KAPITEL 11

Harpers Handy klingelt. Sie will gerade einen Kaffee trinken. Er ist heiß, er ist frisch und er ist genau das, was sie jetzt braucht. Als sie den Namen von Tim auf dem Bildschirm sieht, setzt sie ihre Kaffee ab und stellt Tim auf Lautsprecher, damit auch Aaron, der neben ihr den Wagen fährt, mithören kann.

„Ja Tim?"

Seine Stimmer ist ruhig, als er antwortet. Trotzdem hört sie die Aufregung, die darin steckt.

„Wie schnell kannst du in der Bodger Avenue sein und bei jemanden eine Wanze platzieren?"

Aaron ist bereits an den Straßenrand gefahren und gibt die Adresse ein. Sie wirft einen kurzen Blick auf die Straßenkarte.

„Gib mir fünf Minuten."

„Gut, dann mach dich auf den Weg. Ich schick dir unseren Standort. Wir haben einen der Attentäter identifiziert. Garret Osborne. Er ist gerade aus einem Haus gekommen und jetzt zu Fuß unterwegs. Ich rufe Grey an und lass Einheiten die Zufahrtsstraßen weiträumig absperren. Und fordere einen Überwachungswagen und Metro-Einheiten an."

Nyla schließt vor Erleichterung die Augen. Sie wissen, wo Lucy ist. Jetzt müssen sie nur noch rausfinden, wie sie sie da lebend rausholen.

„Wir sind auf dem Weg Tim." Bevor er auflegen kann, fügt sie noch hinzu. „Mach jetzt ja keine Dummheiten."


Garret grummelt immer noch vor sich hin. Ist aber auch sauer auf sich selbst. Erst nach einigen Minuten Fußmarsch hat er festgestellt, dass er seine Kapuze vergessen hat aufzusetzen. Deshalb hat er sich kurz im Schatten eines Hauseinganges verborgen. Aber niemanden gesehen, der folgt. Mitch würde ihn killen, wenn er von seinem Fehler erfahren würde. Deshalb wird er ihm auch nichts sagen. Es sieht ihm nicht ähnlich solch einfache Fehler zu machen. Aber die Stimmung im Haus wird von Tag zu Tag schlechter. Sie sitzen da, wie die Mäuse in der Falle und gehen sich gegenseitig auf die Nerven. Noch zwei Tage, denkt er sich. Dann können sie den Deal abschließen und dann ist alles vorbei.

Er schaut auf die Tampon Packung in seiner Hand. Wie lächerlich ist das? Soll sich die Bitch doch sonst was reinstecken.

„Na sie sind aber ein Süßer, wenn sie gleich die Tampons für ihre Freundin kaufen?" Normalerweise hätte er dieser überschminkte Tussi an der Supermarktkasse mit ihren falschen Wimpern und ihrem Fake-Lächeln einen Spruch rüber gelassen. Aber er hat sich gerade noch beherrscht. Nur nicht auffallen, niemanden in die Augen schauen, mit niemanden reden. Ihre blöden Fahndungsfotos waren überall.

Tief in seinen Gedanken achtete er nicht auf die Gegend und plötzlich rauscht, wie aus dem nichts eine Braut in ihn rein. Er hält sie aus Reflex fest und sie schlingt die Arme um ihn, um nicht zu stürzen.

„Passt auf du Bitch!"

Sie lallt als sie spricht.

„Ohhh … ahh … sorrrry … ich haa..ab sie nicht geeeeseeeeheeeen."

„Dann mach deine Augen auf. Blödes Weib." Damit gibt er ihr einen Schubs, der sie zu Boden fallen lässt.

Hat ihm gerade noch gefehlt, dass ihm so ein besoffenes Weib anrempelt. Er schaut sich nicht mehr um und geht weiter. Dass ihm eine Wanze in der hinteren Hosentasche seiner Jeans platziert wurde, hat er nicht mitbekommen.

Nyla wartet bis der Kerl verschwunden ist und geht dann in die gleiche Richtung, um kurz danach in einen Van einzusteigen.

Dort nickt sie Tim, Angela, Aaron und Nolan zu. „Alles klar, dann lasst uns mal schauen, was sie uns erzählen."


Tim schwankt zwischen unendlicher Erleichterung und fesselnder Angst. Sie haben Lucy gefunden. Sie wissen, wo sie ist. Aber es wird nicht einfach, sie lebend aus dem Haus herauszubringen. Denn es ist gut gesichert, ein idealer Unterschlupf. Es hat nur einen Zugang. Der Hintereingang wurde zugemauert. Die Haustür ist massiv und sie müssen davon auszugehen, dass sie noch weiter gesichert und damit schwer aufzubrechen ist. Die Fenster sind alle vergittert. Die Rollläden geschlossen. Trotzdem sind Scharfschützen auf den umliegenden Häusern postiert. Die Straßen sind gesichert. Die Attentäter werden nicht entkommen. Dennoch ist das Risiko für Lucys Leben hoch.

Wenn sie das Haus stürmen, werden sie Lucy als Geisel oder als lebendiges Schutzschild benutzen. Tim hat in seinem Job oft genug gesehen, dass das für die Geisel nicht immer gut ausgeht. Mit jeder Stunde, die vergeht, steigt aber auch das Risiko für Lucy. Sie könnte verletzt sein, die Geiselnehmer könnten aus irgendeinem Grund durchdrehen. Es gibt so viele Faktoren, die nicht berechenbar sind. Erstes Ziel ist nun herauszufinden, wie Lucys Gesundheitszustand ist und in welchem der Zimmer sie sich befindet. Zweites Ziel ist herauszufinden, ob alle vier Attentäter in dem Haus sind und wo diese sich befinden. Die Pläne des Hauses sind bei der Baufirma angefordert und sollten in den nächsten Minuten vorliegen. Dann wissen sie mehr.

Garret betritt jetzt das Haus.

Sie hören, wie jemand pfeift. „Da bist du ja wieder. Hattest du Spaß beim Shoppen?" Es folgt Gelächter.

„Halt die Klappe Joe."

Tim nickt den anderen zu. Joe war Joe Miller. Allein die Stimme genügt Tim, dass ihm leicht übel wird. Joe ist der Freier von Aberdeen. Tim kann immer noch Aberdeens angstvolle Stimme beim Verhör hören. Wenn er Lucy angefasst hat, denkt sich Tim, dann … dann … Tim muss tief durchatmen. Und wie immer scheint Angela sofort zu wissen, was er denkt. Sie legt ihre Hand auf seine Schulter.

„Tim, wir sind so nah dran. Konzentrier dich auf das, was getan werden muss. Für alles andere ist später Zeit."

Er legt seine Hand auf ihre und drückt sie kurz. Sein wortloser Dank.

„Übrigens kenne ich einen Fluch, mit dem man bei Männern die Eier verderben lassen kann."

Sie werden aus ihrem kurzen Gespräch gerissen, weil sie wieder Garetts Stimme hören.

„Hier Bitch deine Tampons. Schieb sie dir irgendwo hin."

Tim holt sein Handy hervor und wirft einen Blick darauf. Dann entweicht ihm ein kurzes Lachen und ein „Schlaues Mädchen." Er sieht, wie die anderen ihn mustern. So als wäre ihm gerade ein zweiter Kopf gewachsen.

„Versteht ihr nicht? Sie hat sie zum Tampon kaufen geschickt. Ich weiß hundertprozentig, dass Lucy gerade nicht ihre Tage hat."

„Ist das dein Ernst?", meint Harper. „Du weißt, wann deine Freundin ihre Tage hat."

„Natürlich weiß ich, wann meine Freundin ihre Tage hat!" Er schaut hoch und sieht, dass die Gesichtsausdrücke der anderen von Schockiert über Entsetzt zu Das-werde-ich-ihn-nie-Vergessen-lassen reichen. „Was?" Er holt mit seinen Händen aus, eine nervöse Geste. „Sie hat immer Bauchkrämpfe am ersten Tag. Und glaubt mir … Lucy Chen mit Bauchkrämpfen ist kein Spaß." Er schnauft kurz durch. Ihm ist jetzt erst bewusst geworden, was er da eigentlich genau gesagt hat. Dass hättest du eleganter lösen können, denkt er sich. Angela würde ihn bis an sein Lebensende damit veräppeln, dass er Lucys Periode genau kannte. Jetzt kann er genauso gut mit dem Rest rausrücken. „Wenn meine Schicht vor ihrer anfängt, dann mach ich immer eine Kanne von diesem superhypen Kräutertee, der ihr hilft. Also habe ich mir in meinem Kalender eine Erinnerung programmiert, damit ich es nicht vergesse."

„Oh mein Gott. Tim Bradford ist ein Softie." Harpers Gesichtsausdruck hätte nicht amüsierter sein können.

Aaron ringt mit sich, um ein Lachen zu unterdrücken. Tim schaut ihn scharf von der Seite an und Aaron verstummt. „Sorry Sir. Sie sind kein Softie. Sie sind ein knallharter Cop."

Nolan meldet sich. „Was hilft uns denn jetzt der Kauf von Tampons oder die Tage von Lucy oder Kräutertee weiter?"

Harper dreht sich zu Nolan um und wirft ihm einen Gott-segne-ihn-mit-Hirn-Blick zu.

„Na, wenn Lucy jemand zum Tampon kaufen schickt und sie keine Tampons braucht, was heißt das wohl?"

„Oooohhhhh". Nolans Gesicht nimmt einen überraschten Ausdruck an. „Sie weiß, dass wir hier sind."

Dann hören sie Lucys Stimme und es ist wie Musik in Tims Ohren.

„Könnte ich vielleicht das Bad benutzen?"

Sie hören eine weitere Stimme, dass muss Mitch Anderson oder Buck Carter sein. Einer der beiden anderen Flüchtigen.

„Okay. Joe nimm ihr die Fesseln ab." Die Stimme schreit nun. Wie man nach jemanden schreit, der in einem anderen Zimmer sitzt. „Buck, beweg deinen Arsch hierher und begleite unser Schätzchen ins Bad."

Damit ist klar, dass alle vier Männer im Haus sind. In diesem Moment treffen die Pläne des Hauses ein. Angela öffnet sie auf einem der Monitore.

Nun sind über das Mikro Geräusche zu hören, als würde jemand miteinander ringen. Sie hören Lucys Stimme. „Nimm deine verdammten Hände weg." Dann hören sie einen eindeutig männlichen Schmerzensschrei. Auch, wenn die Stimme sehr hoch ist. Und kurz darauf lautes Gebrüll. „Du verdammte Schlampe. Das wirst du bereuen."

Ehe Tim weiß, was er tut, ist er auf die Füße gesprungen und hat ein paar Schritte Richtung Hintertür des Vans gemacht. Mehrere Hände greifen nach ihm und zerren ihn zurück.

„Willst du dich und Lucy umbringen?" Angela funkelt ihn wütend an.

Nyla übertönt alle mit einem Schrei „Ruhe, wir hören sonst nichts."

Schlagartig wird es ruhig. Nur Tims Herz klopft in seinen Ohren laut weiter.

Sie hören viele verschiedene Geräusche gleichzeitig. Ein Stuhl der umkippt. Füße, die über den Boden laufen. Kampfgeräusche, Schreie und dann ist plötzlich Stille.

Jemand redet und Tim meinte die Stimme von Mitch zu erkennen, der schreit. „Jetzt beruhigen wir uns mal alle wieder. Joe, das ist das letzte Mal, dass ich dir sage, dass du nicht anfassen sollst."

Daraufhin ist Joes wütendes Brüllen zu hören. „Ich werde mich von der kleinen Schlampe nicht verarschen lassen. Hörst du. Glaub ja nicht, dass du hier rauskommst. Ich wird dir noch zeigen, wie es ist, wenn man einen richtigen Mann hat. Wenn ich mit dir fertig bin, dann wirst du keinen Gedanken mehr an deinen kleinen Tim verschwenden."

Lucys Stimme ist eiskalt. „Er ist im kleinen Finger mehr Mann, als du jemals sein wirst. Du bist nur ein perverses Arschloch. Und wenn du mich noch einmal anfasst, dann werde ich dir so eine verpassen, dann du in deinem ganzen Leben keinen mehr hochbekommst."

Sie hörten mehrere Wortfetzen, die jedoch nicht zu verstehen sind.

„Buck bring sie ins Badezimmer. Du kriegst zehn Minuten, um dich wieder herzurichten. Buck wartet vor der Tür und versuch ja nicht was abzuziehen. Garett, du holst uns allen mal eine halbe Bier aus dem Kühlschrank."

Tim wirft einen Blick auf die Pläne auf dem Monitor. Angela deutet schon auf die Küche und das Bad. Er schaut Angela an, dann Nyla. Beide nicken ihm zu. Sie denken das gleiche wie er. Eine bessere Chance kriege sie nicht. Er aktiviert sein Funkgerät.

„Alle Einheiten vor Ort. Zugriff sofort starten."

Bis Tim aus dem Bus ist, hat sich seine Metroeinheit schon postiert. Das LAPD riegelt dich Fluchtwege ab.

Er eilt mit den anderen zu seiner Einheit. Sie ziehen die Waffen und dann läuft alles automatisch. Wie tausendmal trainiert und hunderte Male in der Praxis erprobt.


Lucy kauert auf dem Klo hinter der Tür. Die beste Position, wenn jemand durch die Tür kommt. Sie hat keine Waffe. Nur ihre Hände und ihren Verstand. Wenn Tim oder jemand anderes noch vor Ort war und Garett beim Verlassen des Apartments gesehen hat … wenn sie dann nach dem Standardprozedere vorgegangen sind … wenn sie Buck eine Wanze unterschieben konnten … wenn sie alles mitbekommen hatten, dann würden sie jetzt zugreifen. Es sind verdammt viele wenns, aber sie nimmt ihre Chance so wie sie kommt. Und wenn nichts passiert, dann sitzt sie einfach ein paar Minuten auf der Toilette.

Und dann hört sie das erhoffte Krachen, dass verursacht wird, wenn eine Tür mit einer Ramme aufgebrochen wird. Und dann hört sie Tims Stimme und sie ist so unendlich erleichtert.

„LAPD. Waffen auf den Boden. Hände hinter den Rücken. SOFORT."

Im nächsten Moment geht die Tür zum Badezimmer auf und Buck stürmt herein. Auf diesen Moment hat sie gewartet. Sie rammt die Tür in Bucks Gesicht. Er verliert das Gleichgewicht und fällt in den Schrank auf der anderen Seite. Sie stürzt nach vorne und verpasst ihm einen Tritt mit ihrem Fuß. Er ist jedoch schnell und erwischt ihren Fuß und bringt sie aus dem Gleichgewicht. Sie stürzt nach hinten und schlägt mit dem Kopf auf. Bevor sie sich versieht, hat Buck die Waffe auf sie gerichtet. Und er könnte schießen. Aber er schießt nicht.

„Meine Tochter soll keinen Mörder als Vater haben." Und er senkt die Waffe.

Und dann ist Tim da. Er lässt sich neben sie auf seine Knie fallen. Und dann ist sie in seinen Armen. Und die Welt ist wieder in Ordnung. Ihr laufen Tränen über das ganze Gesicht. Und sie spürt, wie ihr Hals nass wird. Von Tims Tränen.

Sie hört ihn nur leise murmeln „Ich hab dich. Es wird alles wieder gut. Ich hab dich. Du bist in Sicherheit."

Und sie bringt nur ein „Ich hatte solche Angst!" hervor. Und sie drückt ihn noch enger an sich und schluchzt auf.

„Ich weiß Babe, aber jetzt ist es vorbei."

Sie lacht freudlos auf. „Du Idiot. Ich hatte doch nicht Angst um mich. Ich hatte Angst um dich. Ich dachte, dass du bist tot."

Und dann löst er die Umarmung und schaut ihr in die Augen. Er wischt ihr mit seinen Fingern die Tränen aus dem Gesicht. Lucys Hände krallen sich in sein Metro-Shirt.

„Na, ich würde doch nicht sterben, ohne dir Bescheid zu sagen."

Sie verpasst ihm mit ihrer Hand einen Schlag in seine Schulter.

„Das ist nicht witzig!"

Und dann sind seine Lippen auf den ihren und seine Hände in ihren Haaren und er küsst sie, als würde er ihr alle seine Gefühle auf einmal zeigen wollen. Und sie küsst ihn genauso zurück. Ihre Hände fahren über seine Haare, dann über seine Schultern nach unten zu seiner Brust um dann über seine Wange zu streicheln. Als müsste sie sich vergewissern, dass er wirklich da ist.

Plötzlich hören sie ein vernehmbares Räuspern hinter sich und die Stimme von Aaron.

„Äh Serge. Tatort gesichert. Alle vier Attentäter verhaftet. Es wartet draußen ein Krankenwagen für Officer Chen."

Doch Tim hört nicht auf sie zu küssen. Und sie denkt auch nicht daran aufzuhören.

Lucy sieht, wie zwei Beine in ihr Blickfeld wandern. „Also jetzt echt, besorgt euch ein Zimmer."

Lucy merkt, wie ein Lächeln auf ihr Gesicht wandert. Und auch Tim grinst. Sie schauen zu Angela hoch, die neben ihnen steht und sie angrinst. Sie reicht Lucy ihre Hand, um ihr aufzuhelfen und dann findet sich Lucy in einer Lopez-Umarmung. „Ich bin so froh, dass es dir gut geht."

„Und ich bin froh, dass du und alle anderen nach mir gesucht haben."

„Na ist doch klar. Konnte doch deinen Freund hier nicht allein lassen. Du weißt, doch wie er ist."

Damit verdreht sie ihre Augen. Aus Lucy strömen alle Emotionen und es bilden sich wieder Tränen in ihren Augen. „Danke Ang. Auch, dass du auf Tim aufgepasst hast."

„He, auf mich muss man doch nicht aufpassen."

„So ich lass euch beiden kurz nochmal allein. Lucy auf dich wartet dann ein Krankenwagen."

Damit geht sie Richtung Badezimmertür. Und natürlich muss sie sich im letzten Moment umdrehen. So wie sie es immer gern macht, wenn sie noch was auf Lager hat, was sie unglaublich witzig findet.

„Vielleicht solltet ihr die Zeit noch nutzen, um euch hübsch zu machen. Es rollen schon die ersten Kamerateams an. Ich wette ihr seid morgen in allen Schlagzeilen." Dann wirft sie die Hände nach oben und macht eine Geste, als würde sie einem Schriftzug nachfahren. „Dramatische Stunden in der Nacht. Cop-Love-Paar wieder glücklich vereint." Damit dreht sie sich um und eilt davon.

„Ich hasse dich.", schreit Tim ihr hinterher.