihr. Wir werden sie finden."

„Ich werde sie finden." Und er versucht wieder sich aufzusetzen. Doch ihr gelingt es wieder ihn nach unten zu drücken. Was daran liegt, dass er nach der Operation noch viel zu schwach ist.

„Nein Tim, du wirst hierbleiben, bist du dich erholt hast. Und ich schwöre dir, dass ich dich persönlich an dieses Bett ankette, wenn es nötig ist." Sie meint es todernst. Und er weiß, dass sie es todernst meint.

Ihm springen Tränen in die Augen.

„Bitte Ang. Ich kann nicht hier liegen, während sie irgendwo da draußen ist. Und sie ihr wer weiß was antun."

„Tim, Lucy ist stark. Sie ist clever. Und eine Kämpferin. Und sie ist verdammt gut in ihrem Job. Sie kommt mit solchen Situationen klar. Sie wird durchhalten. So lange wie es nötig ist. Ich weiß es ist schwer, aber du musst wie ein Polizist denken und nicht wie ihr Freund. Du bist nicht in der Verfassung ihr momentan zu helfen. Du wärst beinahe verblutet. Und eines ist sicher. Sobald wir Lucy gefunden haben und sie erfährt, dass du frühzeitig das Krankenhaus verlassen hast … dann möchte ich nicht in deiner Haut stecken."

Daraufhin entweicht Tim ein leises Schnauben.

Sie sieht, wie er seine Augen schließt und mit sich kämpft. Und sie kann nur hoffen, dass der rational denkende Tim die Oberhand gewinnt. Wenn es Tim im Beschützermodus ist, wird sie ihn anketten müssen.

„Wenn ihr was passiert …"

„Ich weiß Tim."

Seine Augen sind immer noch geschlossen.

„Isabel zu verlieren war hart und es hat mich fast zerstört. Aber Lucy … Lucy zu verlieren würde mich vernichten." Sie sieht, wie sich weitere Tränen in seinen Augen bilden.

„Ich weiß Tim."

„Hier zu liegen und NICHTS zu tun …"

„Ich weiß Tim."

Sie sagt nichts mehr und wartet, bis er alles in seinem Kopf durchspielt. Bis er alle Möglichkeiten durchgeht und abwägt, was er tun kann. Was er tun muss. Sie überhört fast seine nächsten Worte, weil sie so leise sind.

„Gut." Sie atmet bei seiner Antwort erleichtert auf.

Angela greift nach den Handschellen, die auf dem Nachttisch liegen.

„Dann kann ich die gottseidank wieder einstecken."

Tim schaut sie entsetzt an. „Du wolltest mich doch nicht wirklich hier anketten?"

Angela lässt die Frage unbeantwortet. Sie zieht nur ihre Augenbrauen nach oben, bevor sie weiterspricht.

„Ich habe mit dem Doktor gesprochen. Du wirst noch weitere Bluttransfusionen benötigen. Erst, wenn diese abgeschlossen sind, ist überhaupt daran zu denken, dass du entlassen wirst. Aber nur, wenn du ab dann rund um die Uhr unter Beobachtung stehst. Wes und ich werden Jack zu seiner Oma bringen. Dann kannst du in seinem Zimmer schlafen. Tamara zieht für die nächsten Tagen zu Genny. Du sollst beide übrigens anrufen, sobald du dazu in der Lage bist. Wir werden dich, solange du hier bist, regelmäßig auf dem Laufenden halten und es könnte auch sein, dass wir eine Kopie der ein oder anderen Akte aus Versehen in der Tasche haben. Das ist der Deal Tim und auf mehr kannst du nicht hoffen. Schlag ein oder lass es bleiben."

Angela steht nun mit verschränkten Armen vor ihm und blickt auf ihn hinab. Auch, wenn er mit ihr diskutieren wollen würde, wäre er dazu gerade nicht in der Verfassung. Er merkt, wie er schläfrig wird. Was wohl an den Nachwirkungen der Narkose liegt.

Er streckt seine Hand zu ihr aus. „Gut, ich akzeptiere." Angela nimmt seine Hand in die ihre und schüttelt sie. Der Deal ist besiegelt.

„Also, wie lange?"

„Bis übermorgen." Tim schnauft tief durch. Er hat auf einen früheren Zeitpunkt gehofft, aber er weiß auch, dass zwei Tage ein guter Deal sind. Dass Angela hart mit den Ärzten verhandelt hat. Und er ist ihr unendlich dankbar, was sie in der kurzen Zeit alles für ihn arrangiert hat. Er nickt ihr zu.

„Danke Ang."

„Jederzeit Tim."

Sie wendet sich Richtung Tür, um zu gehen, dreht sich im Türrahmen stehend aber nochmals zu ihm um.

„Äh Tim. Beim Fernsehen solltest du beim Zappen die Nachrichtensender vielleicht überspringen. Weißt du, du bist jetzt sowas wie der Held der Stadt. Sie werden dir wahrscheinlich irgend so eine komische Medaille umhängen wollen."

Tim verdreht die Augen nach oben. Er hasst öffentliche Aufmerksamkeit. Kurz kommt ihm seine letzte Auszeichnung in den Sinn. Das Schönste daran war der stolze Blick von Lucy gewesen. Und natürlich, dass sie sein Foto anschließend als ihren neuen Sperrbildschirm verwendet hatte. Auch, wenn er dies nie zugeben würde. Er kann sich noch genau daran erinnern, wie sie damals nebeneinander auf einer Bank Platz genommen hatten, um auf Jackson und ihn anzustoßen. Und wie sie beiden viel zu nah beieinandergesessen hatten. Immer wieder hatte ihr Bein oder ihr Arm den seinen gestreift und jedes Mal, war es wie ein Stromschlag gewesen, der durch seinen Körper gezuckt war.

Angela ist anscheinend noch nicht fertig und sie hat nun ihr teuflisches Lächeln aufgesetzt.

„Noch was. Ich weiß ja, wieviel Freude dir die Dokumentationen gemacht haben, die über unsere Arbeit gedreht wurden. Tja, und wenn du das schon so toll fandest …", dabei hebt sie ihre Arme nach oben und macht beim Wort toll Gänsefüßchen nach, „… dann wirst du nun so richtig begeistert sein. Es hat nur ein paar Stunden gedauert, bis die Medien die Verbindung zwischen dem Helden der Stadt, die Frau im Van und den Polizisten aus den Dokumentationen gefunden haben. Und dann haben sie sich die ganzen Handyvideos von den Leuten vor Ort besorgt und voi`la … jetzt seid ihr auf allen Nachrichtensendern das Pärchen des Jahres. Und ihr habt sogar einen eigenen Hashtag. Google mal Chenford."

Damit dreht sie sich um und verlässt schnellstmöglich das Zimmer und lässt Tim mit einem schockierten Blick zurück.