Schmerzen! Furchtbare Schmerzen durchzogen seinen Körper. Der Arzt hatte seinen Schrei sofort richtig verstanden und fixierte Tim Bradfords Kopf:"Bewegen Sie sich nicht!" Tim hörte Ashley, die wissen wollte, was passiert war. Durch den Vorhang der Schmerzen hindurch drang die unschöne Erklärung des Arztes zu ihm: Dieses verdammte Kugelfragment war jetzt noch weiter gewandert und war dabei, ihn zum Krüppel zu machen. Direkt vor den Augen seiner Freundin! Die ja ohnehin wollte, dass er den Job als Polizisten aufgab - das was ihn ausmachte, was seinem Leben Sinn gab! „Ja, Ashley! Da hast du deine Bestätigung! Als Polizist kann jeder Tag der letzte sein! Aber ich werde diesen Job nicht einfach so aufgeben…" dachte er kampfeslustig und ein wenig trotzig. Das Letzte, was er mit seinen Schmerzen jetzt gebrauchen konnte, wäre irgendein „guter Vorschlag".Er musste Ashley beschäftigen. „Ruf meine Schwester an," bat er sie. Es klappte. Sie ging.
Für den Hauch eines Augenblicks wünschte er sich, Lucy Chen wäre jetzt bei ihm. So wie sie es schon bei dem Schuss und bei der ganzen Geschichte mit dem tödlichen Virus gewesen war. Aber es war Sergeant Grey, der sich über ihn beugte. Schlimm genug, dass der ihn so sah! Er sollte dafür sorgen, dass Lucy hiervon nichts mitbekam. Sie sollte sich auf ihre Aufgabe konzentrieren. „Chen hat schon genug zu tun," erklärte er Grey. Der drückte ihm zur Bestätigung die Hand. Tim Bradford hätte sich gern anders hingesetzt. Erst dabei registrierte er: Seine Beine fühlten sich seltsam taub an. Er konnte sie nicht richtig ansteuern. Über das linke hatte er gar keine Kontrolle mehr. War er gelähmt? Hilflos sah er sich um. Was geschah mit ihm? Jemand legte ihm ein unbequemes Stiffneck an. Fremde Menschen umgaben ihn. „Vorsicht, ganz vorsichtig," hörte er Greys Stimme außerhalb seines gerade sehr begrenzten Sichtfelds.
Mit der ersten Bewegung von der Wand weg wurden die Schmerzen unglaublich stark. Tim Bradford stöhnte laut auf. Ihm wurde übel, so heftig waren die Schmerzen. Ja, er hatte schon viele Schmerzen gehabt. Aber dieser Schmerz war stechend, so unnachgiebig und erlaubte ihm kaum, richtig zu atmen. Dieser Schmerz fähig, ihm alles zu nehmen, was er als lebenswert erachtete. Das war ihm bewusster, als er es gerade ertragen konnte. Es gab kurz unter dem medizinischen Personal eine kleine Diskussion darüber, wie man ihn möglichst schonend aus seiner ungünstigen Position heraus und auf Station bringen könnte. Tim hörte ihnen nicht zu, sie würden schon das Richtige tun. Was er jedoch hörte, war Ashley, wie sie zu Grey sagte: „Jetzt ist er wirklich ein Fall für die Frührente!" In ihm stieg Wut auf. Hilflose Wut. Was mischte sie sich ein? Er brüllte gegen diesen Schmerz, seine Wut und die Hilflosigkeit an, als man ihn auf das eilig herbei geschobene Bett umlagerte. Vermutlich konnte man seinen Schrei noch am Eingang hören. Dem Schrei folgte das Schluchzen von Ashley und ein „Sie schaffen es, Bradford," von Grey. Aber Tim war zu sehr mit diesem Schmerz beschäftigt und auch zu wütend, um irgendwie darauf zu reagieren. Eine Pflegekraft und der Arzt schoben ihn den Gang hinunter, um eine Ecke. Über ihm wechselten sich Neonröhren und Decke in kurzen Abständen ab. Er schloss die Augen. Das grelle Licht über ihm verstärkte seine Übelkeit, seine Panik und die seinen Schmerz. Er versuchte, sich seine militärischen Trainings zu erinnern. Er wollte sich in den Griff bekommen. Ruhiger atmen, aber es gelang ihm nicht.
Das Bett, auf dem er lag, wurde angehalten. Der Arzt, den er schon kannte, sagte zu ihm: „Ich suche kurz Ihren Neurochirurgen, dann sprechen wir noch über die OP. In der Zwischenzeit kümmert sich meine Kollegin, Dr. Duval, um Sie."
In Tims Blickfeld erschien eine afroamerikanische Frau in seinem Alter. Sie lächelte ihn an, fast so als wäre sie es, die Hilfe von ihm benötigen würde: „Mr. Bradford, ich bin Dr. Duval, Ihre Anästhesistin. Ich werde in den nächsten Stunden auf Sie aufpassen. Auf einer Skala von 0-10, wo ist Ihr Schmerz gerade?"
„9" presste Tim heraus.
Sie sah ihm direkt in die Augen und griff nach seiner Hand: „Ich lege Ihnen einen Zugang. Darüber gebe Ihnen etwas gegen die Schmerzen. Dann geht es Ihnen sofort etwas besser, okay?" Er spürte ihre menschliche Wärme durch ihren Handschuh hindurch. Es tat gut. Obwohl er hier bewegungsunfähig und schmerzerfüllt vor ihr lag, ließ damit die Aufregung etwas nach. Sie widmete sich ganz seinem Handrücken: „Es piekst kurz." Routiniert stach sie mit der Kanüle ein. Während sie den Mandrin zurück zog, fragte sie:„ Wann haben Sie zuletzt gegessen?"
"Heute Vormittag, vor dem Einsatz..."
„Gab es schon einmal Probleme oder Komplikationen bei einer Narkose?"
„Nein… Doktor, ich spüre meine Beine nicht mehr," platzte es aus Tim heraus. Sein Blick war so voller Angst, fast schon panisch, dass sie ihm über den Arm strich und sagte: „Das ist sehr beunruhigend für Sie, das verstehe ich. Wir werden alles daran setzen, dass wieder alles in Ordnung kommt, okay?". Ihre Stimme klang ruhig und klar. Doch gegen die Panik, die Tim erfasst hatte, kam sie nicht an. Tim sah wie im Nebel, dass eine Infusion aufgehängt wurde. Jemand legte seinen Zeigefinger in ein Pulsoxymeter. Der vom Rücken ausgehende Schmerz war immer noch allgegenwärtig, alles übertönend. Eine Pflegekraft reichte Dr. Duval das Schmerzmittel. „Es wird gleich besser," versprach sie, als das sie Medikament über den Zugang in Tims Vene spritzte. Tim spürte den leichten Druck. Kurz darauf fühlte er sich wirklich deutlich besser und bereit, mit dem gerade eintretenden Neurochirurgen zu sprechen.
„Entschuldigung, dass es etwas gedauert hat. Ich musste mir mir kurz noch die Bilder ansehen. Ich werde Sie gleich noch untersuchen," sagte dieser.
Tim nahm wahr, wie der Arzt an seine Beine ging. „Ich fahre hier mit einem kleinen Metallstiel an Ihren Füßen und Beinen entlang. Sie sagen mir, was Sie spüren, okay?" Tim stimmte zu und war überrascht, dass er tatsächlich fast alles an seinen Fußsohlen spürte. Auch das rechte Bein war nicht so stark beeinträchtigt, wie er im Flur liegend gedacht hatte. Aber über große Teile des linken Beins hatte er weder Kontrolle noch Gefühl.
„Gut, , das passt zu den Bildern. Das Fragment hat den Nervenstrang, der zwischen dem dritten und vierten Lendenwirbel austritt, verletzt. Wir müssen es entfernen, dann ist eine komplette Heilung möglich. Wenn es weiter wandert, könnte es sogar zu einer Querschnittlähmung kommen."
„Operieren Sie."
"„Ja, aber muss Sie darüber aufklären, dass auch die Operation eine Querschnittlähmung oder sogar Ihren Tod zur Folge haben kann. Unwahrscheinlich, aber ich muss Sie darüber aufklären."
„Verstanden. Operieren Sie."
"Der Arzt hielt ihm das Tablet hin. Tim Bradford unterschrieb die Einwilligungserklärung. „Danke. Wir lagern Sie jetzt auf das OP-Bett um. Bitte nicht bewegen, wir machen das." Diesmal ging die Umlagerung so schnell und schmerzlos, dass Tim es erst registrierte, als es schon vorbei war. Der Neurochirurg verabschiedete sich: „Dr. Duval bereitet Sie jetzt vor und erklärt Ihnen alles. Wir sehen uns später wieder. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir das hinbekommen, okay?"
Tim nickte dem Arzt leicht zu. Aber eigentlich wollte er keine Erklärungen, auch wenn es gut gemeint war. Er wollte gar nicht hier sein. Er wollte die Augen schließen und wenn er aufwachen würde, wäre alles wieder gut. Konnte nicht einfach alles wieder gut sein? Ohne Schmerzen, ohne Abhängigkeit von anderen? Wie oft hatte er es sich als Kind gewünscht, dass er nicht wieder geschlagen und gedemütigt werden würde, wenn er nach dem Einschlafen aufwachen würde? Er hatte sich unter Schmerzen, die ihm sein Vater zugefügt hatte, zusammengekrümmt in sein Bett verkrochen. Die Augen geschlossen und gehofft, dass morgen alles besser wäre. Irgendwann war dieser Tag gekommen. Jetzt lag hier, allen ausgeliefert… An seinem Oberkörper und seinen Armen arbeiteten jetzt routiniert Pflegekräfte. Eine Blutdruckmanschette, EKG Kleber, Kabel zierten ihn schon.
Dr. Duval sah ihm direkt ins Gesicht. "Mr. Bradford. Ich nehme Ihnen das Stiffneck ab - weiterhin nicht bewegen, okay?"
Tim flüsterte ein "Ja." Diese enge Plastikschale um seinen Hals wieder los zu sein, war schon eine Erleichterung. Dr. Duvals Augen leuchteten über ihm. Sie erinnerte ihn in Aussehen und Art an Rachel. "Ich gebe Ihnen gleich nochmal mehr Schmerzmittel und auch ein Beruhigungsmittel. Sie werden sich erleichtert fühlen, müde, gleichgültig werden…"
„Gleichgültig? Ich verliere vielleicht alles…was ich liebe…" flüsterte er verbittert. Dass er wirklich gleichgültig werden würde, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Er konnte sein Bein nicht bewegen, nicht fühlen. Er würde nie mehr als Cop arbeiten, nicht mehr gehen, nicht mit Kojo herum toben können. Er kannte Kameraden, denen Ähnliches widerfahren war. Er wusste, er würde auf Hilfe angewiesen sein. Wenn es zur Querschnittlähmung käme, sogar bei ganz anderen Dingen. Das Leben, wie er es kannte, gäbe es nicht mehr. Und ja: Er hatte Zweifel daran, dass Ashley dann für ihn da wäre! Große Zweifel. Dieser Gedanke löste einen neuen, weiteren Schmerz in ihm aus. Seine Augen wurden feucht und er konnte nichts dagegen tun.
"Mr. Bradford, ich verstehe gut, dass Sie Angst haben. Das ist in Ordnung." sprach Dr. Duval beruhigend zu ihm. Das war kein Patient für große Erklärungen! Sie wechselte nun von der Seite an den Kopf Ihres Patienten. "Meine Kollegin spritzt Ihnen gleich die Medikamente."
Wenn er aufwachen würde, wäre sein Leben ein anderes…Aus Tims Auge tropfte eine Träne. Die Anästhesistin sah ihn mitfühlend an und strich sie behutsam mit einer weichen Handbewegung weg. "Ich bin die ganze Zeit bei Ihnen, okay? Sie bekommen jetzt Sauerstoff über diese Maske." Vor Tims Gesicht tauchte ein großes bläuliches Etwas auf. "Sie sehen mich einfach nur an, atmen tief ein und aus, bis Sie zu müde werden, okay?" "Ja."
"Sehen Sie mich an... gut so. Gab es in letzter Zeit einen schönen Moment? Denken Sie daran. Und: Sie werden das schaffen, okay?"
"Er blinzelte zur Bestätigung. Langsam begannen die ersten Medikamente zu wirken. In seinem Kopf drehte sich alles. Die braunen Augen der Anästhesistin wurden erst zu Rachels. Nach einem Blinzeln meinte er, in Lucys Augen zu sehen. Erleichtert holte er nochmals tief Luft. Wenn Lucy bei ihm war, konnte es nur noch gut werden.. Sie küsste ihn, erst sanft, dann so temperamentvoll, wie sie ihn im Flugzeug geküsst hatte. Seine Lider wurden schwer. War es Lucy, die sagte „Alles wird gut", die seine Wange streichelte? Es wurde anstrengend, nachzudenken. Es wurde sogar anstrengend, selbst zu atmen. Er spürte den fester werdenden Griff an seinem Kinn, den weichen Gummi auf seinem Gesicht. Tim Bradford ließ alle Angst, allen Schmerz los. Lucy lächelte.
