II.
In diesem Augenblick überkam Michael Fitzhubert eine grundlegende Erkenntnis: Man konnte jahrelang auf ein ganz bestimmtes Ereignis warten und trotzdem völlig überwältigt sein, wenn es endlich eintraf.
Seit dem nebelverhangenen Herbst von 1908, als er fröstelnd vor Unbehagen aus subtropischen Gefilden nach Hause zurück gekehrt war, um zusammen mit einem Kleeblatt aus unaufhörlich schluchzenden und schniefenden Schwestern seinen Vater zu beerdigen und ganz nebenbei auch noch ein Erbe anzutreten, das er schon als Kind als unzumutbare Belastung empfunden hatte, seit diesem Tag also hatte Michael halb gehofft, halb gefürchtet, dass irgendwann genau das geschehen würde, was hier und jetzt gerade geschah: Nämlich dass Albert Crundalls Stimme von der anderen Seite der Erdkugel herüberschallte wie die Trompeten von Jericho, um die ohnehin schon wackeligen Mauern von Michaels mühsam wieder zusammengebasteltem Leben erneut zu erschüttern und dieses Mal vielleicht sogar endgültig zum Einsturz zu bringen. Mit einem Wort: Neuigkeiten! Neuigkeiten über das Appleyard-College und eine seiner ehemaligen Bewohnerinnen.
Aber wie immer ging es auch jetzt wieder um die falsche Bewohnerin. Niemals ging es um die einzige, an der Michael wirklich interessiert war ...
Miranda ... oh mein Gott ... Miranda ...
Michael schloss für einen Moment die Augen, zutiefst aufgewühlt von dem immer noch rohen nackten Schmerz, der in ihm aufflammte, sobald der allzu vertraute Name durch sein Gedächtnis geisterte.
Nein, er hatte nichts abgehakt oder vergessen, was mit „diesem verdammten Felsen" zusammenhing, absolut gar nichts. Wie hätte er auch etwas vergessen können, das ihn immer noch bis in seine Alpträume hinein verfolgte? Dieser verdammte Hanging Rock und dieses verfluchte Picknick an diesem dreimal verwünschten Valentinstag …
Was damals in Australien geschehen war, hing immer noch wie eine schwarze Wolke über dem Horizont von Michaels ganz persönlicher Wahrnehmung, eine Wolke, die mit ihrem kalten Schatten sein ganzes Leben verdüsterte. Und das scheinbar bis in alle Ewigkeit ...
Als er die Papiere aufhob, die im Eifer des Gefechts zerstückelt worden und zu Boden gefallen waren, bemerkte er, dass seine Hände zitterten. Die beiden reichlich zerknitterten Bögen auseinander zu falten und wieder mit ihren abgetrennten Teilen zu vereinigen, bereitete ihm so viel Mühe, dass es ihm beinahe so vorkam, als müsste er zwei besonders komplizierte und noch dazu zerfetzte Origami-Schmetterlinge in ihren ursprünglichen Zustand zurück versetzen.
Aber am Ende lagen Alberts Gaben doch geglättet und in der richtigen Reihenfolge vor ihm und Michael sah, dass es sich tatsächlich um Zeitungsausschnitte aus dem Melbourne Chronicle handelte. Er las sie sofort und das mit einer Anteilnahme, die er den sehr viel beunruhigenderen Artikeln in der Times nicht gegönnt hatte.
Melbourne, 12. April 1913
Tragischer Automobil-Unfall
Eine junge Frau hatte am Freitagabend gerade die 18.00-Uhr-Messe in der Saint Patrick's Cathedrale verlassen, als sie bei der Überquerung der Nelson-Road von einem Automobil erfasst und zu Boden geschleudert wurde. Das Opfer erlag noch am Unfallort seinen schweren Kopfverletzungen. Dem Fahrer des Automobils gelang trotz des beherzten Eingreifens von Passanten die Flucht zu Fuß.
Der Fahrer wird dringend gebeten, sich mit dem Polizeirevier in der Prince-Albert-Street in Verbindung zu setzen ...
Melbourne, 18. April 1913
Am heutigen Tage erfolgte die Beisetzung von Miss Edith Horton (27), die vor einer Woche einem Automobil-Unfall zum Opfer fiel.
Die Polizei hat inzwischen die Ermittlungen aufgenommen, zumal die Aussage eines Augenzeugen nahe legt, dass das Unfallfahrzeug, ein dunkelgrüner Spyker 60 H.P, unmittelbar vor St. Patricks „auf der Lauer lag wie eine hungrige Katze vor einem Mauseloch" und sofort „wie ein durchgehender Karrengaul losraste", als die unglückselige junge Frau die Straße betrat.
Auf sachdienliche Hinweise zum Eigentümer des fraglichen Automobils ist eine Belohnung von 150 Pfund ausgesetzt …
Der zweite Artikel war mit einem ziemlich verschwommenen Foto versehen, das fast völlig von einem Filzhut von der Größe eines Wagenrades beherrscht wurde. (Dieser Hut war mit einer ebenso umfangreichen wie lächerlichen Garnitur gekrönt, einem ganzen Sortiment von struppigen Vogelfedern, für die offenbar jede flügeltragende Spezies der gesamten Fauna ein Opfer gebracht hatte!) Es war kein sehr schmeichelhaftes Foto …
Doch Michael erkannte das verdrossene feiste Mopsgesicht unter diesem wenig kleidsamen Auswuchs der derzeitigen Damenmode trotzdem wieder, obwohl es noch von eng geflochtenen Affenschaukeln umrahmt worden war, als er es zum letzten Mal gesehen hatte.
Edith Horton hatte sich in all den Jahren offensichtlich kaum verändert. Weder ihr Aussehen noch ihre Ausstrahlung noch ihr Geschmack unterschieden sich von dem mürrischen plumpen Backfisch, dessen verbissenes Schweigen damals sämtliche Erwachsenen in seinem näheren Umfeld an den Rand der Raserei getrieben hatte. Das galt insbesondere für die wenigen Beamten der winzigen Polizeistation in Woodend, die angesichts der ausgedehnten tagelangen Suchexpeditionen und der damit verknüpften Ermittlungen, mit denen sie so unerwartet konfrontiert worden waren, hoffnungslos unterbesetzt und mehr als nur ein bisschen überfordert gewesen waren.
Sergeant Bumpher, der seinerzeit das zweifelhafte Vergnügen genossen hatte, das Mädchen nach dem rätselhaften Verschwinden ihrer Mitschülerinnen und einer ältlichen Mathematik-Lehrerin zu verhören, hatte nach dieser Heimsuchung Colonel Fitzhubert (Michaels Onkel) unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, dass ihm noch nie zuvor eine Vierzehnjährige begegnet war, in der sich so viel Bockigkeit mit so viel Dummheit vereinigte.
Aber ob es nun an Edith Hortons besonders halsstarrigem Trotz lag oder an ihrer Stupidität oder an beidem zugleich: Es war nie geklärt worden, warum sie an diesem flirrend heißen Februartag die drei größeren Mädchen, mit denen sie auf Erkundungstour unterwegs gewesen war, zurückgelassen hatte und unter hysterischem Geschrei zu den anderen Picknick-Teilnehmern zurückgerannt war, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her.
Weder das gute Zureden ihrer Erzieherinnen noch die zunehmend ungeduldige, aber immerhin professionelle Hartnäckigkeit von Sergeant Bumpher und seinen bedauernswerten Kollegen hatten Wirkung gezeigt. Die einzigen Aussagen, die man mühsam aus Edith herausgeholt hatte (unter Strömen von Tränen und aufgeregten Anrufungen verschiedener Heiliger, der Jungfrau Maria und noch höheren himmlischen Mächten!), bestanden in einem wirren Gefasel über seltsame rosarote Wolken am Himmel und über Miss McCraw, die vermisste Lehrerin, die angeblich zur gleichen Zeit seelenruhig auf einem anderen Pfad bergauf spaziert war, als Edith auf ihrem Weg bergab gestürmt war (und das quer durch all das Gestrüpp und mit ungefähr der gleichen Wucht und demselben Lärm wie ein angeschossenes Riesen-Känguru!).
Doch was genau ihre panische Flucht ausgelöst hatte, war bis zum heutigen Tag ein Rätsel geblieben – genau wie alles andere auch. Und schließlich hatte man aufgegeben, zumal Dr. McKenzie, der Dorfarzt, darauf hingewiesen hatte, dass eine Kombination aus Schock und Hitzschlag zu einem vermutlich irreversiblen Gedächtnisverlust geführt hätte. (Was übrigens dieselbe Diagnose war, die der alte Herr schließlich bei sämtlichen Patienten in diesem Fall gestellt hatte!)
Und nun hatte Edith Horton ihr Geheimnis mit ins Grab genommen – genau wie alle anderen auch … Und wenn man nach diesen Artikeln ging, dann fügte ihr entschieden verdächtiger Unfalltod dem Hanging-Rock-Mysterium eine weitere Facette hinzu …
Michael brütete noch ein oder zwei Minuten lang über dem Melbourne Chronicle, dann stand er auf, sammelte alles ein und ging mit seiner Beute in sein Arbeitszimmer hinüber. Er deponierte Alberts Brief und die Artikel-Fragmente auf seinem Schreibtisch. Danach stand er ein paar Sekunden lang regungslos da und lauschte angespannt, mit schräg gehaltenem Kopf nach draußen. Aber in der Halle war nichts zu hören und in dem verlassenen Garten schon gar nichts. Es war so ruhig, als wäre er selbst das einzige Lebewesen weit und breit, obwohl es nicht so war, wie Michael sehr wohl wusste.
Aber seine Frau und die Gäste weilten scheinbar immer noch in ihren Zimmern. Und die Aktivität der Dienstboten beschränkte sich in den ruhigen Stunden zwischen Tee und Dinner auf die Küche und die anderen Wirtschaftsräume, die jenseits der mit grünem Filz bezogenen Doppeltür und ihrer ins Untergeschoss führenden Treppe lagen wie eine eigene verborgene kleine Welt, ein unterirdisches Reich, zu dem der Hausherr ebenso wenig Zutritt hatte wie ein Sterblicher zu einem Feenhügel …
Trotzdem fühlte Michael sich jetzt dazu genötigt, die Tür zu seinem Arbeitszimmer abzuschließen – aus einem Impuls heraus, den er selbst nicht ganz verstand. Er wollte ungestört sein …
Sobald er seine Privatsphäre sicher gestellt hatte, öffnete er eine gleichfalls sorgfältig verschlossene Schublade in seinem Schreibtisch und fischte aus einem Durcheinander aus verkrusteten Tintenfässern, angeschmolzenen Siegellackstangen, verblichenem Löschpapier und schon halb versteinerten Toffees einen leicht zerfledderten Kalender heraus.
Einen Augenblick lang starrte er auf den abgewetzten Einband aus dunkelblauem Maroquin-Leder. Der goldene Aufdruck, eine Kompassrose in einem Rahmen aus zierlichen Ankern und Steuerrädern (als würde dieses nützliche Büchlein einem Kapitän oder einer ähnlich bedeutungsvollen Seefahrer-Persönlichkeit gehören!), war schon ziemlich verblasst, aber die Jahreszahl 1900 war noch deutlich zu erkennen. Es war wie ein Symbol für die Vergangenheit, die Michael Fitzhubert nicht loslassen wollte. Oder nicht loslassen konnte …
Er schlug den Kalender auf und blätterte mit liebloser Hast die Januar-Seiten um, die mit engzeiligen Reihen beschrieben waren – und das alles in den sorgfältig abgerundeten Buchstaben der kultivierten Schreibweise, die man ihm in Eton ebenso nachdrücklich (und schmerzhaft!) eingebläut hatte wie die anderen Verpflichtungen seines Standes und seines Bildungsniveaus.
Es handelte sich bei diesen Aufzeichnungen ohnehin nur um seine unbeschreiblich trivialen Erlebnisse auf dem P. & O. Dampfer, mit dem er seine Reise nach Down Under angetreten hatte, und seine eher naiven ersten Eindrücke von diesem fremdartigen neuen Kontinent, auf dem er nach einem ausgesprochen peinlichen Vorfall während seiner befristeten Studententage in Cambridge gelandet war wie ein Schiffbrüchiger nach einem Orkan an einem unbekannten Gestade – vom Schicksal gebeutelt und immer noch ziemlich verstört, aber doch schon von einem vagen Gefühl der Dankbarkeit erfüllt, weil er nun wenigstens wieder festen Boden unter den Füßen hatte …
Doch diese Erinnerungen zählten schon lange nicht mehr für Michael, sie waren völlig belanglos für ihn, also überblätterte er sie einfach. Aber als er den Februar erreichte, wurde seine Hand langsamer und langsamer, um schließlich ganz zu stocken, als er endlich DIE Seite aufschlug …
Die zierliche 14 in rotem Kursivdruck war von dicken schwarzen Balken eingefasst, so dass sie aussah wie eine viktorianische Trauerkarte – eine durchaus angemessene Dekoration für dieses tragische Datum. (Eine Verzierung, die Michael übrigens mit so viel Leidenschaft angebracht hatte, dass die Spitze seines Bleistiftes unter diesem Kraftakt zweimal abgebrochen war.)
Die Notizen, die die nachfolgenden Seiten füllten, hatten kaum noch Ähnlichkeit mit ihren Vorgängern, denn sie zeigten einen zunehmend erratischen Verlauf, so dass sie spätestens ab März beinahe so unleserlich wirkten wie die Hieroglyphen auf einer x-beliebigen Sandsteintafel irgendwo im Tal der Könige. (Michaels Englischlehrer, eine Art Nemesis, die die triste Antike seiner Kindheit beherrscht und mit Furcht erfüllt hatte, hätte bei diesem Anblick zweifellos gezischt wie eine Kobra und mit der Anmerkung, dass er kein gottverdammter Archäologe sei, seinen immer präsenten Rohrstock herausgeholt. Aber Professor Engstern – oder Engstirn, wie ein wortgewandter Frechdachs ihn getauft hatte – war zum Glück nicht hier, um seinen widerwilligen Zögling noch weiter zu drangsalieren.)
Michael schenkte auch diesen fiebrigen Betrachtungen seines früheren Selbst über die damaligen Ereignisse keinerlei Beachtung. Stattdessen konzentrierte er sich auf die inzwischen stark vergilbten Zeitungsausschnitte, die er vor Jahren selbst gesammelt hatte und seither in dieser Kombination aus Almanach und Tagebuch aufbewahrte.
Natürlich hatten sich die Reporter mit ihrer üblichen Sensationsgier auf den Vorfall am Valentinstag des Jahres 1900 gestürzt wie ausgehungerte Aasgeier auf einen besonders saftigen Kadaver und bald war die Sache nach allen Regeln der Kunst (oder zumindest nach den nicht gerade zimperlichen Regeln der schreibenden Zunft!) ausgeschlachtet worden.
Ein simpler Unfall mit Todesfolge war viel zu alltäglich – und auch viel zu langweilig. Verirrte Wanderer, die im Busch verdursteten oder mit giftigen Schlangen, Ameisen, Spinnen, Skorpionen oder ähnlich gefährlichem (und unappetitlichem!) Getier konfrontiert wurden, brachten einfach nicht genug Schlagzeilen, um ein ebenso sensationslüsternes Publikum wochenlang bei der Stange zu halten. Aus diesem Grund war zunächst nur in den Redaktionen von Melbourne, aber schließlich auch in jeder Zeitungsagentur im Rest der zivilisierten Welt eine Fülle von mehr oder weniger haarsträubenden Theorien ausgebrütet worden, die das allgemeine Interesse beflügelt und erfreulich lange aufrecht erhalten hatten.
Die gängigste Theorie war natürlich Entführung – wahlweise durchgeführt von skrupellosen orientalischen Sklavenhändlern auf der Suche nach so exotischen Odalisken wie englischen Jungfrauen mit Kolonialblut in den Adern (wohllüstiges Schaudern – vor allem bei der männlichen Leserschaft!) oder auch von wilden Kannibalenstämmen aus Neuguinea, die offenbar eigens über den Pazifik herüber gepaddelt waren, um ausgerechnet in der Gegend von Mount Macedon auf die Jagd nach neuem Material für ihre heimischen Kochtöpfe und Schrumpfkopfsammlungen zu gehen (Gänsehautgrusel – vor allem bei der weiblichen Leserschaft!). Gelegentlich wurde auch ganz diskret die Möglichkeit angedeutet, dass die Verschwundenen eventuell einer finsteren Aborigine-Verschwörung gegen ihre britischen Oberherrn zum Opfer gefallen waren (große Empörung bei allen Lesern und noch dazu ein Hauch von Lynchjustiz-Stimmung gegenüber besagten Ureinwohnern!).
Sogar ganz gewöhnliche Kidnapper waren in Betracht gezogen worden, nachdem die Presse bekannt gemacht hatte, dass Irma Leopold, eines der drei verschollenen Mädchen, die einzige Tochter eines amerikanischen Multimillionärs war. Doch der akute Mangel an schwindelerregend hohen Lösegeldforderungen und das gänzliche Ausbleiben von entsprechend drastischen Todesdrohungen gegen die geraubte Erbin und ihre mutmaßlichen Mitgefangenen hatten schnell zu einer gewissen Ernüchterung geführt. Eine Ernüchterung, die sogar in eine vage Enttäuschung umgeschlagen war, als ausgerechnet Irma plötzlich und unerwartet wieder aufgetaucht war – dehydriert, völlig entkräftet, heftig zerschrammt und mit einer soliden Beule auf ihrem inzwischen weltberühmten schwarzen Lockenkopf, aber immerhin quicklebendig.
Dass auch sie nicht dazu in der Lage gewesen war, eine Erklärung für das Unerklärliche abzuliefern (genau wie Edith Horton konnte Irma sich an absolut nichts erinnern, was vielleicht doch noch zur Auffindung der anderen Vermissten geführt hätte!), sorgte nicht nur bei den erschöpften Suchmannschaften von Woodend und sämtlichen Farmen in der Nachbarschaft für eine erhebliche Frustration. Es war ein bitterer Kontrapunkt zu all den Aufregungen und den geradezu heroischen Anstrengungen, die man gemeinsam durchlebt und durchlitten hatte, während sich das Drama Akt um Akt entfaltet hatte …
Und als Irma ein paar Wochen später (das heißt nach ihrer Genesung als Gast im Haus der Fitzhuberts, wo man sie mit leicht übertriebener Fürsorge gehegt und gepflegt und verhätschelt hatte wie eine kostbare, aber hochempfindliche Treibhaus-Kamelie!) in Richtung Sydney aufgebrochen war, um zusammen mit ihren inzwischen angereisten Eltern von dort aus nach New York zurückzukehren, waren nicht allzu viele Leute traurig darüber. Jedenfalls nicht wirklich traurig …
Und Michael selbst schon gar nicht – ein Umstand, den vor allem seine Tante Anne ihm niemals verziehen hatte. Tatsächlich hatte Mrs. Fitzhubert im Stillen gehofft, dass der Tragödie eine Romanze mit eingebautem Happy End folgen würde (was ihre ausgesprochen enthusiastische Gastfreundschaft gegenüber der bildhübschen jungen Miss Leopold zumindest teilweise erklärte!).
Dass ihr seltsam zugeknöpfter Neffe nicht sofort die Gelegenheit beim Schopf ergriffen hatte, sich die entzückende (und steinreiche!) kleine Amerikanerin zu schnappen, obwohl Irma doch ganz offensichtlich in ihn verschossen war und ihren spröden und ziemlich widerwilligen Ritter rund um die Uhr anhimmelte und auch sonst auf jede nur denkbare Weise ermutigte, hatte die gute Frau so sehr verärgert, dass sie nach dem leicht unterkühlten Abschied ihres geknickten Schützlings prompt eine Gallenkolik erlitten hatte. (Auch daran gab Mrs. Fitzhubert Michael die Schuld – bis zum heutigen Tag! Es klang in der einen oder anderen frostüberhauchten Weihnachtsgrußkarte immer noch durch.)
Die bloße Vorstellung von Tante Annes sauertöpfischem Gesicht (der stahlharte funkelnde Blick einer erzürnten Harpyie und Lippen, die zu einem hauchdünnen missbilligenden Strich zusammengepresst wurden, sobald die Lady erkannt hatte, wie sehr ihre Künste als erfahrene Heiratsvermittlerin von diesem undankbaren jungen Tollpatsch sabotiert worden waren!) ließ Michael unwillkürlich daran denken, wie er sich vor dem letzten Lunch oder vielmehr vor der allerletzten Begegnung mit Irma gedrückt hatte.
Er war an dem fraglichen Tag gleich nach Sonnenaufgang nach Woodend geritten, um dem Horror eines gemeinsamen Frühstücks unter den wachsamen Augen seiner allzu wohlwollenden (und kuppelfreudigen!) Verwandtschaft aus dem Weg zu gehen. Dort hatte er sich in einem der Dorf-Pubs häuslich niedergelassen, sich eine gewaltige Portion Rührei und Schinken einverleibt und so gestärkt mit sehr viel Tee und einem eigens mitgebrachten Dickens-Schmöker den Mittag abgewartet.
Sobald die Kirchturmuhr ihn mit zwölf klingenden Schlägen von Oliver Twists Drangsalen erlöst hatte (allerdings nur vorläufig!), war er zum Postamt gegangen und hatte von dort aus zu Hause angerufen, um seinem Onkel weiszumachen, dass sein Pferd auf dem Hinweg ein Hufeisen verloren hatte und jetzt beim Schmied stand, der das arme Tier ganz sicher heute noch beschlagen würde, aber leider, leider nicht jetzt gleich, so dass Michael aller Voraussicht nach doch erst am späten Nachmittag heimkommen würde – also auf jeden Fall lange nach Miss Leopolds Abfahrt. So ein Pech aber auch!
Michael war nicht stolz auf diesen Akt der Feigheit. (Colonel Fitzhubert übrigens auch nicht, was er seinem Neffen wortreich und ziemlich lautstark klargemacht hatte, als er ihn nach dem Dinner und einem Glas Portwein zu viel sowohl für diese ziemlich durchsichtige Ausrede als auch für seine allgemeine Flegelhaftigkeit gegenüber den zutiefst gekränkten Damen gründlich zusammengestaucht hatte!) Aber er hätte es beim besten Willen nicht über sich gebracht, Irma noch einmal gegenüber zu treten. Nicht nach dem, was am Abend zuvor zwischen ihnen geschehen war …
Er hatte Irma wie so oft in den vergangenen Wochen in dem alten und schon etwas morschen Puntkahn über den mit Seerosen überwucherten und entsprechend pittoresken Teich gestakt, der die Sommerresidenz der Fitzhuberts effektvoll abrundete. Ein ausgesprochen malerisches Gewässer also und gerade groß genug für romantische Kahnfahrten (und für die entsprechend gefühlsduseligen Aquarelle sämtlicher pinselschwingender Nachbarinnen!)
In dieser idyllischen Umgebung war die bittersüße melancholische Stimmung, die die beiden jungen Leute überallhin begleitete, zu einer fast spürbaren Last geworden. Michael, der seit gut zwanzig Minuten keinen Mucks mehr von sich gegeben hatte, rammte seine Stange wieder und wieder in den weichen schlammigen Grund und schob den verflixten Kahn im Schweiße seines Angesichts (buchstäblich!) durch ein wahres Dickicht aus Schwimmblättern und rosafarbenen Blüten und das mit ungefähr derselben grimmigen Entschlossenheit, mit der auch Sisyphos seinen mythischen Steinbrocken durch den Hades gewälzt haben musste. (Dieser Vergleich war übrigens ziemlich naheliegend, da Michael das dunkle Gefühl nicht abschütteln konnte, dass auch er von irgendwelchen rächenden Gottheiten für irgendeine Freveltat bestraft wurde.)
Also schuftete und schwitzte er schweigend vor sich hin und vermied es dabei tunlichst Irma anzusehen, die ihn schon seit Tagen mit diesem Ausdruck hilfloser Anbetung anschmachtete, den Michael inzwischen einfach nicht mehr ertragen konnte, weil er diese Anbetung weder erwidern noch wirklich verstehen konnte.
Er war nicht der Meinung, dass er Irmas Bewunderung verdient hatte. Was war denn schon so besonderes an ihm? Gar nichts. Er hatte Irma nicht einmal wirklich gerettet, obwohl sie immer noch felsenfest davon überzeugt war, ganz egal, was Michael zu diesem Thema zu sagen hatte.
Na schön, er hatte Irma irgendwie und irgendwann gefunden … irgendwo da oben auf dem Hanging Rock, auf irgendeinem Plateau vor irgendeiner Höhle. Aber er wusste nicht einmal mehr, wie er diese Heldentat eigentlich vollbracht hatte, denn ja, auch er litt seit diesem Abenteuer an einer von Dr. McKenzie ausdrücklich bescheinigten Gedächtnislücke, so merkwürdig das auch war ... Und letzten Endes war es Albert gewesen, der sie beide gefunden und gerettet hatte …
Aber davon wollte Irma nichts hören. Sie wollte nichts wissen von diesem sonnenverbrannten linkischen Stallburschen mit dem Schwarm aus tätowierten Meerjungfrauen auf seinen muskulösen Armen, obwohl es genau diese Arme gewesen waren, die sie schließlich in Sicherheit gebracht hatten. Sie wollte von Albert Crundall genauso wenig wissen wie Michael von ihr, diesem zugegebenermaßen zauberhaften jungen Geschöpf, das gerade auf der Sitzbank ihm gegenüber thronte und mit mädchenhafter Anmut einen Schopf aus seidig schimmernden schwarzen Kringellocken schüttelte, während es ihn aus riesigen dunklen Sternaugen anstrahlte als wäre er mindestens das Siebte Weltwunder …
Nein, in Michael Fizthuberts waidwundem Herz war nur Platz für ein ganz anderes Geschöpf … Ein ätherisches Wesen von einer unwirklichen, fast schon überirdischen Lieblichkeit … Eine Elfe … eine Nymphe, deren Zauber in eine wallende goldene Mähne eingewebt war, die hinter ihr her geweht war wie ein Banner, als sie in einem Hauch aus schneeweißem Musselin über diesen von Farn gesäumten Bach geglitten war wie ein Schwan durch moosgrünes Wasser …
Miranda …
Er konnte sie immer noch vor sich sehen, als wäre ihr Bild in seine Iris eingebrannt, obwohl er sie nur sekundenlang beobachtet hatte. Er konnte sie immer noch sehen, wie sie mit der schwerelosen Anmut einer Ballerina auf dem anderen Ufer gelandet war …
Wie sie für einen flüchtigen Moment stehengeblieben war und sich umgesehen hatte, ohne ihn auch nur zu bemerken (ihn, der zwischen ein paar Büschen gestanden hatte, regungslos wie unter einem Bann!), ein leises Lächeln auf ihrem feingeschwungenen Mund, ein Lächeln, das allein diesem vollkommenen Moment in einer so unvollkommenen Welt gegolten hatte …
Wie sie sich dann umgedreht hatte und leichtfüßig davon geeilt war, ihren Gefährtinnen gefolgt war … Und wie sie nur Augenblicke später zwischen den Bäumen verschwunden war wie eine Vision, wie ein Traumbild … Um einfach spurlos zu verschwinden … Für immer zu verschwinden …
Oh Miranda ...
„Alles beginnt und alles endet zur richtigen Zeit, am richtigen Ort ..."
„Was?!" sagte Michael scharf. Er war selbst ein wenig erschrocken über seinen harschen Tonfall.
Und Irmas große seelenvolle Augen weiteten sich prompt noch ein klein wenig mehr, als sie zu ihm aufsah, überrascht jetzt und vielleicht auch etwas ungehalten über seine unerwartete Schroffheit, die sie nun wirklich nicht verdient hatte.
„Das hat Miranda immer gesagt."
Es klang beinahe verteidigend. Oder vielleicht doch eher vorwurfsvoll. Irma war nicht daran gewöhnt, um Aufmerksamkeit buhlen zu müssen. Sie stand immer im Mittelpunkt, wo sie auch war und wer auch immer gerade bei ihr war. In ihrem kleinen Universum war sie die Sonne, um die alle anderen Gestirne kreisten.
Und es war nicht nur die Schwerkraft der Leopold-Millionen, die diese fremden Himmelskörper auf Kurs brachte und auch dort festhielt. Irma besaß ihre ganz eigene Gravitation und sie wusste es auch. Es kam nicht oft vor, dass jemand dem kombinierten Liebreiz aus klassischer Schneewittchen-Schönheit und sprühendem Charme widerstehen konnte …
Sollte ausgerechnet ihr Auserwählter zu diesen öden Zeitgenossen gehören? Das konnte und durfte einfach nicht sein!
Die Winkel von Irmas kleinem roten Kirschmund kräuselten sich zu einem ebenfalls anbetungswürdigen Schmollen. Doch Michael Fitzhubert war immun gegen diese Art von Charme. Er dachte nur mit gänzlich leidenschaftsloser Nachsicht, dass dieser süße Schmollmund vermutlich schon ein ganzes Bataillon an Nannies, Gouvernanten und anderen dienstbaren Geistern in Schach gehalten hatte – von Irmas Eltern und ihren künftigen Verehrern ganz zu schweigen. Ihn selbst ließ dieser reizende Anblick völlig kalt.
Aber das, was Irma da gerade von sich gegeben hatte, ließ ihn nicht kalt – ganz im Gegenteil! Dass sie ausgerechnet jetzt so unerwartet dieses winzige kostbare Fragment von Mirandas unbekannter Lebensphilosophie, ihrer Denkweise, ihrer ganzen Weltsicht offenbart hatte, war eindeutig ein Zeichen, vielleicht sogar ein Wink des Himmels.
Seit Wochen hatte Michael mit atemloser Anspannung auf genau das gelauert: Auf diesen einen Moment, in dem Irma ihm zu erkennen gab, dass sie endlich bereit war über das zu reden, was bis jetzt ein Tabuthema zwischen ihnen gewesen war, das Unaussprechliche, das sie miteinander verband und sie doch voneinander trennte wie eine unsichtbare, aber allgegenwärtige Mauer.
Michael hatte gewartet, er hatte Rücksicht genommen, er hatte sich wie ein vollkommener Gentleman benommen, während die Zeit unbarmherzig weiter tickte und der unvermeidliche Tag von Irmas Abreise näher und näher rückte. Er hatte nicht gewagt, die Frage zu stellen, die schon so viele vor ihm gestellt hatten, die eine Frage, die ihm auf der Seele brannte, die ihn nicht mehr zur Ruhe kommen ließ, nicht für eine Minute. Er hatte sich schon halb damit abgefunden, dass er niemals die Gelegenheit dazu erhalten würde. Aber jetzt war es endlich so weit …
Er stieß die Stange in den Grund, um die Hände frei zu haben, und richtete sich in dem schwankenden Kahn zu seiner vollen (aber nicht wirklich eindrucksvollen) Größe auf. Er sah auf dieses Mädchengesicht hinunter, das sich ihm in dem schrägen Sonnenlicht dieses Spätsommerabends entgegen hob wie der samtige Kelch einer Blume, so offen, so unschuldig, so vertrauensvoll ...
Und dann sprach er es einfach aus, er sagte es und das mit einem Nachdruck, mit einer Eindringlichkeit, ja, mit einer Strenge, die so gar nicht zu seinem sonst so milden und nachgiebigen Naturell passte.
„Irma ... was ist da oben auf dem Hanging Rock wirklich passiert?"
Ihr Gesicht schnappte sofort zu wie die Schalen einer Auster im Augenblick der Gefahr. (Michael konnte beinahe das ZACK! hören, mit dem sich steinharte, scharfkantige Muschelränder schlossen, bereit zur Verteidigung ihres viel zu sensiblen, viel zu verletzbaren Bewohners.) Ihr Blick wurde starr vor Angst, ihre Stimme schrill vor Schmerz.
„Ich weiß es nicht … Oh Gott! ... Wie oft noch?! Warum glaubt mir denn bloß niemand? ICH WEIß ES NICHT!" Den letzten Satz schrie sie wie ein verwundetes Tier.
Und Michael war entsetzt über seine eigene Grausamkeit, seine unglaubliche Rohheit. Wie konnte er diesem armen Mädchen so etwas antun? Wie konnte er dieses traumatisierte Kind so plötzlich und ohne jede Vorwarnung damit überfallen? Hatte Irma nicht schon genug durchgemacht? War sie nicht schon oft genug ausgefragt worden, seit sie wieder zu sich gekommen war?
Wenn diese quälende Ungewissheit ihm schon so zu schaffen machte, ihm, einem Fremden, einem Außenstehenden, der eigentlich gar nicht das Recht dazu hatte, sich überhaupt so viele Gedanken über eine Angelegenheit zu machen, die ihn im Grunde gar nichts anging, wie musste sich dann erst Irma fühlen, die im Gegensatz zu Michael wirklich davon betroffen war, die zu den Hauptpersonen in diesem Drama gehörte, die alle…
… Miranda …
… die alle Betroffenen wirklich gekannt …
… geliebt!
… gekannt hatte?
Er war jetzt selber fassungslos. Wie gefühllos von ihm, wie egoistisch von ihm, Irma ausgerechnet hier und jetzt mit etwas zu behelligen, was sie aller Wahrscheinlichkeit nach ihr ganzes Leben lang verfolgen würde. Und irgendwo tief in ihm wies ein ganzer Chor von nörgelnden Stimmen, die verdächtig nach einer Kombination aus seiner Nanny und seinen Eltern klangen, ihn darauf hin, dass er sich gerade überhaupt nicht wie ein Gentleman verhalten hatte – ganz und gar nicht! Und das war vielleicht sogar das Schlimmste, was man über sein Verhalten sagen konnte …
„Es tut mir so Leid … Ich weiß, ich hätte Sie niemals … Bitte verzeihen Sie mir, Irma", stammelte er.
Und er meinte es völlig ernst. Aber sie drehte jetzt den Kopf weg und sah ihn nicht mehr an – und das war auch gut so, denn Michael konnte ihr auch nicht mehr in die Augen sehen.
Die Stille, die jetzt folgte, war so tief und so beklemmend, dass das friedliche Gegurre der Ringeltauben in den Baumgruppen am Ufer sich anhörte wie das Knistern und Prasseln eines näher kommenden Buschfeuers. Alarmierend. Bedrohlich. Tödlich …
Michael griff nach seiner Stakstange und setzte den Kahn wieder in Bewegung. Er brachte sie zurück zum rettenden Bootssteg und das so schnell wie möglich.
Auch Irma hatte es jetzt offensichtlich eilig, von ihm wegzukommen, denn als Michael, der als erster ausgestiegen war, ihr seine Hand bot, um ihr zu helfen, ignorierte sie ihn und kletterte allein hinaus, was (behindert durch einen knöchellangen Rock und einen zierlichen Sonnenschirm, der mehr Dekoration als ein echter Schutz war!) gar nicht so einfach für sie war.
Eine unbehagliche Minute lang standen sie auf dem Steg herum wie bestellt und nicht abgeholt. Jeder starrte vor sich hin, keiner rührte sich, keiner sagte etwas. Als das Schweigen unerträglich wurde, gab Michael sich einen Ruck. Es war Zeit, zu belanglosem Smalltalk zurückzukehren – falls das überhaupt noch möglich war.
„Ich werde übrigens auch bald wegfahren", sagte er und er sagte es recht widerwillig, denn natürlich war Irma Leopold ungefähr die letzte Person, der er anvertrauen wollte, was genau er vorhatte. „In ein paar Tagen schon. Ich will nach Queensland ..."
Ein Vorhaben, von dem seine Verwandten übrigens noch gar nichts wussten – weil Michael nicht wusste, wie er ihnen diese Neuigkeit beibringen sollte. Sie erwarteten nämlich mit der größten Selbstverständlichkeit, dass ihr Neffe sie für die Wintersaison in ihr Stadthaus begleiten würde – natürlich nur, falls Michael bis dahin keine anderen Zukunftspläne hatte, wie seine Tante ihm wiederholt (und mit einem betont schelmischen Augenzwinkern!) erklärt hatte.
Erst als Irma ein halbersticktes kleines Keuchen von sich gab und auf ihrem plötzlich kreideweißen Gesicht zwei hektische rote Flecken erschienen, als hätte jemand sie links und rechts geohrfeigt, wurde Michael klar, dass er gerade ganz unabsichtlich schon wieder in ein Fettnäpfchen getreten war – oder eher getrampelt und das sozusagen mit beiden Füßen zugleich und mit Schwung noch dazu.
Denn natürlich war Irma Leopold ungefähr die einzige Person, die instinktiv wusste, was genau ihn ausgerechnet nach Queensland zog. Queensland, dessen einzige echte Attraktion in Mirandas Familie bestand, die dort eine riesige und äußerst lukrative Rinderfarm betrieb, wenn man den Zeitungen glauben wollte …
Doch erst als sie ihm einen flammenden Blick zuwarf, in dem so viel Zorn und so viel Kummer lagen, als hätte er sie wirklich geschlagen, erkannte Michael, wie tief er sie mit seiner kleinen Indiskretion wirklich getroffen hatte. Erschüttert von seiner unbewussten Taktlosigkeit wollte er seinen Fauxpas sofort wieder gutmachen, sie irgendwie trösten.
„Irma ...", sagte er leise und trat einen Schritt auf sie zu, ganz vorsichtig, als wollte er ein scheuendes Pony am Zügel fassen, bevor es ihm endgültig durchging.
Aber sie wirbelte herum und rannte einfach weg, rannte auf und davon, mit der rechten Hand ihren absurden kleinen Sonnenschirm umklammernd und mit der linken ihren langen Rock zusammenraffend, damit sie auf ihrer Flucht nicht über seinen Saum stolperte. Trotzdem wäre sie auf den ziemlich buckligen Steinplatten, die den Weg zum Bootshaus markierten, beinahe gestürzt.
Und Michael, der ihr betroffen nachsah, blieb zurück, unsicher, was er tun oder sagen sollte. Was konnte er jetzt überhaupt noch tun oder sagen? Am besten gar nichts mehr…
Also setzte er sich auf die Stufen, die zum Bootshaus führten, und dort blieb er, bis ein melodischer Gong aus dem Haus ihn in das Esszimmer hineinrief, wo seine Tante und sein Onkel ihn schon erwarteten.
Doch Irmas Platz an diesem Dinnertisch blieb leer und Michael sah es mit großer Erleichterung. Sie hatte sich mit Kopfschmerzen entschuldigt, was natürlich eine viel bessere und glaubwürdigere Notlüge war als ein lahmendes Pferd. Allzu peinlichen Situationen ging man nämlich wirklich besser aus dem Weg ...
Und so kam es, dass Michael sich am Morgen darauf in aller Herrgottsfrühe auf seine Araberstute schwang, die er in der Hast seiner Aufbruchsstimmung sogar eigenhändig gesattelt hatte – und deren Hufeisen übrigens alle so festsaßen wie einzementiert. Und dann ritt er nach Woodend – im Galopp. Und er kam erst zurück (in einem entspannten Zockeltrab!), als er ganz sicher sein konnte, dass Irma Leopold tatsächlich auf und davon war.
Er stellte sich dem verständnislosen Unmut seiner Tante und dem Gepolter seines Onkels, ohne eine Miene zu verziehen. Und eine Woche später fuhr er nach Queensland. (Unerwartet, aber erfreulicherweise begleitet von Albert, der inzwischen zu seiner Verblüffung einen ansehnlichen Scheck von einem überaus dankbaren Mr. Leopold erhalten hatte. Tausend Pfund – vielleicht nicht gerade ein großes Opfer für einen Millionär, der sich für die Errettung seines einzigen Kindes erkenntlich zeigen wollte, aber ein Vermögen für jemanden wie Albert Crundall und das Startkapital für seine Zukunftspläne.)
Dort angekommen hatte Michael dann tatsächlich Mirandas Familie ausfindig gemacht und sie auch besucht. Und warum? Weil er das Bedürfnis verspürt hatte, zumindest für eine Weile denen nahe zu sein, die den Menschen hervorgebracht hatten, der dazu bestimmt gewesen war, die Liebe seines Lebens zu werden. (Zumindest war es das, was Michael glaubte.)
Und weil er das vage Gefühl hatte, diese Leute um Verzeihung bitten zu müssen. Weil es ihm nicht gelungen war, ihr Kind wieder zu finden und mit Alberts Hilfe zu retten. Weil er versagt hatte. Weil er im entscheidenden Augenblick einfach nicht den Mut dazu aufgebracht hatte, auf die gesellschaftlichen Konventionen zu pfeifen, die ihm verboten, eine unbekannte junge Dame anzusprechen, der er noch nicht offiziell vorgestellt worden war. Weil er Miranda nicht gefolgt war und deshalb auch nicht da gewesen war, um sie zu beschützen, um sie und ihre Gefährtinnen vor dem zu bewahren, was auch immer ihnen zugestoßen sein mochte. Weil er lieber ein gottverdammter Gentleman gewesen war als ein Held …
Und all das erzählte er ihnen, Mirandas Leuten, die ihn mit offenen Armen aufgenommen und seiner Beichte mit ernsten Gesichtern zugehört hatten. Und obwohl sie gut zu ihm waren und ihm tausendmal versicherten, dass nichts von dem, was geschehen war, seine Schuld war, dass es Schicksal war, dass es Gottes Wille war und niemand ihm irgendetwas übel nahm, fand er auch dort keine Ruhe, keinen Balsam für die Wunde, die in ihm schwärte.
Aber er blieb in Queensland, obwohl sein Vater und dann die Anwälte seines Vaters ihm immer öfter schrieben, dass er gefälligst endlich nach Hause kommen sollte. Doch Michael blieb und als sein Vater ihm schließlich sein Konto sperren ließ (auf den Rat der Anwälte hin!), suchte er sich einfach einen Job auf derselben Schaffarm, auf der Albert seit ihrer Ankunft arbeitete. Und so lebten sie eine Weile vor sich hin, bis Albert endlich so weit war, dass er den Leopold-Scheck nutzte, um sich ein Stück Land zu kaufen und selber eine kleine Schaffarm aufzubauen. Und dann heiratete er und gründete eine Familie und Michael, der bei ihnen lebte, gehörte irgendwie dazu.
Die Jahre vergingen und er fand in seinem neuen Zuhause beinahe so etwas wie seinen Frieden. Beinahe, aber niemals ganz ...
Dann starb sein Vater und er musste doch wieder nach Hause, denn seine Schwestern konnte er nicht im Stich lassen. Ein einziges Telegramm von ihnen bewirkte, was weder die vorwurfsvollen (und langatmigen!) Episteln des Earls of Haddingham noch die sachlich-kalten Erpressungsversuche der Kanzlei Pushy, Pushy & Sohn fertig gebracht hatten.
Michael Fitzhubert kehrte heim, weil es sich so gehörte. Er nahm sein Leben als pflichtbewusster englischer Aristokrat wieder auf, als hätte er nie damit aufgehört. Seine erste Amtshandlung als neuer Earl bestand in einer kräftigen Finanzspritze für Alberts florierende Farm, an der er mehr sentimentale als finanzielle Interessen hatte (sehr zum Ärger von Mr. Pushy senior!). Und kurz darauf heiratete er sogar selber – weil es sich so gehörte. Und jetzt saß er hier in seinem Arbeitszimmer und wünschte sich, er wäre damals auch spurlos auf dem Hanging Rock verschwunden …
An diesem Punkt brach Michael seinen Rückblick ab und wandte sich wieder seinen Zeitungsausschnitten zu.
Noch mehr reißerisch aufgemachte Artikel, noch mehr unscharfe Fotos …
Eines davon zeigte ein schmales kluges Windhundgesicht und verschmitzte Augen hinter einer Nickelbrille mit dicken Gläsern – Marion Quade, verwaiste Tochter eines Anwalts und die erklärte Musterschülerin des Appleyard Colleges, die gerade irgendein renommiertes Stipendium gewonnen und damit sozusagen einen kurzfristigen akademischen Ruhm errungen hatte, bevor ihr Verschwinden sie zu einer echten Berühmtheit gemacht hatte. Ein typischer Blaustrumpf (das heißt eine intelligente und hochgebildete, aber dafür ganz besonders hoffnungslose alte Jungfer!) im Embryonalzustand.
Daneben Greta McCraw, die Mathematiklehrerin und (so wie sie aussah!) die Verkörperung all dessen, was dreißig oder vierzig erbarmungslose Jahre mehr aus Marion Quade gemacht hätten, wenn sie dieses Alter je erreicht hätte.
Und schließlich Miranda, lieblich und unergründlich mit diesem nachdenklichen Blick, der eine Weisheit verriet, die weit über ihr Alter hinauszugehen schien, eine moderne Botticelli-Venus in einem langweiligen dunklen Sonntagskleid mit einer riesigen Schleife an dem braven weißen Leinenkragen, obwohl sie eigentlich eher ein prachtvolles Renaissance-Gewand aus golddurchwirktem Brokat mit einem Saum aus Hermelin hätte tragen sollen und dazu vielleicht noch ein Geschmeide aus tropfenförmigen Perlen und rundgeschliffenen Rubinen an ihrem schlanken Schwanenhals …
Alles beginnt und alles endet zur richtigen Zeit, am richtigen Ort …
Als sie diese Worte ausgesprochen hatte, hatte Miranda da bereits geahnt, dass ihr Leben, das doch kaum begonnen hatte, schon so bald wieder enden würde? Hatte sie die Zeit und den Ort ihres Endes als richtig empfunden, als es dann so weit gewesen war? Oder hatte sie Angst gehabt, hatte sie geschrien und geweint? Hatte sie um ihr Leben gefleht, hatte sie darum gekämpft?
Aber derart morbide Gedankengänge führten nur zu Depressionen und Lethargie, wie Michael wusste, also schob er diese Betrachtungen energisch von sich, bevor es wieder dazu kam. Er hatte diesen Zustand schon viel zu oft erlebt …
Er strich mit dem Zeigefinger über das gelbliche Papier, über die drei Fotos und die fettgedruckten schwarzen Lettern darunter, die in Großbuchstaben VERMISST – VERMUTLICH TOT! verkündeten.
Es war genau diese Dreierreihe von Fotos und es war genau dieser Untertitel, die man für die Fahndungsplakate verwendet hatte, die damals überall in der Gegend an Schaufenster, Laternenpfähle, Litfasssäulen, Fahnenmasten und den einen oder anderen Gartenzaun geheftet worden waren. Was natürlich absolut nichts gebracht hatte ...
Michael griff nach dem nächsten Stück seiner Sammlung. Wieder ein Artikel, dieses Mal mit zwei Fotos: Ein verkniffen aussehendes Kind mit steifen Zöpfen, das eine Aura von allgemeiner Trostlosigkeit ausstrahlte – Sarah Waybourne, Mirandas Zimmergenossin, deren schon stark verweste Leiche im Gewächshaus des Schulgartens aufgefunden worden war, nachdem sie sich offensichtlich schon mehrere Tage zuvor aus einem Dachfenster des Colleges gestürzt hatte.
Doch das einzig wirklich Spektakuläre an ihrem Selbstmord war, dass Mrs. Appleyard, die Besitzerin und Rektorin der Schule, behauptet hatte, das Mädchen sei von ihrem Vormund abgeholt worden. Eine offensichtliche Lüge, über deren Hintergründe Mrs. Appleyard niemals befragt werden konnte, da sie sich aus dem Staub gemacht hatte, bevor die Polizei dazu gekommen war, ihr auf den Pelz zu rücken. Dass man sie zwei Tage später ebenfalls tot am Fuß des Hanging Rocks aufgefunden hatte – scheinbar abgestürzt bei einem Versuch, den Felsen zu erklimmen –, hatte die Gerüchteküche erneut angeheizt.
Michael kannte den dazugehörigen Text schon seit langem auswendig, so dass er ihn nicht mehr zu lesen brauchte. Also verzichtete er darauf und betrachtete stattdessen wieder einmal das nicht sehr sympathische Konterfei von Mrs. Appleyard (kalte Augen, ein harter schmallippiger Mund, scharf gezeichnete Nasolabialfalten, die in ein ausgeprägtes Doppelkinn übergingen, und alles in allem der bissige Ausdruck eines schlecht gelaunten Nußknackers!).
Und wie immer überlegte er dabei, was um Himmels willen eine gewichtige sechzigjährige Matrone in mörderisch engen Schnürstiefeln dazu veranlasst haben mochte, ausgerechnet auf dem unwegsamsten Teil des Felsens herumzukrabbeln – und das eingehüllt in die voluminösen Stoffschichten eines Reisekleides und eines dazu passenden langen Wollmantels, bewaffnet mit Hut und Schleier und Regenschirm und zusätzlich bepackt wie ein Lastesel mit einem riesigen Pompadour und einer wohl gefüllten Reisetasche. Es war einfach unbegreiflich – so wie alles, was sich damals rund um den Hanging Rock abgespielt hatte.
Und nicht nur rund um den Felsen …
Michael wandte sich dem bisher letzten Teil seiner Kollektion zu – ein weiterer Zeitungsartikel, aber dieses Mal ohne Bild. Doch dafür bot er umso mehr schaurige Details über das Ableben einer gewissen Miss Dora Lumley, einer anderen Lehrerin aus dem offensichtlich vom Unglück verfolgten Appleyard-College.
Und Miss Lumley war möglicherweise von allen Beteiligten der größte Pechvogel, denn sie hatte ihr schreckliches Ende in einem billigen Hotel in Bendigo gefunden, wo sie nach ihrer Kündigung am Tag zuvor übernachtet hatte. Doch offenbar war sie dem unheilvollen Bannkreis des Colleges nur entkommen, um noch in derselben Nacht bei einem Feuer umzukommen, dem alle anderen Hotelgäste entwischt waren. Warum ausgerechnet sie in ihrem Bett verblieben war, obwohl das Alarmgeschrei und Sturmgeläute eines aufmerksamen Nachtwächters alle sonstigen Bewohner rechtzeitig in Sicherheit gescheucht hatte, gehörte zu den Kuriositäten, die den Niedergang ihres früheren Arbeitsplatzes umgaben wie ein Fliegenschwarm eine Mülltonne.
So viele Todesfälle und alle nie wirklich aufgeklärt … Es war wahrhaftig kein Wunder, dass Tom der Ire so etwas wie einen Fluch darin sah …
Michael Fitzhubert wusste nicht so recht, was er darin sah. Aber einen Zufall konnte er nicht mehr darin sehen. Nicht wirklich …
Er saß noch eine Weile da und grübelte vor sich hin. Aber wie üblich brachte ihm das Brüten über seinem Archiv weder neue Erkenntnisse noch eine dringend benötigte Erleuchtung. Am Ende packte er alles wieder zusammen (ergänzt durch die aktuellen Teile aus dem Melbourne Chronicle) und verstaute den Kalender in seinem Schreibtisch.
Er hatte die Schublade gerade abgeschlossen und den Schlüssel (wie üblich!) in dem hohlen Sockel einer grässlich kitschigen Porzellanfigur versteckt (ausgerechnet ein Amor – ein Geschenk von Violet mit ziemlich eindeutigen Hintergedanken!), als es diskret an seine Tür klopfte.
„Herein!" rief Michael.
Erst als die Klinke heruntergedrückt wurde, ohne dass sich etwas rührte, fiel ihm wieder ein, dass gar niemand hereinkommen konnte.
„Mylord?" sagte die Stimme des Butlers jenseits dieser sorgfältig polierten Mahagoniholzbarriere, hinter der sich Michael verschanzt hatte wie ein Kolonialoffizier mit seinen Truppen in einem von Hottentotten belagerten Fort. (Genauso fühlte er sich meistens auch, wenn er ehrlich war.)
„Was ist denn jetzt schon wieder, Finch?" Er hörte selbst, dass sein Tonfall unnötig gereizt war.
„Ihre Ladyschaft lässt fragen, ob Sie nicht langsam heraufkommen wollen, um sich für das Dinner umzuziehen, Sir", klang es entsprechend vorwurfsvoll zurück.
Michael rollte mit den Augen, warf aber trotzdem einen flüchtigen Blick auf die Kaminuhr, deren Zeigerstand ihn ebenfalls bezüglich seiner vernachlässigten Pflichten als Ehemann und Gastgeber zu ermahnen schien. (Die Uhr war natürlich auch eine vielsagende Gabe der vernachlässigten Ehefrau und Gastgeberin!)
„Na schön, Finch. Ich komme gleich", sagte er resigniert.
Aber obwohl es schon spät war (und obwohl er genau wusste, dass Violet ihm auch dafür eine Szene machen würde!), verharrte er noch für zehn Minuten. Er stand an seinem Fenster, halb verborgen hinter schweren Chintzvorhängen, und blickte durch die wappengeschmückten Glasscheiben hinaus in seinen von Abendsonnenlicht durchfluteten Park.
Doch Michael Fitzhubert sah keine weiten Rasenflächen und sorgfältig zurechtgestutzte Buchsbaumlabyrinthe vor sich und auch keine Gruppen von kerzengeraden Kastanien und Eichen, die schon gepflanzt worden waren, als seine Vorfahren noch samtene Pluderhosen, wattierte Wämser, Halskrausen und Degen getragen hatten.
Vor seinen gepeinigten Augen erhob sich eine sehr viel ältere und sehr viel wildere Landschaft, die niemals von einer menschlichen Hand berührt worden war. Er sah Haine von windzerzausten Akazien und Eukalyptusbäumen, die senkrecht in einen heißen, metallisch blauen Himmel hinaufzustreben schienen wie die Säulen eines heidnischen Tempels, überragt von drohenden Urzeitgesichtern aus grauem Granit, die mit blindem Groll in die Ferne oder in eine völlig unbekannte Dimension starrten … Gnadenlose steinerne Götter, die auf eine Opfergabe warteten …
Und er sah die kleine Gruppe von Mädchen, die in ihren leichten weißen Kleidern unter dem schattigen Dach der Baumkronen dahinzogen wie eine Prozession von jungfräulichen Priesterinnen in ihren rituellen Gewändern auf dem Weg zu ihrem Heiligtum, ihrem Altar …
Und er hörte wieder diese Stille, die über dem Wald gelegen hatte, eine atemlose Stille, die durch nichts anderes durchbrochen worden war als durch das endlose heisere Zirpen von unzähligen Zikaden, ein Klang wie das eintönige Rasseln von bronzenen Sistren …
Bis plötzlich und unerwartet ein Schwarm von Wellensittichen aus der Deckung eines Gebüschs aufgeflogen und unter schrillem erregten Geschimpfe davon gestoben war, eine Welle aus grellgrün und schwefelgelb gefiederter Panik, die Vorboten eines unvorhersehbaren Verhängnisses …
Und Michael Fitzhubert fragte sich zum tausendsten, zehntausendsten, hunderttausendsten Mal, was gewesen wäre, wenn er den Mädchen einfach nachgegangen wäre, wenn er verhindert hätte, was auch immer da zu verhindern gewesen war.
Und er lehnte seine Stirn gegen das kühle Glas, schloss erneut die Augen und wünschte sich zum millionsten Mal, er könnte die Zeit durch irgendeine unbekannte Magie zurückdrehen, einfach so.
Aber das war unmöglich. Und so blieb er zurück mit seiner unstillbaren Sehnsucht, mit seiner niemals endenden Schuld …
Fortsetzung folgt ...
