KAPITEL 8

Als Lucy wieder zu Bewusstsein kommt, hält sie ihre Augen geschlossen. Sie spürt die Sonne auf ihrem Gesicht. Sie muss die ganze Nacht bewusstlos gewesen sein. Sie merkt, wie Übelkeit in ihr hochsteigt. Sie zählt in ihrem Kopf bis zehn, um das Gefühl zu verdrängen. Was gelingt. Nicht zu stöhnen, ist da schon wesentlich schwieriger. Ihre Hände und Füße sind taub. Ihre Schultern schmerzen von der unbequemen Position und da, wo Joes Schlag sie getroffen hat, fühlt sie, wie ihre Wange glüht.

Sie hört, dass die Männer miteinander reden. Und zwar über den anstehenden Waffendeal. Den Deal, den sie noch durchziehen wollen. Soweit sie es versteht, soll der Handel in fünf Tagen über die Bühne gehen. In einem Lagerhaus im West Channel des Hafens. Geld gegen Waffen. Die Waffen kommen mit einem Schiff. Dann findet die Geldübergabe statt. Sie hört, wie beredet wird, dass sie zum Deal mitgenommen wird, falls die Polizei auftaucht. Um sie als Druckmittel zu verwenden. Wenn alles gut geht, soll sie an Bord des Schiffes gebracht werden und auf offenere See erschossen und ihre Leiche entsorgt werden. Joe fragt, ob er es ihr vorher nochmals besorgen dürfe. Damit sie nochmals eine schöne Erinnerung hat, bevor ihre Leiche von Fischen gefressen wird. Mitch meint, dass diese Belohnung natürlich drin wäre. Wenn er sich bis dahin zusammenreißt. Die Übelkeit nimmt jetzt doch wieder zu und sie muss hart kämpfen, dass sie sich nicht übergeben muss.

Fokus Bambie. Beschäftige die nicht mit Dingen, die du nicht der Hand hast. Konzentrier dich auf den nächsten Schritt.

Es ist seine Stimme, die sie wieder zurückbringt. Es ist immer seine Stimme.

Als sie genug gehört hat, riskiert sie es ihre Augen zu öffnen. Momentan ist sie vom Licht geblendet und muss ihre Augen gleich wieder zukneifen. Noch ein paarmal blinzeln und sie hat sich an das Tageslicht gewöhnt. Sie sieht die vier Männer an einem Tisch sitzen. Um sie verstreut sind Pizzaschachteln und Getränkedosen.

Umfeld beobachten. Was sehen deine Cop-Augen?

Ihre Augen sehen, dass drei der Männer eng beieinandersitzen. Mitch, Joe und Garret. Buck sitzt etwas abseits. Und hat sich in seinem Stuhl nach hinten gelegt. Seine Finger spielen nervös mit dem Henkel an seiner Dose. Sein Körper ist steif. Und drückt Ablehnung aus. Denkt sie. Sicher kann sie sich nicht sein. Vielleicht interpretiert sie zu viel in seine Haltung hinein und er ist einfach nur in Gedanken. Aber schon in der Bar konnte sie mehrmals beobachten, dass Buck nach Kommentaren von Joe mehrmals angeekelt das Gesicht verzogen hat. Nur leicht und jedem, der nicht genau hinschaut, wäre dies entgangen. Ihr nicht.

Buck ist ihre beste Chance. Und sie gedenkt diese zu nutzen.

Sie räuspert sich und alle Augen wenden sich zu ihr um.

„Na sie mal, wer wieder unter uns ist." Mitch erhebt sich und bewegt sich auf sie zu. Er fasst mit seinen Händen ihr Gesicht an und dreht es nach links und rechts.

„Hey Garret, hol mal ein Glas Wasser für unser Schätzchen hier."

Sie sieht, wie Garret aufsteht, ein Glas aus dem Schrank nimmt und es am Wasserhahn der Spüle auffüllt.

„Wir werden dir jetzt die Fesseln abnehmen. Dann kannst du ins Bad gehen und dich etwas frisch machen. Und pinkeln. Buck und Garett werden dich begleiten und wenn du irgendetwas versuchst, dann werden wir viel Spaß mit dir haben. Verstanden."

Ihre Stimme ist eher ein Krächzen.

„Keine Angst, ich könnte gerade nichts unternehmen, wenn ich auch wollte. Dank deines übergroßen Freunds da hinten, dreht sich in meinem Kopf alles."

Zeig ihnen nicht, wie stark du bist.

Joe lacht auf. „Na hat dir wohl gefallen, mal so richtig zärtlich angefasst zu werden."

Garret kommt mit dem Wasser. Mitch nimmt ihr die Fesseln ab und dann reicht ihr Garret das Glas. Es fällt ihr fast aus der Hand, da ihr Hände sich taub anfühlen und das Blut nur langsam anfängt zurückzufließen. Es gelingt ihr aber dann es an ihre Lippen zu setzten.

Sie wusste gar nicht, dass Leitungswasser so wunderbar schmecken kann.

„So dann ab ins Bad mit dir. Und wenn du dich ordentlich benimmst, kriegst du dann vielleicht auch ein Stück Pizza." Mitch packt sie grob an den Oberarmen. „Wir können es auf die harte Art machen und du bekommst jeden Tag nur Wasser und ein kleines Stück Brot oder du benimmst dich und du darfst unsere Abfälle essen. Es liegt an dir."

Ihr Fluchtplan entwickelt sich in ihrem Kopf. Sie hat fünf Tage Zeit. Sie wird kooperieren und das brave Mädchen spielen. Sie muss zu Kräften kommen. Sie braucht alles an Essen und Trinken, was sie bekommen kann. Sie wird die Jungs in Sicherheit wiegen und dann wird sie bei jeder Möglichkeit, versuchen Buck zu beeinflussen und beobachten, ob sich eine Möglichkeit ergibt zu verschwinden.

Sie steht auf und schwankt. Auch ihre Füße fühlen sich tumb an. Garrets Arm schraubt sich um ihren Oberarm, um sie aufzufangen. Sie bleibt kurz stehen und wartet, bis sie ihre Füße wieder spürt.

„Ich weiß nur nicht, wo das Badezimmer ist."

Buck geht voraus und zeigt ihr den Weg. Garret bleibt hinter ihr. Sie vertrauen ihr kein bisschen. Buck öffnet eine Tür am Ende des Ganges.

Lucy schaut ihm beim Vorbeigehen in die Augen. „Würde es vielleicht auch genügen die Türe offen stehen zu lassen." Sie atmet kurz durch „Bitte."

Buck und Garret schauen sich an und dann nickt Garret. „Keine Spielchen, sonst wird dich in Zukunft Joe auf die Toilette begleiten." Dabei wirft er ihr einen eindeutigen Blick zu. Sie betritt das Bad und atmet erleichtert auf, als sie sieht, dass die Kloschüssel hinter der Tür ist. Wenigstens diese Peinlichkeit bleibt ihr erspart. Sie sieht, dass das Fenster vergittert ist. Als sie ihre Blase entleert hat, geht sie zum Waschbecken. Unauffällig schaut sie sich um. Es ist nichts im Raum, was ihr weiterhelfen würde. Sie bespritzt ihr Gesicht und ihren Nacken mit Wasser und entfernt das Blut, so gut, wie möglich. Im Spiegel sieht sie, dass ihre Wange angeschwollen ist und blau schimmert. Auf ihrer Stirn hat sich eine Beule gebildet. Als sie diese berührt, zuckt sie schmerzhaft zusammen. Sie nimmt einen Waschlappen, der auf einem Regal liegt und schaut die beiden Jungs wieder fragend an.

„Meinetwegen.", murmelt Buck. Sie dreht den beiden den Rücken zu und zieht dann ihr Oberteil aus. Dann wäscht sie sich so gut ab, wie es geht. Es ist eine Wohltat, auch, wenn sie spürt, wie vier Augen sie von hinten mustern. Es ist keine Option ihren BH zu öffnen und auszuziehen. Also wäscht sie einfach über diesen drüber. Dann schnappt sie sich ein Handtuch, trocknet sich ab, zieht ihr Oberteil wieder an und geht mit Garret und Buck in die Küche zurück. Sie kommt an drei verschiedenen Türen vorbei. Der Rest des Ganges ist leer. Keine Einrichtungsgegenstände, keine Schränke, keine Regale, kein Fenster. Die Haustür am Ende schaut stabil aus und sieh sieht, dass sie mit zwei Extraschlössern gesichert ist. Sie darf sich an den Küchentisch setzten und man schiebt ihr ein kaltes Stück Pizza und erneut ein Glas Wasser hin. Ihr Magen knurrt und sie beißt gierig in die Pizza.

Es ist eine Pizza mit Champions und sie sieht sich zusammen mit Tim in einem Restaurant an Strand sitzen. Sie stiehlt ihm mir ihrem Löffel seine Vorspeise. Weil sie weiß, dass darin Pilze sind und er diese nicht mag. Er lehnt sich zurück und sagt „Nimm sie."

Sie muss sich zusammenreißen, dass ihr die Emotionen nicht entgleiten. Ihr liegt es auf der Zunge zu fragen, ob Tim die OP überlebt hat. Aber das wäre falsch. Psychologisch gesehen, sollte sie die Jungs möglichst wenig daran erinnern, wer sie wirklich ist. Damit, der Gedanke, dass sie ein Cop ist in den Hinterkopf wandert. Sie sie nur als schwaches Mädchen sehen. Sie muss ihre Rolle perfekt spielen. Wenn Mitch, Joe, Buck und Garret nur einige Prozent weniger aufpassen, kann das für sie der Unterschied zwischen Leben und Tod sein. Außerdem bezweifelt sie, dass die Antwort zu Tims Zustand sie weiterbringen würde. Sie konnte gelogen oder wahr sein. Sie würde danach genauso wenig wissen, wie davor.

Mitch setzt sich ihr gegenüber auf einen Stuhl.

„So, Officer Chen. Das ist mal eine Überraschung. Ich muss zugeben, dass du verdammt gut warst als Li Solo. Ich habe dir die Geschichte abgekauft und wäre nicht darauf gekommen, dass du ein dreckiger Undercover-Cop bist."

Lucy nickt nur. Sie weiß, dass jedes Wort von ihr verschenkt ist.

„Also, als Li hast du mir besser gefallen, da warst du wesentlich gesprächiger."

Er nimmt einen Schluck aus einer Getränkedose.

„Ich erzähl dir jetzt, wie das abläuft. Wir haben noch einen Deal zu erledigen. Bis dahin bleibst du schön bei uns. Und, wenn du gut mitspielst und deine Cop-Freunde uns in Ruhe lassen, dann darfst du am Ende vielleicht wieder nach Hause."

Auch wenn sie vorher das Gespräch nicht belauscht hätte, hätte sie ihm nicht geglaubt. Niemand lässt einen Zeugen laufen.

„Wir werden dich da hinten im Wohnzimmer an das Heizungsrohr anketten. Du bekommst sogar eine Matratze von uns. Soll niemand behaupten, dass wir dich schlecht behandeln. Es wird immer jemand von uns im Raum sein. Also denk nicht mal dran, was abzuziehen. Dreimal am Tag darfst du ins Bad und kriegst etwas zu Essen und zu Trinken. Wenn du irgendetwas tust, was uns nicht gefällt, ketten wir dich wieder an den Stuhl und reduzieren deine Mahlzeiten. Wenn du dich anständig aufführst, können wir darüber reden, dass du morgen vielleicht duschen darfst. Wir wollen ja nicht, dass du hier einen muffeligen Geruch abgibst. Also je netter du bist, umso netter sind wir."

Mitch ist schlau. Das ist wie Zuckerbrot und Peitsche. Lucy nickt. Denn sie hat auch keine andere Wahl.

Sie isst das Pizzastück so langsam, wie möglich. Es trägt wenig dazu bei, ihren Hunger zu stillen. Trinkt das Wasser in kleinen Schlucken. Der Durst bleibt weiterhin.

Doch sie kann das Unvermeidliche nicht weiter hinauszögern. Sie wird mit ihrer linken Hand an die Heizung gekettet.

Immer auf die Waffenhand achtgeben. Sie kann der Unterschied zwischen Leben und Tot sein.

Ihr fällt sofort auf, dass dies der erste Fehler der Gang ist. Nein eigentlich der zweite. Der erste war, dass sie nicht bemerkt haben, dass sie ihr Gespräch belauscht hat. Sie werden nervös und machen Fehler. Und wieder steigen ihre Chance auf Flucht um winzige Prozentpunkte.

Sie sitzt auf einer Matratze. Sie muss zugeben, dass diese sauber ist und frisch bezogen wurde. Immerhin. Anscheinend ist einer der Männer ein Sauberkeitsfanatiker. Auch die beiden Zimmer, die sie bisher gesehen hat, sind in einem gepflegten Zustand.

Ihre Kopfschmerzen werden wieder stärker. Sie entscheidet, dass sie genauso gut etwas schlafen kann. Es gibt momentan nichts, was sie tun kann. Außer ihre Gehirnerschütterung, die sie anscheinend von Joes Ohrfeige hat, rauszuschlafen.

Sie schläft unruhig und träumt von Tim. Es sind keine schönen Bilder. Sie sieht immer wieder, wie ihn die Kugel trifft und das Blut strömt. Es frisst sie sogar im Traum auf, dass sie nicht weiß, ob er noch am Leben ist. Sie hofft, so wie sie noch nie in ihrem Leben gehofft hat.

Als sie das nächste Mal aufwacht, ist es wieder dunkel.

Sie bekommt wieder etwas zu essen, darf ins Bad und dann wird sie wieder angekettet. Sie belauscht die Jungs bei jeder Gelegenheit. Fängt jeden Gesprächsfetzten auf. Buck erwischt sie nie allein. Sie muss weiter Geduld haben.

Irgendwann muss sie wieder eingeschlafen sein. Nun ist es heller Tag. Und zum erste Mal nach der Ohrfeige sind ihre Kopfschmerzen weg. Sie fühlt nach ihrer Stirn. Die Beule ist deutlich zurückgegangen. Und auch ihre Wange fühlt sich nicht mehr so an, als würde sie gleich aufplatzen.

Der Fernseher läuft. Aber der Ton ist aus.

Sie setzt sich aufrecht hin und fokussiert ihren Blick auf den Bildschirm. Es ist wieder der Nachrichtensender. Sie sieht Textnachrichten am unteren Bildschirm durchlaufen.

Wilshire-Attentäter immer noch flüchtig. LAPD weiterhin ohne Spur.

Lucy weiß, dass dies nichts heißt. Es kann auch eine Falschnachricht des LAPD sein. Je nachdem, welche Taktik man bei der Ermittlung verfolgt. Täter nervös machen oder Täter in Sicherheit wiegen.

Officer Chen weiterhin vermisst. Bitte melden sie jede verdächtige Beobachtung. Kontaktdaten finden sie auf der Homepage des LAPD.

Dann kommen weitere Nachrichten. Sie wartet auf Nachrichten zu Tim. Aber es kommt nichts. Und dann geht die Nachrichten-Schleife im Ticker wieder von vorne los. In ihrem Herzen breitet sich wieder Kälte aus. Wenn er die OP nicht überlebt hat, dann war die Meldung bereits alt. Sie hat zwei Tage fast komplett verschlafen. Und sie würde eine alte Meldung nicht mehr sehen. Wenn er überlebt hat, dann würden sie doch seinen Zustand melden? Oder nicht? War es ein schlechtes Zeichen, dass es keine Nachricht zu Tim gab? War er tot? War der wichtigste Mensch in ihrem Leben nicht mehr da und sie hatte es nicht einmal mitbekommen? War er gestorben, während sie hier in diesem Zimmer war und durch eine Gehirnerschütterung ausgeknockt war? Wer er gestorben, ohne dass sie die Möglichkeit gehabt hatte, sich von ihm zu verabschieden?

Sie war so auf den durchlaufenden Text und ihre Gedanken konzentriert, dass ihr fast entging, dass sich das Bild geändert hatte. Es sind nicht mehr das Studio und die beiden Moderatoren zu sehen.

Das Bild zeigt eine Vor-Ort-Reporterin, die vor einem Krankhaus steht und redet. Lucy kann nicht hören, was sie sagt, da der Ton aus ist. Hinter der Moderatorin steht ein Polizeiwagen. Direkt vor dem Haupteingang. Dann sieht sie im Hintergrund, wie die Tür zum Eingang aufgeht und die Kamera dorthin schwenkt. Sie sieht Aaron heraustreten, der eine Tasche trägt. Ihr Puls beschleunigt sich. Sie sitzt sich so aufrecht hin, wie es ihr möglich ist. Als nächstes kommt Angela ins Bild, die ein Handy am Ohr hat und telefoniert. Sie hält die Tür für jemanden auf, der hinter ihr ist. Es rauscht in ihren Ohren.

Und dann ist er da. Sie sieht ihn aus der Tür treten und in ihrem Herzen passieren die verrücktesten Dinge. Sie denkt, dass es sich überschlägt und gleichzeitig stehen bleibt. Sie muss sich die Hand vor den Mund halten und in ihre Finger beißen, um nicht laut aufzuschluchzen. Sie will nicht riskieren, dass der Fernseher ausgeschaltet wird. Sie will das sehen. Sie will alles sehen. Jeden Schritt. Jede Bewegung. Die Tränen laufen an ihrem Gesicht herab. Sie lässt sie laufen. Ihr ganzer Körper zittert. Sie schlingt einen Arm um sich, um das Zittern zu beenden. Was ihr nicht gelingt.

Er geht steif und sie sieht, dass er Schmerzen hat. Das verrät das kleine Zucken seiner Kiefernknochen. Sein Gesicht ist blasser, als sie es in Erinnerung hat. Er nickt Angela zu, die daraufhin die Tür loslässt. Er hat dunkelblaue Sweat-Pants an und wie immer sieht er in diesen unwiderstehlich aus. Darüber trägt er ein dunkelgraues Shirt. Um seinen Hals hängt seine Polizeimarke. Sie weiß, dass das heißt, dass er nicht nach Hause gefahren wird, sondern sofort ins Revier. Um sie zu suchen. Und jetzt, da sie weiß, dass er am Leben ist und er nach ihr suchen wird, fällt ihr ein solch großer Stein vom Herzen, dass sie denkt, dass man diesen noch drei Häuser weiter hören müsste. Und es beginnt sich eine neue Zuversicht in ihr auszubreiten. Sie würde kämpfen, sie würde alles erdulden, sie würde nicht aufgeben. Denn, wenn sie hier rauskommt, wartet Tim auf sie. Und sie würde alles tun, um ihn wieder in die Arme schließen zu können.