Sie waren mit Kojo raus aus der Stadt gefahren, um einen ausgedehnten Spaziergang zu unternehmen. Lange gingen sie schweigsam Hand in Hand, nur das Knirschen der Steine unter ihren Schuhen war zu hören, doch jetzt möchte Tim Bradford wissen:"Lucy, darf ich dich etwas fragen? Du musst nicht antworten, okay?"

Sie sieht ihn neugierig aber auch irritiert an. Was sie jetzt wohl erwartet? Sie würde ihm alle Fragen beantworten, welche auch immer, darum nickt sie.

"Lucy, als du in dem Fass warst..." Alles in ihr zieht sich zusammen. Sie atmet tief ein und streckt sich. Er bedauert es sofort:"Entschuldigung...ich sollte nicht danach fragen"

"Oh nein, es ist nur...ist schon okay. Diese Geschichte gehört zu mir. Was willst du wissen?"

"Lucy," er räuspert sich. "ich würde gerne wissen, wie es war, als du... als du gestorben bist." Jetzt ist es raus. Er beobachtet sie ganz genau. Ist er zu weit gegangen? Sie sieht verwundert zu ihm hoch, fast schon amüsiert: "Das willst du wissen? Wirklich?"

"Naja...du warst schon ... auf der anderen Seite...eher selten, dass jemand zurück kommt." Er lächelt entschuldigend, verlegen.

"Ja. Und du hast mich zurück gebracht."
"Das hätte jeder andere Anwesende auch getan."

"Es zählt, dass DU es getan hast. Zurück zu deiner Frage."Sie sieht ihn intensiv an und sagt langsam: "Ich beantworte sie dir, aber im Gegenzug will ich auch eine Antwort auf eine ähnlich, ähm, heikle Frage." Er kann sich im Augenblick keine Frage vorstellen, die seine übertreffen würde. Also sagt er:"Deal."

Sie holt tief Luft. Ein Teil von ihm würde es gerne rückgängig machen, sie in diese Situation gebracht zu haben."Ich weiß, dass du das Video kennst. Und ich kenne es auch. Du weißt, wann ich das Bewusstsein verloren habe."

"Ja." Was hat ihn da nur geritten, so eine Frage zu stellen, sie beide an diesen furchtbaren Tag zu erinnern? „Es war... schon beim Zusehen grausam," gesteht er.

"Für mich war es eher wie ein Einschlafen. Ein Hinausgleiten, Träume. Erst war mir noch klar, dass ich in diesem Fass war. Ich hatte Angst. Aber die ließ nach und alles um mich herum wurde bunt, hell und freundlich. Ich war an einem Ort, den ich noch nicht kannte. Es sah aus, als wären dort normalerweise auch andere Menschen. Aber in diesem Moment schien ich allein zu sein. Es war wunderschön, ich kann es nicht mit Worten beschreiben. Es war so friedlich, ich hatte das Gefühl..." Sie stockt, geht ein paar Schritte voraus, dreht sich um, stellt sich vor ihn: "Tim, es war perfekt. Ich hatte keine Schmerzen, keinen Durst, keinen Hunger, keine Müdigkeit. Ich fror nicht, es war nicht zu heiß. Nichts von all dem, was uns an Bedürfnissen oder Empfindungen ständig unterbewusst beschäftigt. Ich war frei. Besser noch: Es war so ähnlich, als hätte ich..." Sie stockt und sieht ihn etwas zweifelnd noch genauer an. "Du willst es wirklich wissen, oder?" Ihre Wangen werden rot. Er liebt das. "Ja, bitte." Seine Augen flehen darum. Es ist so ein Blick, dem sie kaum widerstehen kann.

"Okay, das ist jetzt vielleicht seltsam... Tim, ich habe über das, was ich jetzt sage, mit niemandem sonst gesprochen. Aber ich will, dass du es nachvollziehen kannst. Also: Denk an den besten Sex, den du je hattest."

"Seine Augen werden riesig. Sie beeilt sich, fortzufahren: "Und zwar an den Sekundenbruchteil, in dem sich der Höhepunkt in Befriedigung wandelte. Kannst du mir folgen?"

Er sieht sie überrascht an. Wow, sie ist so direkt! Einen kleinen Augenblick braucht er deshalb, um seine Worte zu finden: "Ich stelle mir das vor - gut - was hat das jetzt mit deiner Erfahrung zu tun?"

"Das Gefühl war gleich. Aber andauernd. Einfach perfekt. Und ich wusste: Jetzt bin ich tot. Es war gar nicht schlimm. Es war sogar sehr... ähm... schön. Ich wäre gerne dort geblieben. Dann spürte ich, dass mir jemand..." Lucy sieht ihn bedeutungsvoll an, "mit Kraft auf den Brustkorb drückte. Es tat verdammt weh. Ich konnte mich nicht wehren. Ich war noch an diesem wunderbaren Ort. Aber die Angst und Panik waren wieder da, ich dachte, es wäre Caleb. Ich wollte lieber tot sein, als bei ihm. Ich wollte nie wieder Schmerzen fühlen. Tim," Sie sieht ihm in die Augen: "Ich wollte nicht zurück." Mit Vielem hatte er gerechnet. Aber das hat er nicht erwartet. "Oh Lucy, ich..."

Ihre Worte haben etwas in ihm zerstört. Er steht vor ihr, wie ein Häufchen Elend. "Ich hatte keine Ahnung.." Sie öffnet ihre Arme. Er neigt sich zu ihr. "Es tut mir so leid. Ich wollte dir nicht weh tun. Ich wollte...Ich wusste nicht…."Seine Augen sind bis zum Rand mit Tränen gefüllt. Mitleid erfasst sie, sie hat nicht geahnt, wie sehr ihn das berührt. "Shhhht...du hast alles richtig gemacht. Du hast das hier möglich gemacht." Lucy zieht Tim mit beiden Händen zu sich, küsst ihn zärtlich. "Du hast mir etwas ganz Besonderes geschenkt: Leben ohne Angst vor dem Sterben, dem Tod."

Er umarmt sie fest, verbirgt sein Gesicht in ihrem Nacken. Seine Schultern beben, so stark weint er. Der Gedanke, dass einer von ihnen ohne den anderen gehen könnte, bricht ihn schon jetzt.