Nachdem sich jeder von uns mit einer Portion Reis gestärkt hatte, brachen Alanus, Cora und ich gemeinsam mit Meister Togo auf, um Yijos Mutter die traurige Nachricht vom Tod ihres Sohnes zu überbringen. Junjae und die beiden Ascalonier blieben zusammen mit Großmeister Greico zurück. Sie hatten Togos Schüler nicht gekannt und zumindest Junjae war auch nicht in Zen Daijun beim Tod des Ritualisten dabei gewesen, daher entschieden sie sich, Greico beim Sichern unseres Nachtlagers zu unterstützen. Zwar würden wir in Schichten Wache halten, um einen Überfall von Straßenräubern oder Befallenen früh genug abwenden zu können, aber ein paar zusätzliche Schutzmaßnahmen in Form von versteckten Trittnägeln oder Stolperdrähten konnten nicht schaden.
Schon bald hatten die schummrigen Gassen uns verschluckt und still folgte unser Grüppchen dem Klosteroberhaupt. Die Straßen waren eng und oft mussten wir hintereinander laufen, doch nicht nur das verhinderte, dass sich ein Gespräch entwickeln konnte. Wir alle waren bedrückt und keinem war zum Reden zumute, selbst Meister Togo machte einen angespannten Eindruck. So zogen wir fast wie eine Prozession durch die verschlungenen Straßen, bis wir schließlich vor einem unscheinbaren Eingang zum Stehen kamen. Ein paar leere Kisten, die vor dem Haus auf abgewetzten, aber stabilen Tischen standen und verwaiste Körbe im Eingangsbereich ließen darauf schließen, dass hier einst ein Laden gewesen war, doch viel war nicht mehr davon zu sehen. Bei genauerem Hinsehen konnte ich unter den Auslageflächen ein paar Lumpen ausmachen; offenbar hatte sich hier bereits jemand ein provisorisches Nachtlager eingerichtet. Es irritierte mich, dass die Armut der Menschen hier so offensichtlich war und wie etwas Normales behandelt wurde. Niemand verbot den Bettlern, ihre Behausungen an den Rändern der Straßen zusammen zu zimmern, niemand scheuchte die Obdachlosen weg, die sich vor den Läden niederließen.
„Meister Togo...Kei na Kai!" Meine Gedanken wurden abrupt von einem erschrockenen Ausruf unterbrochen. Er kam von der Frau, die dem Ritualisten auf sein Klopfen hin die Tür geöffnet hatte. Sie musterte unsere Gruppe kurz, ehe sie weitersprach. „Eure Anwesenheit hier ohne meinen Sohn kann nur eines bedeuten...Aber ich wusste es...noch bevor Ihr kamt, wusste ich, dass mein Sohn tot ist." Sie begann zu schluchzen und fuhr nach einer kurzen Pause fort, ohne auf eine Antwort von Togo zu warten. „Ich habe gehört, dass die Pest das Kloster erreicht hat und ich habe in den letzten Tagen oft vom Tod meines Sohnes geträumt. Eure Anwesenheit hier bestätigt nur meine Träume. Ich bin froh, dass Yijo nicht mit ansehen musste, was aus uns hier geworden ist...und wie schlimm uns die Pest getroffen hat." Mitfühlend legte der Ritualist seine Hand auf die Schulter der Frau. „Jia, es tut mir sehr Leid. Er hat sein Leben gegeben um die zu schützen, die sich selbst nicht schützen konnten. Sein Handeln war edel und sein Tod ehrenvoll. Diese Schüler hier haben in den letzten Wochen an seiner Seite gekämpft und waren in seinen letzten Augenblicken bei ihm. Sie sind mit mir gekommen, um Euch ihr Beileid auszusprechen." Der Ritualist deutete mit einer Geste zu uns Dreien. Dass ich streng genommen keine Schülerin des Klosters war hatte er vermutlich unterschlagen, um der Mutter in ihrer Trauer unnötige Details zu ersparen, doch auf eine seltsame Art und Weise erleichterte es mich, als ich seine Worte hörte. Ich fühlte mich nicht mehr nur wie ein Anhängsel, das von Togo und seinen Schülern mitgenommen wurde, sondern wie jemand, der auch in Togos Augen zu der Gruppe seiner Helfer dazu gehörte.
Betreten sah ich zu Boden, während Cora Yijos Mutter ihr Beleid aussprach. Sie sagte ein paar Worte und schien gerade davon anfangen zu wollen, dass ich Yijo besser kannte als Alanus und sie, doch der Mesmer fiel ihr ins Wort. Cora glaubte offenbar immer noch, dass mein Abschied von Togos Assistenten deshalb so emotional für mich war, weil ich eine enge Beziehung zu ihm hatte und war im Gegensatz zu Alanus noch nicht darauf gekommen, dass ich damals schon gewusst hatte, dass Yijo sterben würde. Fast hätte ich über die Naivität der Mönchin geschmunzelt, konnte mir jedoch noch rechtzeitig ein Lächeln verkneifen. Ich wischte den Gedanken beiseite und trat nun auch auf die Mutter zu, nachdem Alanus ihr ebenfalls sein tiefstes Beileid ausgesprochen hatte. „Es tut mir so Leid für Euren Verlust. Ich wünschte, wir hätten mehr tun können. Es tut mir Leid." stammelte ich hilflos.
Meister Togo blieb noch für ein Gespräch bei Yijos Mutter, während wir uns alleine auf den Rückweg machten. Nachdem wir eine gefühlte Ewigkeit durch die dämmrigen Gassen Kainengs gelaufen waren, entdeckte Alanus einen Mann in offizieller Kleidung. Er trug die Rüstung der kaiserlichen Garde und wir hofften, er könnte uns den Weg zurück zu unserem Lagerplatz erklären. Doch noch ehe einer von uns überhaupt mehr als eine Begrüßung hervorbringen konnte, fiel der Offizier uns ins Wort. „Ich habe keine Zeit mich um Eure Angelegenheiten zu kümmern. In dieser krisengeschüttelten Zeit rufen die Bewohner von Cantha verzweifelt um Hilfe, und das Ministerium für himmlische Angelegenheiten hört ihre Bitten. Wir haben eine Ladung Einrichtungsgegenstände – Spiegel um genauer zu sein – aus Elona erhalten. Diese wertvollen Gegenstände müssen schnellstmöglich an die Bedürftigen verteilt werden und ich bin alleine dafür abgestellt, sie unter den Obdachlosen zu verteilen."
Alanus und mir hatte es die Sprache verschlagen, aber Cora war überhaupt nicht sprachlos und hakte verständnislos nach. „Ihr wollt Spiegel an Obdachlose verteilen? Und wofür? Habt Ihr Euch mal umgesehen? Die Leute hausen in Baracken, zusammen gezimmert aus Müll, ohne frisches Wasser, Essen und in der ständigen Angst, überfallen zu werden. Was sollen diese Leute bitte mit Spiegeln?!"
Bevor die Mönchin weiter schimpfen konnte, zog Alanus sie weg und verabschiedete sich freundlich von dem verdutzt dreinblickenden Offiziellen. Als wir außer Hörweite waren, sah der Mesmer uns mit einem Kopfschütteln an. „Die Leute vom Himmelsministerium sind wirklich absolut weltfremd. Nichtsdestotrotz ist es keine gute Idee, unhöflich oder gar unfreundlich zu werden. Wenn sich einer von denen gekränkt fühlt, kann es schnell unangenehm werden." Fassungslos sahen wir den Mesmer an. „Du meinst, sie missbrauchen ihre Macht?", fragte ich entsetzt. Alanus seufzte. „Das Himmelsministerium ist...schwierig. Auf Shing Jea merkt man davon nicht so viel, auf der Insel sind wir etwas isoliert von dem Wahnsinn, aber hier im Zentrum ist es deutlich schlimmer.
Irgendwann hatten wir schließlich doch noch den Weg zurück zu unserem provisorischen Lager gefunden und wurden einige Straßen vorher von Junjae abgefangen, der uns zeigte, wie wir uns dem Schlafplatz nähern konnten, ohne die Fallen und Sicherheitsvorkehrungen auszulösen, die die anderen während unserer Abwesenheit angebracht hatten. Als Großmeister Greico uns bemerkte, kam er zu uns.
„Einer Mutter zu sagen, dass ihr Kind tot ist, ist nie einfach ... Es war nett von Euch, Meister Togo zu begleiten und Jia Euer Beileid auszusprechen. Yijo hätte das so gewollt. Meister Togo kommt später nach, nehme ich an?", fragte der Waldläufer ernst und ich schallt mich innerlich, dass ich bei der Frage meinte eine Zweideutigkeit heraus hören zu können. Wir nickten nur müde anstatt ausführlich zu antworten, das Herumirren durch die dämmrigen Gassen hatte uns ermüdet und so ließen wir uns dankbar neben dem notdürftig aufgestellten Feuerplatz nieder, auf dem unser Abendessen vor sich hin köchelte – trockener Reis. Das Zeug hängt mir bald zum Hals raus dachte ich genervt, doch der Hunger war letztendlich größer und so hatte ich meine Portion schließlich doch ruckzuck aufgegessen.
Die Sonne hatte sich bereits hinter die Baracken verzogen und schummrige Dunkelheit machte sich breit, als Meister Togo ebenfalls zurück kehrte. Wir besprachen nochmals die Schichten für die Nachtwache; je zwei Leute sollten für ungefähr zwei Stunden aufpassen, während die anderen schliefen. Cora und ich würden die erste Schicht übernehmen, Alanus und Junjae die nächste, gefolgt von Monti und Zoe und die letzte Schicht übernahmen Meister Togo und Großmeister Greico.
Die erste Stunde ging verhältnismäßig schnell herum, ich unterhielt mich im Flüsterton mit Cora, während wir unsere Blicke über den leeren Platz gleiten ließen. Irgendwann überkam mich dann aber doch Müdigkeit und ich stand auf, um langsam auf und ab zu gehen. Im flackernden Schein des Feuers war es noch schwerer, die kaum merklich angebrachten Fallen rund um unseren kleinen Lagerplatz auszumachen, also umrundete ich die Schlafplätze in einem engen Kreis, um bloß keine der Schutzvorkehrungen auszulösen.
Das Laufen hatte ich schnell wieder aufgegeben, aber irgendwann war auch die zweite Stunde endlich vorüber und Cora musste ein Gähnen unterdrücken, als sie aufstand um sich zu strecken und Junjae und Alanus für die nächste Wachschicht zu wecken. Ermattet kroch ich in mein Schlaflager, kuschelte mich an Bacon und fiel schon sehr bald in einen traumlosen Schlaf.
Der nächste Morgen war viel zu schnell gekommen und ich hatte unwirsch in die gerade aufgehende Sonne geblickt, als ich aus meiner Koje gekrochen war. Meister Togo wollte so schnell es ging nach Kaineng gehen, um dort mit dem Kaiser über die Vorfälle auf Shing Jea zu reden. Wir hatten ihn begleitet, unsicher, was wir sonst hätten machen sollen. In dem provisorischen Lager gab es absolut nichts zu tun, doch jedem von uns war klar, dass der Ausflug in die Hauptstadt kein Vergnügungstrip werden würde. Greico war zurück geblieben um die Fallen wieder abzubauen, würde jedoch anschließend nachkommen.
Der Weg war – nicht zuletzt wegen Togos erbarmungslosen Tempos – anstrengend, aber ereignislos gewesen. Abgesehen von dem immerwährenden Gestank innerhalb der Slums machte unserer Gruppe unterwegs nichts zu schaffen, doch als wir gegen Mittag die Tore Kainengs in der Ferne entdeckten, erlebten wir eine böse Überraschung. Aus den riesigen Abwasserrohren, die den Unrat der Hauptstadt vor die Mauern ebendieser befördern sollten, krochen einige Pestkreaturen hervor. Wir waren durch die eintönige Reise wohl unachtsam geworden, jedenfalls bewegte sich bereits eine Handvoll entstellter Monster auf unsere Gruppe zu, als Zoe einen Ruf ausstieß und wir unsere Waffen zogen.
Junjae reagierte als Erster und war mit einem Satz in den Schatten verschwunden, um kurz darauf wieder hinter den Gegnern aufzutauchen und einem Zauberwirker seine Dolche in den Rücken zu stoßen. Ich warf einen kurzen Blick zu allen Seiten, um sicher zu gehen, dass wir es nur mit dieser einen Gruppe zu tun hatten und nicht überrannt werden würden. Dann rief ich Bacon an meine Seite und machte ebenfalls einen Satz auf die Gegner zu. Ein breitschultriges Wesen, dessen Statur nur noch entfernt an einen Menschen erinnerte, lief ungelenk auf uns zu, in den Händen eine Axt und einen Schild, beides übersät von Pestwucherungen, wie die Kreatur selbst. So gut ich konnte vertrat ich dem Ungetüm den Weg und wehrte seine Schläge mit meinem Schild ab. Ein weiteres Scheusal, das auf allen Vieren lief und dessen Beine mehr an Dolche erinnerten, bewegte sich nun ebenfalls auf mich zu und ohne, dass ich groß einen Gedanken daran verschwendete, flitze mein Schwein los und verbiss sich in eines der spitzen Beine, auf denen die Kreatur fast schon graziös balancierte. Geschickt wich Bacon den hackenden Angriffen aus, während er immer weiter an dem Bein seines Gegners zog und riss, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Lange konnte ich mich jedoch nicht auf den Kampf meines Tieres konzentrieren, da der Krieger, mit dem ich rang, nicht müde wurde, mit seiner Axt nach mir zu schlagen. Zwischen seinen Schlägen versuchte ich ebenfalls, ihn zu erwischen, doch er blockte meine Angriffe gleichfalls mit seinem Schild ab.
Nach einigen weiteren erfolglosen Versuchen traf schließlich ein Eiszauber meinen Gegner, welcher daraufhin nahezu erstarrte und sich nur noch sehr langsam bewegen konnte. Ich nutzte meine Chance und verpasste dem Monstrum einige gezielte Schläge, bis es schließlich leblos zu Boden sank, im Fleisch tiefe Scharten von den Treffern meiner Axt.
