„Der Stammesführer der Dunedaín" (14.12.)

Vom Schnee bedeckte weiße Berg- und Hügelketten umschlossen das Tal und verbargen die Hütten und Baracken der Siedlung vor unliebsamen Augen und denen der Wanderer und Händler, die den Grünweg entlang zogen. Nur wenigen Menschen und anderen Personen der freien Völker war das kleine Dorf der Waldläufer bekannt und seine Bewohner taten ihr möglichstes, damit dies auch so blieb. Sie mieden die bekannten Straßen und hielten sich von den viel genutzten Wegen und Pfaden fern, was jedoch den Nachteil hatte, dass sie sich oftmals unwegsamen Gelände gegenüber sahen, um ihre Ziele zu erreichen. Im Winter, bei Schnee und Eis, war es noch beschwerlicher, das Lager zu erreichen und wenn man zuvor noch mehrere Monate damit zugebracht hatte, das Nebelgebirge zu durchkämmen, kam einem der Weg noch einmal so lang und beschwerlich vor.

Es hatte am Morgen wieder begonnen zu schneien, kaum dass Aragorn sein notdürftiges Lager unter den Sträuchern einer Ginstern-Hecke verlassen hatte. Sie hatte ihm in der Nacht nur spärlichen Schutz geboten, doch nach einem ganzen Tag im beständigen Schneetreiben, wünschte er sich selbst diesen zurück. Das einzig Gute daran war, dass das Schneegestöber seine Spuren sofort wieder verdeckte und auch seine Gestalt vollkommen verbarg. Er versuchte durch die wirbelnden Flocken etwas auszumachen und glaubte tatsächlich, einige Rauchsäulen in der Ferne zu erkennen. Sicher konnte er sich jedoch nicht sein. Die Aussicht auf ein Dach über dem Kopf, ein prasselndes, warmes Feuer, eine heiße Mahlzeit und die Gesellschaft von Freunden verlieh ihm neue Kraft. Entschlossen zog er den Mantel und den wollenen Umhang fester um die Schultern zusammen und versuchte seine vor Kälte schmerzenden Füße und Hände zu ignorieren.

Er stellte sich vor, dass Halbarad gerade einen Holzscheit in die Glut legte, während darüber im Kessel ein duftender Eintopf garte und augenblicklich meldete sich sein Magen mit einem lauten Knurren zu Wort. Seine letzte Mahlzeit hatte aus einer handvoll Nüsse und getrockneten Beeren bestanden und lag nun bereits mehrere Stunden zurück, doch er besaß nichts mehr, was er hätte zu sich nehmen können, um seinen schlimmsten Hunger zu stillen. Und er war es inzwischen gewohnt, mit wenig auszukommen. Auf seiner Suche nach dem Geschöpf Gollum hatte er oft tagelang nichts Essbares gefunden. Der Mangel an Nahrung war nicht das Einzige, was in den letzten Monaten seine Spuren an ihm hinterlassen hatte. Gandalfs Blick hatte Bände gesprochen, als er ihn vor einigen Tagen in Bree getroffen hatte. Der Zauberer hatte sich bemüht, sich seine Bestürzung nicht allzu offen anmerken zu lassen, doch immer, wenn dieser geglaubt hatte, dass er nicht hinsah, hatte Sorge auf dessen Zügen gelegen.

Sein Vetter Halbarad würde es wohl nicht bei Blicken belassen. Und schweigen würde dieser ganz gewiss auch nicht. Aragorn könnte es ihm nicht verübeln, denn er brauchte keinen Spiegel, um sich seines Äußeren bewusst zu sein. Seine Kleidung schlotterte ihm nicht nur viel zu weit am Leib, sondern war auch an etlichen Stellen notdürftig ausgebessert und starrte vor Dreck. Hände und Gesicht waren zerkratzt und schmutzig und unter seiner Gewandung verbargen sich unzählige blaue Flecken, Prellungen und andere Verletzungen, die er sich bei seinen Kletterpartien und kleineren Scharmützeln mit umherstreifenden Orks zugezogen hatte. Innerlich wappnete sich Aragorn schon einmal gegen die umfangreiche Moralpredigt seines Vetters, dass er es in all den Jahren noch immer nicht gelernt hatte, besser auf sich Acht zu geben. Einige von dessen bildreichen Ausdrucksweisen kamen ihm dabei in den Sinn und trotz allem weckten diese Vorstellungen ein schmales Lächeln in seinen Mundwinkeln und vertrieben auch vorübergehend die Kälte. Es tat gut zu wissen, dass es im Lager der Dunedaín Personen wie Halbarad und seinen Bruder Serothlain gab, die sich um ihn sorgten. Nur an einem Ort in Mittelerde hätte er sich einer noch heftigeren Maßregelung stellen müssen. Wäre er in seiner jetzigen Verfassung in Imladris erschienen, hätte er sich nicht nur von Elrond, sondern auch von den Zwillingen und Laietha einiges anhören können. Wahrscheinlich hätten sie ihn danach erst einmal in einen Badezuber mit heißem Wasser gesteckt, seine Verletzungen versorgt und ihn anschließend vor einen reichlich gedeckten Tisch gesetzt, von dem sie ihn nicht eher wieder aufstehen hätten lassen, bevor er nicht wenigstens die Hälfte der dort aufgetragenen Köstlichkeiten aufgegessen hätte. Und wenn er dann endlich in seine vertrauten Gemächer gedurft hätte, hätte er auf dem Tisch neben seinem Bett sicherlich noch einen Teller mit einem Stück Honigkuchen vorgefunden. Diese Gedanken weckten ein beinahe schmerzhaftes Gefühl des Heimwehs in ihm. Vier Jahre. Es war inzwischen vier Jahre her, dass er sein Zuhause und seine Familie gesehen hatte. Für seinen Ziehvater und die Zwillinge mochte dies nur einen Wimpernschlag bedeuten, doch für ihn und auch Laietha war dies eine viel zu lange Zeit. Das letzte Mal als er seine Schwester gesehen hatte, war sie ein geradezu ungestümer, impulsiver Backfisch gewesen, doch inzwischen war sie sicherlich zu einer wunderschönen, jungen Frau und einer verantwortungsvollen und gewissenhaften Heilerin geworden. Unzählige Male hatte er sich vorgenommen, sich auf den Weg nach Imladris zu begeben und seine Familie zu besuchen, doch immer wieder hatten ihn seine Pflichten und andere Dringlichkeiten gefordert und davon abgehalten. Der Auftrag, für Gandalf nach der Kreatur aus dem Nebelgebirge zu suchen, war nur einer davon gewesen. Im letzten Frühjahr war er dazu aufgebrochen und trotz aller Mühe war er wie die anderen Male zuvor erfolglos geblieben. Nun war er einfach nur müde und erschöpft und wünschte sich nichts sehnlicher, als auszuruhen. Bei den Valar. Hatte er sich nicht wenigstens diese kleine Annehmlichkeit verdient? Durfte er sich nicht wenigstens eine kleine Weile in Sicherheit wiegen und zumindest wieder etwas an Kraft gewinnen, um dann erneut seine Suche fortsetzen zu können? Konnte er es wohl wagen bis zum nächsten Frühjahr im Dorf der Dunedaín zu bleiben? Eine plötzliche Unruhe erfasste ihn und er sah sich um. Es war, als spüre er einen feindlichen Blick auf sich ruhen, der selbst den Schneesturm durchdrang, doch er konnte unmöglich sagen, ob dies tatsächlich so war, oder ob ihm seine Sinne einen üblen Streich spielten. Hastig beschleunigte er seine Schritte.

Doch erst nach einer Ewigkeit, so schien es Aragorn, erreichte er die Furt, die sich zwischen zwei Felswänden entlang wand und fast in dem Augenblick, als er diese betrat, hörte er das vertraute Signal. Es war der Ruf eines Waldkauzes und aus einem selbstverständlichen Reflex heraus antwortete er seinerseits mit dem eines Adlers, der gleichzeitig seine Identität offenbarte. Nach einigen Herzschlägen schallte ein weiterer, durchdringender Pfiff durch das Tal. Jeder im Lager wusste nun, wer den Eingang zum Dorf betreten hatte.

War es klug gewesen, seine Identität so leichtsinnig Preis zu geben? War die Siedlung für ihn wirklich noch sicher? Er blieb stehen und lauschte, doch er konnte nichts Verdächtiges ausmachen. Beinahe beschämt setzte er seinen Weg fort. Wann war es geschehen, dass sein Misstrauen so groß geworden war?

Aragorn stieß einen langen, langsamen Atemzug aus und flehte stumm zu den Valar, dass nicht gleich das ganze Dorf zusammenkommen würde, um ihn zu begrüßen. Wenigstens diesen einen Abend und diese Nacht sollte ihm doch vergönnt sein dürfen. ‚Bitte Halbarad', flehte er stumm. ‚Lass dir etwas einfallen. Niemand weiß besser als du, wie sehr ich es hasse, wenn mich so viele Menschen gleichzeitig umringen und bedrängen. Vor allem nach einer so langen Zeit allein in der Wildnis.'

Er hatte es schon in Bree kaum ertragen. Zu viele Menschen und Hobbits auf zu wenig Platz, die sich auf Straßen und Gassen viel zu dicht drängten und ihn mit misstrauischen und feindseligen Blicken bedacht hatten. Für die Bewohner der Stadt und des umliegenden Landes waren die Waldläufer zwielichtige und gefährliche Gestalten, denen man nicht trauen konnte und die man lieber sah, wenn sie Bree verließen. Beim Betreten des „Tänzelnden Ponys" waren für einige Augenblicke die Gespräche verstummt und alle Augen hatten sich auf ihn gerichtet. Es war ein unvermeidlicher Instinkt gewesen, dass sich seine Hand unter dem Umhang wie von selbst um das Heft seines Dolches gelegt hatte. Einige Besucher hatten es nach seinem Erscheinen außerdem ziemlich eilig gehabt zu bezahlen und das Gasthaus zu verlassen, woraufhin Butterblume ihm einen sorgenvollen Blick zugeworfen hatte. Hätte dieser nicht ebenso viel Angst vor ihm gehabt, wie die flüchtenden Gäste, hätte dieser ihn ganz sicher ohne zu Zögern hinausgeworfen. Aragorn hätte es ihm nicht verdenken können. Nur Gandalf war es zu verdanken gewesen, dass der Gastwirt ihm eine Schale Eintopf und einen Humpen Bier gebracht hatte.

Und auch jetzt fuhr seine Hand wie von selbst an das Heft seines Schwertes, als sich erst die Umrisse der ersten Behausungen aus dem Schneetreiben abzeichneten und dann zwei Personen darin Gestalt annahmen.

Trotzdem ließ er die Hand erst sinken, als er die Männer erkannte. Auch wenn sie wegen des heftigen Schneefalls geduckt gingen und die Schultern zusammengezogen hatten, war sich Aragorn sicher, dass es sich um Halbarad und Serothlain handelte, die ihm entgegen kamen. Selbst in dieser geduckten Haltung ließ sich deren, selbst für die Dunedaín, beachtliche Größe erahnen. Beide Männer überragten Aragorn um einen ganzen Kopf und hinter ihren breiten Schultern hätte er sich ohne weiteres verstecken können. Und nichts anderes hätte er jetzt am liebsten getan, um sein Haus ungesehen zu erreichen. Er wünschte sich nichts mehr als sich aufzuwärmen, hinzulegen, auszuruhen und schließlich zu schlafen.

Einer der beiden Männer beschleunigte nun seinen Schritt etwas und war als erster bei ihm. Auf Halbarads Gesicht zeichnete sich ein erleichtertes und breites Grinsen ab, doch in seinen Augen blitzten deutlich seine wahren Empfindungen auf. Er musterte seinen Freund kurz, bevor er ihn ohne zu zögern packte und an sich zog. „Streicher! Du bist wahrlich immer für eine Überraschung gut. Bei diesem Wetter hätten wir niemals mit deiner Ankunft gerechnet."

Hinter ihm stieß Serothlain ein missbilligendes Knurren aus. „Oder mit überhaupt einem Besucher. Wer kommt schon auf die Idee, freiwillig bei diesem Schneetreiben einen Fuß vor die Türe zu setzen." Doch auch er begrüßte ihn herzlich, hatte es aber sichtlich eilig, wieder ins Warme zu kommen. Er ließ den Arm um Aragorns Schulter liegen und schob ihn regelrecht in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Aragorn setzte zu einer Entgegnung an, musste jedoch feststellen, dass ihn seine Stimme nach der langen Zeit des fehlenden Gebrauchs betrog. Sie brach und er musste sich erst räuspern. Selbst danach klang sie rau. „Sei gnädig mit mir, Serothlain. Als ich von Bree aufgebrochen bin, war der Himmel offen und das Wetter versprach sich zu halten." Serothlain schnaubte, doch beließ es dabei. Er kannte Aragorn gut genug und wusste, dass jedes weitere Wort zu nichts führen würde. Außerdem wollte er nicht unnütz Zeit damit vergeuden, zu argumentieren. Aragorn sah aus, als befände er sich am Rande der Erschöpfung und könne sich nicht mehr lange auf den Beinen halten.

Zwischen seinem Bruder und ihm fand ein rascher Blickwechsel statt. Sie waren sich einig. Anstatt den Weg zwischen den Häusern zu nehmen, der zu Aragorns Hütte führte, steuerten sie auf Halbarads Haus zu. Dort versprach das durch die Fensterläden fallende Licht die Aussicht auf alles, was ein Mann nach einer anstrengenden Wanderung durch den Schnee benötigte. Und die Tatsache, dass sich Aragorn nicht widersetzte, sprach Bände.

In Wirklichkeit kämpfte Aragorn jedoch mit sich selbst. Der Anblick der erleuchteten Fenster machte ihm nur zu deutlich, dass Halbarad von einer liebenden Familie empfangen wurde, wann immer dieser in sein Heim zurückkehrte. Er hatte eine Frau gefunden und inzwischen zwei wundervolle, quirlige Töchter. Und er selbst? Er wusste, dass er niemals ein solches Glück haben würde, solange er sich der dunklen Bedrohung durch Sauron und dessen Schergen gegenüber sah. In Imladris würde er immer willkommen sein, doch es war längst nicht mehr das Heim, das es einst für ihn gewesen war. Nicht, seitdem es zwischen ihm und Elrond so schwierig geworden war. Und die Stadt der Dunedaín? Sie war eine Art von Heimat, doch nicht das Zuhause, das er sich wünschte. Und er wusste, es war nur ein Heim für eine gewisse Dauer. Er wusste nicht, wie lange er dieses Mal bleiben würde. Bleiben konnte. Vielleicht einige Monate, bis ihn seine Verpflichtungen forderten, oder seine Anwesenheit hier zu einer Bedrohung für die Dunedaín wurde. Er konnte spüren, dass es ihm nicht für lange vergönnt war. Früher oder später würde er wieder aufbrechen und die Waldläufer wieder zurücklassen müssen.

Plötzlich fühlte er sich wie ein Eindringling, der den Frieden von Halbarads Familie störte, doch es war zu spät um umzukehren.

Die Türe öffnete sich und ein breiter Lichtstrahl fiel auf die verschneite Gasse. Halbarads Frau Idhril stand im Rahmen und bedachte ihren Mann mit einem liebevollen Blick. Sie hatte ein wollenes Tuch um ihre schmalen Schultern geschlungen und ihr langes, dunkles Haar wurde von einzelnen Flocken bedeckt. Einladend trat sie beiseite und schenkte auch Serothlain ein Lächeln, als er in die Stube trat. Bei dieser herzlichen und zugewandten Begrüßung zog sich Aragorns Magen schmerzhaft zusammen. Auch wenn Idhril ihn ebenso freundlich und gleichzeitig respektvoll begrüßte, war dies nicht sein Heim, nicht seine Familie. Er wollte schon den Mund öffnen, um etwas zu sagen, sich zu entschuldigen und doch noch seine eigene Hütte aufzusuchen, als Halbarad seinem Blick begegnete. „Komm herein, Streicher. Du weißt genau, dass mein Heim auch das deine ist. Sei nicht so starrsinnig. Heute Abend sollst du an einem warmen Feuer und unter Freunden verbringen. Du warst die letzten Monate schon zu lange allein." Seine Stimme war ruhig aber eindringlich und Aragorn wusste, er würde keine andere Entscheidung akzeptieren. Also nickte er seinem Freund widerstrebend zu und übertrat die Schwelle. Augenblicklich stieg ihm der Duft von Tee und Honig in die Nase. Die Wärme des Feuers ließ seine feuchte Kleidung dampfen und als er sich des Umhangs und seines Mantels entledigte, überkam ihn ein Schauer. Halbarad trat neben ihn und auf seinem Gesicht lag Entschlossenheit. „In der hinteren Kammer steht ein Zuber mit heißem Wasser. Die Mädchen werden froh sein, dass ihnen das Bad einen weiteren Tag erspart bleibt", er zwinkerte seinen beiden Töchtern verschwörerisch zu, die in der Stube vor der Feuerstelle hockten und bei seinen Worten begannen zu kichern. „Ich bringe dir saubere Kleidung und danach wird Idhril das Essen fertig haben. Du hast Glück. Heute gibt es ihren berühmten Hammel-Eintopf." Idhril lachte bei diesen Worten. „Du übertreibst, Hal. Außerdem war dieses Vieh nach dem bisherigen harten Winter bereits verdammt mager." Doch Aragorn erkannte, dass sie das Kompliment ihres Mannes schmeichelte. Sie wandte sich mit leicht geröteten Wangen dem hoch gepriesenen Eintopf über dem Feuer zu und überließ es ihrem Gatten, seinen Hauptmann in den hinteren Teil ihres Hauses zu führen. Die Kammer war gerade groß genug, um dem hölzernen Zuber und einem gusseisernen Ofen darin Platz zu bieten. Feuchte Wärme erfüllte den Raum, die sich angenehm um Aragorns Körper legte. Halbarad ließ ihn allein und gab seinem Freund die Gelegenheit, sich seiner restlichen Kleider zu entledigen und in das herrlich heiße Wasser zu steigen. Jetzt, da er zur Ruhe kam und sich vorsichtig in das Wasser gleiten ließ, erwachten all die Prellungen, Verletzungen und kleinen Schnitte an seinem Körper zum Leben. Mit einem gedämpften, aber auch erleichterten Stöhnen sank Aragorn zurück. Halbarad war ein großer Mann und konnte sich sicherlich nicht ganz in dem Zuber ausstrecken, doch Aragorn gelang es und es war das erste Mal seit einer Ewigkeit, dass ihm vollends warm wurde. Seine Augen schlossen sich wie von selbst und er blendete all seine Gedanken aus. Seine empfindlichen Sinne kamen langsam zur Ruhe und er gestattete sich seine angespannte Aufmerksamkeit und Vorsicht sinken zu lassen. Er war bei Freunden. In Sicherheit. Er konnte die Geräusche des Hauses und seiner Bewohner hören. Das Knarren der Holzbalken und Dielenbretter, Stimmen, Kinderlachen, das Poltern von Schritten, Klappern von Töpfen und Geschirr. Seine Glieder wurden schwer und er wäre eingeschlafen, doch bevor er dies zuließ, zwang er sich dazu, die Augen wieder zu öffnen.

Er begann damit, sich Dreck, Asche und getrocknetes Blut vom Körper zu waschen, seifte sich gründlich ein und begann sich endlich wieder sauber zu fühlen. Als er den linken Arm aus dem Wasser hob, leuchtete im Schein der Glut der golden schimmernde Bernstein an seinem Handgelenk auf. Aragorn hielt inne und strich langsam mit dem Daumen über das Kleinod, das ihm Laietha geschenkt hatte. Seit jenem Tag hatte er das Band nicht abgenommen und ebenso wie seinen Ring spürte er es nicht einmal mehr. Laietha. Inzwischen fiel es ihm schwer, sie sich vorzustellen. Er wusste, sie würde sich in den Jahren verändert haben. Ob er sie überhaupt erkennen würde? In den ersten Jahren, nachdem er das Mädchen nach Imladris gebracht hatte, hatte es kaum einen Tag gegeben, an dem sie voneinander getrennt gewesen waren. Er hatte sie mit hierher gebracht, wenn seine Pflichten als Anführer der Waldläufer seine Anwesenheit hier im Dorf verlangt hatten. Aber damals war es in seiner Gegenwart auch bei weitem sicherer gewesen. Und als die Zeiten unsicherer geworden waren, hatte es ihn immer öfter und für immer längere Zeit fort vom Hause Elronds geführt. Und er hatte sich viel zu sehr um seine Schwester gesorgt, um diese noch immer auf seine Wanderungen mitzunehmen. Inzwischen musste er für sie fast ein Fremder geworden sein… Der Gedanke weckte einen stechenden Schmerz in seinem Herzen.

,Ich sollte mich wahrscheinlich eher fragen, ob sie mich noch erkennen würde', schoss es ihm durch den Kopf. Seine Schwester hatte die letzten Jahre behütet im Kreis ihrer elbischen Familie und im Schutz von Imladris verbracht. Wenn er ihr jetzt begegnen würde, würde sie ihn dann überhaupt erkennen? Oder einfach an ihm vorübergehen?

Ein leises Klopfen riss ihn aus seinen düsteren Gedanken und ohne auf seine Zustimmung zu warten, öffnete sich die Türe und der Hausbesitzer trat ein. Halbarad trug einen Stapel sauberer Kleidungsstücke und ein großes Tuch zum Abtrocknen unter dem Arm. „Hier hast du hoffentlich alles, was du benötigst, mein Freund. Oder soll ich noch Verbandsleinen und Salben holen? Es wäre nicht das erste Mal, dass du mir eine Verletzung vorenthältst." „Hal…" Doch mit einer Geste unterband sein Freund jeden weiteren Einwand. „Ich will es gar nicht hören. Du besitzt ein besseres Wissen im Heilen als ich und es steht mir auch nicht zu, dich zu tadeln oder dir Vorschriften zu machen." Er schwieg kurz. „Das Essen ist fertig. Es wird Zeit, dass wir wieder etwas Fleisch auf deine Rippen bekommen. So genügt ein schwacher Windstoß, um dich umzupusten. Du bist nur noch Haut und Knochen." Mit diesen Worten verließ Halbarad den Raum. Aragorn wusste, sein Freund machte sich nur Sorgen um ihn und wenn er ehrlich war, hatte dieser allen Grund dazu, ihm gegenüber misstrauisch zu sein. Es war tatsächlich schon vorgekommen, dass er diesem die eine oder andere Wunde verschwiegen hatte. Doch in all diesen Fällen hätte Hal ohnehin nichts tun können, um diese zu versorgen, da sie weder die nötigen Heilkräuter und Verbände, noch die Möglichkeit und Zeit gehabt hatten. Es war ungerecht, dass Halbarad es ihm immer noch vorhielt!

Auch wenn er ausgesprochen froh war, dass sich Halbrad seinen Rücken nicht genauer angesehen hatte, auf dem noch immer deutlich genug die Spuren einer verunglückten Kletterpartie zu sehen waren. Aber der Absturz im Gebirge war das geringere Übel gewesen, denn es hatte ihn aus der Reichweite eines Wargs gebracht, der seine Witterung aufgenommen hatte. Und das Badewasser brannte auch kaum noch in den inzwischen fast verheilten Schürfwunden.

Langsam stieg Aragorn schließlich aus dem Badezuber, rieb sich trocken und kleidete sich an. Überrascht stellte er fest, dass es sich um seine eigenen Kleidungsstücke handelte. Halbarad oder Serothlain mussten sie aus seinem Haus geholt und zu eben diesem Zweck hier verwahrt haben. Sie saßen deutlich lockerer als gewohnt, aber das Gefühl des warmen, sauberen Leinens auf seiner Haut, war einfach unbeschreiblich. Während er noch damit beschäftigt war, die letzten Schnüre seines Hemdes zu schließen, kehrte er in die Wohnstube zurück und Serothlain grinste ihn an. „Sieh an, sieh an. Unter all den Lumpen und dem Schmutz steckte wirklich unser Hauptmann!"

Aragorn verzog kurz das Gesicht. An alles wollte er jetzt erinnert werden, nur nicht an seine Stellung. „Einigen wir uns darauf, dass es sich am heutigen Abend nicht um den Hauptmann, sondern um euren Vetter und Freund handelt", bat er deshalb und lächelte schmal. Halbarad trat neben ihn und schlug ihm kameradschaftlich auf den Rücken, so unerwartet und fest, dass es ihn ins Taumeln brachte und ein Stück vorwärts Richtung Tisch stieß. Halbarad zog missbilligend die Augenbrauen hoch.

„Und als Freund sage ich dir, dass du dich schleunigst setzen und mindestens drei Portionen Eintopf essen solltest. Selbst die halbstarken Burschen im Dorf könnten dich in dieser Verfassung im Zweikampf besiegen." Aragorn schnaubte nur und nahm dann neben Serothlain Platz. Dankend nahm er von Idhril eine Schale des verlockend duftendem Eintopfes entgegen, der ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Der erste Löffel hielt bereits, was der Duft versprochen hatte und die Intensität der Kräuter und Gewürze erfüllte seine Sinne. Genießerisch stieß er ein Seufzen aus. „Dein Mann hat nicht zu viel versprochen, Idhril. Der Eintopf schmeckt vorzüglich." Idhril schenkte ihm ein Lächeln, doch dann wandte sie sich ihren Töchtern zu, die im Angesicht des späten Besuchs ihres Hauptmanns wohl gehofft hatten, ein paar spannende Geschichten von dessen abenteuerlichen Reisen zu hören. Aber ihre Mutter erinnerte diese, dass es Zeit für sie war, ins Bett zu gehen. Die Beiden fügten sie sich mürrisch, drückten ihrem Vater einen Kuss auf die Wange und verabschiedeten sich artig von ihrem Onkel und Aragorn.

Dieser schaffte nur zwei Portionen des Eintopfs, doch Halbarad schien sich damit zufrieden zu geben. Aragorn schob die Schale von sich, lehnte sich zurück und ließ seinen Blick durch die Stube schweifen, bevor er an seinen Vettern hängen blieb. Er ahnte, dass sie nur zu gerne erfahren hätten, wie es ihm in den letzten Monaten ergangen war und was er für Neuigkeiten zu ihnen brachte, doch er hatte nicht vor, diesen Abend so zu beginnen. Deshalb ergriff er selbst das Wort.

„Du hast reizende Mädchen, Hal. In ein paar Jahren wirst du dich vor Verehrern sicher nicht retten können. Sie kommen ganz nach ihrer Mutter." Serothlain musste ein Lachen unterdrücken. „Und die Burschen tun mir jetzt schon leid. Hätte ich so einen grimmigen Schwiegervater gehabt, hätte ich mich nie getraut, um meine Franka zu werben." „Oh, jetzt übertreibst du aber, Ser. Du warst so liebestoll, dass du für nichts anderes einen Blick hattest. Ihr Vater hätte dich überwältigen, fesseln, knebeln und in den Fluss werfen können, bevor du gewusst hättest, wie dir geschähe. Aber ich glaube, er hatte Mitleid mit dir und hat sie dir deshalb anvertraut." Die Männer lachten. „Oh, er war froh, dass seine Franka einen so guten Fang gemacht hatte", brüstete sich Serothlain. „Und er freute sich über die Schar Enkel, die ich ihm bescheren würde."

Es war zwar nur ein Enkelsohn geworden, doch dieser war inzwischen zu einem stattlichen jungen Mann herangewachsen.

„Wie geht es deinem Sohn?", fragte Aragorn ihn. „Mallor geht es gut. Er befehligt seine eigene Truppe und ist gerade im Süden, an den Grenzen von Bruchtal…" Allein die Erwähnung von Imladris weckte in Aragorns Herzen seltsames Ziehen und er wechselte rasch das Thema. „Du kannst stolz auf ihn sein. Und bestimmt wird auch er dir das ein oder andere Enkelkind bescheren. Wenn er nach dir kommt, wird er sicher ein verdammt gutaussehender junger Mann sein." Halbarad lachte dröhnend, verstummte jedoch, als sein Bruder ihm einen gespielt drohenden Blick zuwarf. „Das ist er, mein Freund. Und das erste Enkelkind ist bereits auf dem Weg. Im Sommer wird seine Elenwe so weit sein."

Nur weil ihm das Glück auf eine eigene Familie in diesen schweren Zeiten verwehrt blieb, hieß das nicht, dass er seinen Vettern diese Gnade nicht gönnte. Ganz im Gegenteil sogar. Ein ehrliches Lächeln zog über Aragorns Gesicht und ließ es sofort weniger müde erscheinen.„Das freut mich für euch, Ser." Halbarad hakte die Daumen in seinen Gürtel und lehnte sich zufrieden zurück, während er Idhril einen liebevollen Blick zuwarf, die sich um das Geschirr kümmerte.

„Den Valar sei Dank, habe ich damit noch etwas Zeit. Aber wenn es soweit ist, kann sich jeder Mann freuen, der Imwe oder Miriel zur Frau bekommt. Es sind liebe, fleißige Mädchen und bereiten uns nur Freude. Imwe hat ein Händchen für Pferde und verbringt jede freie Minute im Stall bei Meister Rumil. Und Miriel hat ein Talent für das Bogenschießen. Idhrils Vater hat ihr einen in ihrer Größe gebaut und sie trifft jetzt schon fast immer ins Schwarze." Aragorn genoss es, seinen Vettern zu lauschen, musste jedoch mehr und mehr darum kämpfen, seine Augen geöffnet zu halten. Halbarad blieb dieses nicht verborgen und so legte er seinem Vetter freundschaftlich die Hand auf die Schulter.

„Du gehörst ins Bett, mein Freund, und dass du mir ja nicht erst mit dem Gedanken spielst, zu dieser späten Stunde noch den langen Weg in dein Heim auf dich zu nehmen. Wahrscheinlich würdest du dort vor lauter Müdigkeit darauf verzichten, ein Feuer im Kamin zu entfachen und dich in den Schlaf schlottern." Kurz sah er Widerspruch in Aragorns grauen Augen aufblitzen, aber zu seinem Glück kam in jenem Augenblick Idhril zurück, trat an seine Seite und nickte Aragorn zu. „Ich habe dir schon ein weiches Bett vorbereitet und bei uns ist es allemal wärmer als in deiner Hütte. Außerdem werden die Mädchen mehr als glücklich sein, wenn sie dich morgen früh am Frühstückstisch vorfinden." Ihm entkam ein leises Seufzen, als er sich in sein Schicksal ergab.

„Du wirst mir zürnen, wenn ich deine Freundlichkeit ablehne, nicht wahr, Idhril?", fragte er und ein warmes Lächeln legte sich auf die Züge der Frau. „Worauf du dich verlassen kannst, Streicher!"

„Nun, dieses Risiko will ich auf keinen Fall eingehen", murmelte er, streckte sich und erhob sich mit einem unterdrückten Ächzen vom Tisch. Insgeheim bezweifelte er, dass er es nach dem entspannenden Bad und dem guten Essen noch bis in seine Hütte geschafft hätte und er war dankbar dafür die Nacht in einem warmen Bett verbringen zu können. Halbarad führte ihn in eine weitere kleine Kammer, in der sich ein schmales Bett befand. Kaum hatte sich Aragorn darauf nieder gelassen, fiel er in einen tiefen, erschöpften Schlaf.