KAPITEL 10
Lucys Situation hat sich etwas verbessert. Sie darf nun das Bad bei geschlossener Tür benutzen. Sie beobachtet, wie die Aufmerksamkeit der Männer Stück für Stück nachlässt. Wie sie in ihrer Gegenwart zu viel reden. Zu viel über ihre Pläne preisgeben.
Sie versucht bei jeder Gelegenheit, in der sie allein mit Buck ist, diesen zu beeinflussen. Unauffällig. Sie fragt ihn Fragen zu seiner Tochter. Wie alt sie ist. Was sie mal werden will, wenn sie groß ist. Welches ihr Lieblingstier ist. Ob sie lieber in den Zoo oder in den Freizeitpark geht.
Am Anfang bleibt Buck verschlossen. Er sagt, dass sie die Klappe halten solle. Dass sie das nichts angehe. Dass er ihr Spiel durchschaue.
Dann fängt sie an von Tamara zu erzählen. Von deren toten Eltern. Wie sie auf der Straße gelebt hat. Was ihr passiert ist. Wie sich einer ihrer Freunde als Mörder ihrer Freundin herausstellte.
Sie merkt, dass sich Buck Stück für Stück öffnet. Es sind winzige Fortschritte. Er schaut nur noch weg, wenn sie mit ihm redet. Verbietet ihr aber nicht mehr den Mund. Dann erzählt er ihr, dass seine Tochter Tierärztin werden will. Weil sie Hunde süß findet. Und irgendwann frägt er sie, wie es Tamara geschafft hat, von der Straße wegzukommen.
Und da weiß sie, dass Buck soweit ist. Wenn es ihr gelingt im richtigen Moment ihre Karten richtig auszuspielen.
Tim sitzt zusammen mit Angela in einem der zivilen Überwachungsfahrzeuge des LAPD. Sie fahren im Raster Straßen im Viertel Hawthorne ab. Wie viele anderen Einheiten auch. Es ist langatmig, es ist zermürbend und es ist ereignislos. Es ist aber momentan ihr einziger Anhaltspunkt. Aberdeen hatte ihnen genau sagen könne, wo sie an diesem Abend gestanden hat und wo Joe Miller, wie der von ihr identifizierte Mann heißt, sie aufgegabelt hatte. Um diesen Punkt herum ist ein Raster erstellt worden. Laut Aberdeen war Joe zu Fuß gekommen. Und so vermutet das LAPD, dass das Versteck irgendwo in der Nähe sein muss. Das Raster ist auf eine halbe Stunde Fußweg eingegrenzt worden. Das Suchfeld ist trotzdem riesig und wenn Joe z.B. ein Taxi genommen hat und nur eine Straße zuvor ausgestiegen war, dann ist das hier Verschwendung von Zeit. Doch es ist ihre beste Chance.
Sie patrouillieren in zwei Schichten. Er hat mit Angela die Nachtschicht übernommen. Er wäre auch 24 Stunden patrouilliert, wenn das körperlich möglich gewesen wäre. Die Nachtschicht kommt ihm ein klein wenig sinnvoller vor, da jeder irgendwann ein Versteck verlassen muss. Auch wenn nur um sich neues Klopapier zu kaufen. Und am helllichten Tag geht ein gesuchter Verbrecher, dessen Bild ständig im Fernsehen zu sehen ist, bestimmt nicht in den nächsten Supermarkt. Wenn dann nachts.
Angelas Handy vibriert und zeigt an, dass sie eine neue Benachrichtigung erhalten hat.
„Oh, wie süß!"
Und damit hält sie ihm ihr Handy vors Gesicht. Seine Augen brauchen einen kurzen Augenblick, um auf das Bild zu fokussieren. Es zeigt eine Fotomontage von ihm und Lucy aus Ausnahmen aus der Dokumentation. Und darunter steht Love. Er schnaubt.
„Tu das weg."
Angela wirft ihm eines ihrer verschmitzten Lächeln zu.
„Das ist Stoff für die nächsten 10 Jahre. Und ich werde es immer wieder rausholen, um dich damit vor allen zu blamieren."
„Wo hast du diesen Schwachsinn eigentlich her?"
„Hab ich dir doch gesagt. Google einfach mal Hashtag Chenford. Ich hab ihn auf Insta abonniert. Die Leute sind ja so kreativ."
Tim grummelt. „Können wir uns jetzt wieder auf unseren Job konzentrieren?"
Es herrscht kurz eine angenehme Stille, als ihrer beider Blicke die Straßen außerhalb absuchen. Nach irgendeinem Hinweis.
Dann bricht Tim das Schweigen. Er spricht langsam und leise.
„Tyler hat mir ein Bild von seiner Schulklasse geschickt. Mit einem riesigen Poster, dass die Klasse gebastelt und in der Schule aufgehängt hat. Mit Fotos von Lucy und den Attentätern und dem Aufruf, dass jeder, der etwas beobachtet, es sofort melden soll."
Er spürt, wie Angela kurz seine Hand drückt.
„Das ist großartig Tim. Und herzzerreißend."
„Ja, überlass es Lucy, dass sie sofort alle Herzen erobert und jeder nach ihr sucht." Seine Finger trommeln auf das Lenkrad.
„Nun ja, wenn ihr das bei Tim Bradford gelungen ist, dann ist ja auch jeder andere ein Kinderspiel."
„Was soll das denn heißen? Niemand erobert sofort mein Herz."
„Ach komm schon Tim. Nach einer Woche hatte sie dich doch um den Finger gewickelt."
Es herrscht wieder kurze Stille. Dann hört Angela Tim leise flüstern.
„Zwei Tage. Es hat nur zwei Tag gedauert."
Das Funkgerät gibt ein statisches Rauschen von sich. So, wie immer, kurz bevor eine Nachricht kommt. Es ist Nolan.
„7-Adam-15 hier. Wir haben ein Auto entdeckt, auf das die Beschreibung des Fluchtfahrzeuges passt. Es steht in einem Hinterhof."
Angela zieht das Funkgerät in ihrem Wagen heraus.
„Habt ihr sonst etwas beobachtet."
„Negativ."
Angela und Tim schauen sich an. Wenn es das gesuchte Fahrzeug ist, dann würde es Sinn machen ihre Suche auf den Standort des Fahrzeuges zu konzentrieren. Wenn es eine falsche Fährte ist, dann würden sie unnötig Zeit verlieren.
Tim nimmt Angela das Funkgerät aus der Hand.
„Was hast du für ein Gefühl Nolan?"
Es ist kurz still, bis John antwortet.
„Celina sagt, dass sie eine böse Präsenz in der Nähe spürt." Tim verdreht die Augen. „Ich habe gelernt, dass man Celinas Gefühl trauen sollte. Außerdem ist es auch nicht so, dass wir ansonsten viel hätten. Ich denke, wir sollten uns das genauer ansehen."
„Copy. Wir sind auf dem Weg. Gebt uns den Standort durch."
Tim und Nolan sitzen auf einer Bank, von der aus sie das Auto im Blick haben.
„Sollen wir das Auto checken? Es ist dunkel, es gibt wenig Licht von den Straßenlampen, es ist niemand unterwegs. Könnte funktionieren."
„Mmmh. Nein zu riskant. Wenn wir gesehen werden, wie wir hier rumschnüffeln und in einem der Häuser Lucy ist, haben wir die Situation nicht mehr unter Kontrolle. Sie könnten sie als lebendiges Schutzschild benutzen oder gleich erschießen. "
„Okay. Was machen wir dann?"
„Wir warten und verteilen uns. Beobachten alle Eingänge. Der Hinterhof schließt an sechs Häuser an. Es ist wahrscheinlich … das heißt, wenn dies der gesuchte Wagen ist, dann ist es wahrscheinlich, dass Lucy in einem dieser Häuser ist. Und dann müssen wir darauf hoffen, dass irgendwann einer der Gesuchten aus einem der Häuser kommt."
Tim schaut Nolan an und hebt dann seinen Zeigefinger. „Und nein, das gefällt mir auch nicht, weil jede Minute, die wir warten, irgendetwas passieren könnte. Aber objektiv ist es der beste Weg."
„Und, wenn es der falsche Wagen ist."
„Dann sitzen wir hier und vergeuden unsere Zeit."
„Also was machen wir?"
Lucy steht in der Küche an der Spüle und wäscht Geschirr ab. Mitch hatte die Idee, dass Lucy ihre Zeit als Gefangene auch ruhig nützlich verbringen könnte, wenn sie schon so toll versorgt wird. Und tatsächlich ist es eine angenehme Tätigkeit. Wenn man stundenlang auf einer Matratze verbringt und dabei an ein Heizungsrohr angekettet ist, macht auch das Reinigen von Tassen und Tellern plötzlich Spaß. Und auch, wenn die Jungs ihr mittlerweile etwas mehr vertrauen, soweit man dies so bezeichnet kann, sind sie gerade hellwach. Garret und Joe sitzen am Tisch, beide haben ihre Waffen in der Hand bzw. auf dem Tisch liegen und beobachten sie. Sie hasst es, wenn sie von Joe beobachtet wird. Es fühlt sich einfach nur dreckig an. Und es dauert auch nicht lange, bis er den ersten Spruch loslässt.
„Hey, wenn du mal was anderes schrubben möchtest, stehe ich dir gern zur Verfügung."
Lucy ist niemand, den solche Sprüche beeindrucken oder die auf so etwas viel gibt. Aber die Gefangenschaft, die ständige Angst, das ständige beobachtet werden, das ständige gefesselt sein … als das zerrt an ihren Nerven.
Einstellung, Bambi. Auf die richtige Einstellung kommt es an. Sie macht den Unterschied zwischen einem guten Cop und einem schlechten aus. Oder bist du jemand, der gepudert werden will und keine Herausforderung meistern kann? Dann bist du hier falsch.
Sie hätte nie gedacht, dass sich die Ausbilder-Stimme von Tim mal so in ihre Gedanken fressen würde. Dass sie immer da ist, wenn sie sie braucht. Dass sie wie der Strohhalm ist, an den sie sich festhält. Als würde er direkt neben ihr stehen und sie immer herausfordern, besser zu sein als sie selbst glaubt sein zu können. Stärker. Schneller. Schlauer.
Es sind, wie immer alle Rollläden geschlossen. Jedoch stehen im Rollo vor ihr, dem Rolle des Küchenfensters, einige Schlitze offen und Lucy versucht hindurchzuspähen. Irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, wo sie ist. Das ist nicht so einfach. Also fängt sie an, Tassen auf das Regal neben dem Fenster zu stellen. So ist es ihr möglich, etwas näher an das Rollo heranzukommen und einen Blick nach draußen zu riskieren. Und lässt fast eine Tasse fallen, als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Es sitzen zwei Männer auf einer Bank auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Und auch, wenn das Licht der Straßenlampe schlecht ist und sie nur die Silhouetten erkennt … und auch, wenn beide sich die Mützen ihrer Kapuzenjacken weit in die Stirn gezogen haben und man ihre Gesichter nicht erkennt … würde sie ihn anhand seiner Statur und seiner Bewegungen überall erkennen. Auf der Bank sitzt Tim.
Er trommelt mit seinen Fingern auf sein Bein. Ein Zeichen, dass er überlegt. Der andere Mann könnte Aaron sein oder Nolan. Sie muss überlegen, und zwar schnell. Wissen sie, in welchen Haus sie steckt? Oder wissen sie es nicht? Sie darf kein Risiko eingehen. Sie muss ihnen irgendein Zeichen geben.
Plötzlich steht Mitch neben ihr, greift zum Rollo und schließt die Schlitze. Er funkelt sie an.
„Welcher von euch beiden Idioten ist zu blöd, um ein Rollo ordentlich zu schließen."
„Wen interessiert es Boss? Kann doch keiner reinsehen."
Mitch dreht sich wütend zu Garett und Joe um. „Das ist der Grund, warum ich hier der Boss bin und nicht ihr. Weil ihr zu wenig Hirn dafür habt."
Dann packt er Lucy fest an ihren Oberarmen, so dass sich seine Finger in diese bohren. Sie muss sich zusammenreißen, damit sie nicht ein Stöhnen von sich gibt. Er dreht sie zu sich um und seine brennenden Augen sind nur wenige Zentimeter von ihren entfernt. „Was hast du da draußen angegafft?"
Doch Lucy hat sich schneller im Griff, als eine Katze braucht, um Miau zu schreien.
„Ich habe nur nachgedacht."
„Du solltest nicht zu viel denken." Dabei schüttelt Mitch sie leicht. „Überlass das mir. Du musst nur deine Klappe halten und dich benehmen."
„Ja, das weiß ich. Deswegen habe ich auch so lange überlegt, wie ich es anspreche. Wie ich euch am besten frage."
„Was frägst?"
Lucy wendet den Blick nach unten und tut so, als wäre ihr das, was sie nun sagt, unendlich peinlich.
„Ich habe meine Tage bekommen. Und … nun ja … ich brauche Tampons."
„Du brauchst Tampons?" Mitch stößt sie angewidert nach hinten. „Es hat schon seine Gründe, warum wir normalerweise nicht mit Frauen arbeiten. Das ist ja eklig. Ich will nicht, dass ich auf der Matratze irgendwelchen Blutflecken sehe. Wir sind doch keine primitiven Affen hier."
Und dann dreht er sich zu Garret um und zeigt mit dem Finger auf ihn. „Du gehst in den nächsten Shop und besorgst ihr eine Packung."
„Warum ich? Kann das nicht Joe machen? Ich gehe doch keine Tampons kaufen."
„SOFORT."
Garret steht auf, zieht sich seine Jacke an und ist so in ein Zwiesprache mit sich selbst vertieft … dass ein richtiger Mann keine Tampons kauft … dass auch jeder andere hätte machen können … dass das erniedrigend ist … dass er mit Mitch mal dringend ein Gespräch führen müsse, wer hier welchen Status im Team hat … dass er vergisst sich seine Kapuzenhaube über seinen Kopf zu ziehen.
