III.
Die ausgedörrten Grasbüschel raschelten, als er durch sie hindurch schritt. Fedrige Samenkapseln lösten sich von den hohen Stängeln und blieben an seinen Reithosen hängen wie Kletten. Sie fühlten sich rauh und ein wenig klebrig unter seinen Fingern an, als er sie wieder abstreifte.
Als er weiter ging, ganz langsam jetzt, weil er dem unebenen Boden unter seinen Stiefelsohlen nicht traute, entdeckte er in dem Gebüsch ein paar Meter vor sich einen weißen Fetzen, der in der warmen Brise flatterte wie eine winzige Fahne.
Er blieb stehen, erstaunt und ein wenig verwirrt. War er doch schon einmal hier vorbei gekommen? Er hätte schwören können, dass er diesen Pfad noch nicht entlang gegangen war. War er etwa im Kreis gelaufen, ohne es zu merken? Es sah ganz so aus, denn das da drüben war doch wohl einer der Zettel aus seinem Notizbuch, die er benutzt hatte um seinen Weg zu kennzeichnen, um zu verhindern, dass er sich hier oben verlief, dass er alles doppelt und dreifach absuchte, dass er noch mehr kostbare Zeit vergeudete …
Aber als er näher trat, sah er, dass es kein Papier war. Es war nichts, was er mitgebracht und behutsam mit einem Loch in der Mitte versehen hatte, um es dann deutlich sichtbar auf einen Zweig zu stecken wie einen Wimpel. Es war ein Stück Stoff mit ausgefransten Rändern. Eine breite weiße Spitzenbordüre mit einem verschnörkelten Arabeskenmuster, wie sie zur Verzierung von Rocksäumen und Ärmelmanschetten verwendet wurde. Offensichtlich abgerissen von einem Kleid, als seine Trägerin sich hier durch die Büsche gezwängt hatte und hängengeblieben war …
Aufgeregt pflückte er den Stofffetzen herunter und steckte ihn in seine Westentasche. Vorsichtig bog er die dornigen Zweige auseinander und schlüpfte selbst durch die so entstandene Lücke.
Und schon stand er vor einer gähnenden Felsspalte, einem schmalen Schlitz, der in der steilen Bergflanke vor ihm aufklaffte wie eine offene Wunde, wie ein hungriges Maul, das nach Futter gierte … Bis zu diesem Moment versteckt durch das dichtbelaubte Geäst des Gestrüpps, vollkommen verborgen wie durch einen Tarnumhang ...
Er spähte hinein.
Schatten. Dahinter Dunkelheit. Ein kühler Lufthauch wehte ihm entgegen, modrig wie der Atem eines unterirdischen Kerkers, einer Oubliette, in denen die morschen Knochen von längst vergessenen Gefangenen verrotteten.
Irgendwo ganz in der Nähe war das Tröpfeln von Wasser hören, ein Rinnsal vielleicht, das sich seinen Weg bahnte, das seinem steinernen Verlies zu entkommen versuchte …
„Miranda?"
Seine unsichere Stimme hallte von unsichtbaren Wänden wider, ein hohles geisterhaftes Echo seiner Hoffnungen, seiner Ängste.
Plötzlich eine flüchtige Bewegung rechts von ihm ... Ein heller Schemen, nicht mehr als ein Aufflackern in seinem Augenwinkel ... Ein greller scharfer Schmerz auf seiner Stirn … Und dann Finsternis. Nichts als endlose Finsternis …
Grelles Licht, das seine tränenden Augen blendete, als er sie unendlich mühsam öffnete… Hoch über sich Alberts ebenfalls weit aufgerissene Augen, in die zerzauste dunkle Haarsträhnen von seiner haselnussbraunen Stirn hingen. Neben ihm das Gesicht von Sergeant Bumpher, verschwitzt und ziegelrot unter seinem schwarzen Bobby-Helm mit dem silbernen Abzeichen, das in der Sonne blitzte und blinkte wie ein mit einem Taschenspiegel gemorstes SOS-Signal…
Ein heftiger Ruck, als er von vier kraftvollen Händen hochgehievt und in den wackeligen Einspänner hineingezerrt wurde, der sich so unerwartet vor seinem fiebrigen Blick manifestiert hatte wie eine Fata Morgana, überwältigend für seine überstrapazierten Sinne, beinahe so märchenhaft und unglaubwürdig wie Cinderellas verzauberte Kürbiskutsche ...
Und die ganze Zeit über versuchte er verzweifelt etwas zu sagen oder wenigstens einen Laut von sich zu geben, sie um Hilfe zu bitten oder einfach nur zu schreien, aber er brachte keinen Ton heraus ...
Alles, was er jetzt noch tun konnte, war seine fest zusammen geballte Faust wieder zu öffnen, einen verkrampften Finger nach dem anderen aufwärts zu biegen, qualvoll langsam, bis er endlich den Schatz loslassen konnte, den er irgendwann (wann?!) wieder aus seiner Westentasche herausgenommen haben musste und seither umklammert hatte wie einen Rettungsanker … Dieser Fetzen, den er krampfhaft fest gehalten hatte … bis er ihn einfach fallen lassen konnte … direkt in Alberts arglos ausgestreckte Hand hinein…
Und dann nichts mehr außer dem sanften Rütteln und Schütteln, das ihn davontrug, das ihn endlich wieder nach Hause brachte, zurück in die Realität …
„Guten Morgen, Mylord", sagte eine viel zu laute und viel zu muntere Stimme direkt neben seinem Ohr.
Michael Fitzhubert schlug Lider auf, die sich anfühlten, als wären sie mit Gummi arabicum auf Augäpfeln festgeklebt worden, die mit pieksigen Sandkörnern gefüllt waren. Er blinzelte zu seinem Kammerdiener hinauf, der aus unerfindlichen Gründen strahlte wie ein gut polierter Zinnkrug, und setzte sich in seinem Bett auf, immer noch benommen von seinem beunruhigenden Traum (nur einer von vielen, die seine Nachtruhe störten!) und bereits heimgesucht von einem unangenehmen Zupfen und Pulsieren in seinen Schläfen, das sich wahrscheinlich bald in hämmernde Kopfschmerzen verwandeln würde.
„Danke, Lewis", krächzte er heiser, obwohl er sich im Moment alles andere als dankbar fühlte.
Nicht einmal das Tablett mit dem Morgentee, das jetzt mit gebührender Sorgfalt auf seinen Knien unter der mit Seidendamast bezogenen Bettdecke abgesetzt wurde, änderte das.
Er beäugte missmutig die bereits gefüllte Tasse, nippte aber immerhin daran, während Lewis zu den Fenstern hinüberging und schwungvoll die schweren, gefältelten Samtportieren aufzog, die den Tag bis jetzt ausgesperrt hatten.
„Prachtvolles Wetter, Sir!" rief er mit so viel Enthusiasmus, als wäre das seit Wochen anhaltende Naturphänomen sein ganz persönlicher Verdienst.
„Schon wieder?" brummte Michael, denn er hatte mehr denn je auf dichte Cumuluswolken und andere Anzeichen für ein erlösendes Gewitter gehofft.
Dass die Lichtpfeile, die durch sein Schlafzimmerfenster eindrangen wie feindliche Geschosse, den schon allzu empfindsamen Bereich über seinen Jochbeinen vibrieren ließen wie eine gespannte Bogensehne, machte ihn auch nicht gerade empfänglicher für die fragwürdigen Segnungen dieser ausgesprochen hartnäckigen Hochdrucklage.
„Ein Jahrhundertsommer, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Sir."
„Wenn man bedenkt, dass wir erst 1914 haben, dann haben wir wohl kaum eine ausreichende Vergleichsbasis für das ganze zwanzigste Jahrhundert", erwiderte Michael trocken.
Lewis nahm die ironische Replik seines Gebieters hin, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Er war an die Launen und Stimmungen Seiner Lordschaft gewöhnt – vor allem morgens direkt nach dem Aufwachen. Außerdem gab er nicht so schnell auf, wenn es um die Aufmunterung des besagten Lords ging, also erlaubte er sich gleich noch eine Bemerkung.
„Man könnte auch sagen, das wir heute richtiges Kaiserwetter haben, Sir."
„Lassen Sie das bloß nicht Ihre Ladyschaft hören, Lewis. Sie verabscheut diesen Hohenzollern-Hunnen jetzt schon so sehr, dass sie Ihnen dafür glatt den Kopf abreißen würde."
Der Kammerdiener rümpfte andeutungsweise die Nase – ein Ausdruck stärkerer Emotionen stand ihm nicht zu.
„Ich meinte natürlich unseren König, Mylord", sagte er steif.
Michael hatte für einen Augenblick tatsächlich vergessen, dass George V. nicht nur der gesalbte Monarch des britischen Dominions war, sondern auch noch Kaiser von Indien (eine Tatsache, die seinen geltungssüchtigen deutschen Cousin angeblich mindestens ebenso sehr in Rage versetzte wie die gesamte indische Bevölkerung, wenn man den Gerüchten Glauben schenken wollte!).
Doch das einzige, was ihn persönlich zurzeit an Seiner Majestät interessierte, war der Umstand, dass der Mann das Glück hatte, jetzt in seinem Sommersitz in Balmoral zu verweilen, wo er dank des etwas kühleren schottischen Klimas zweifellos von der Hitzewelle verschont blieb, die seinen etwas mehr südlich angesiedelten Untertanen gerade das Leben schwer machte.
Trotzdem behauptete er: „Ich weiß, Lewis. Aber meine Frau wird das garantiert missverstehen. Sie hat eine gewisse Neigung, Dinge misszuverstehen."
Der Kammerdiener nickte nur, jetzt mit einer fatalistischen Miene (natürlich auf eine äußerst dezente und zurückhaltende Weise fatalistisch!). Die Launen und Stimmungen Ihrer Ladyschaft waren nicht viel besser als die seines Herrn, aber ihr Temperament war eindeutig viel aufbrausender, weshalb Vorsicht geboten war. (Fristlose Kündigungen waren ja so lästig und dann dieses ganze Theater, bis man die Referenzen bekam, die man für eine neue Bewerbung so dringend brauchte. Lewis hatte schon genug in Tränen aufgelöste Zofen von Lady Violet in dieser bedauernswerten Lage gesehen und daher nicht den Wunsch, diese betrüblichen Erfahrungen zu teilen.)
„Soll ich Ihnen den perlgrauen Anzug herauslegen oder den taubengrauen, Sir?" fragte er betont beflissen. (Es konnte nie schaden, sich besonders willig und diensteifrig zu zeigen, um sich die Gunst seines Brötchengebers zu erhalten.)
„Ach, ich weiß nicht. Das werde ich später entscheiden. Aber Sie können mir schon mal ein Bad einlassen, Lewis."
„Wie Sie wünschen, Mylord", sagte der Kammerdiener höflich. (Er war auch daran gewöhnt, dass hier eine gewisse Neigung zur Unentschlossenheit bestand!)
Er verschwand in dem angrenzenden Raum. Gleich darauf erklang ein ausgesprochen wohltuendes Gluckern und Plätschern, das sich so besänftigend anhörte wie eine Springbrunnenfontäne.
In Michaels Kindertagen war die große Kupferbadewanne, die das Gelass nebenan beherrschte wie ein Thron einen Thronsaal, noch mit Kannen befüllt worden, die von den Hausmädchen einzeln aus der Küche heraufgebracht worden waren. Inzwischen gab es fließendes warmes Wasser in den Badezimmern und den Wirtschaftsräumen – immer noch ein Luxus, der die nicht ganz so gut situierte Gentry in der ländlichen Nachbarschaft mit ehrfürchtigem Staunen (und ein bisschen Neid!) erfüllte.
Diese Modernisierung war Michaels bisher einziger Akt der Renovierung gewesen, obwohl er gelegentlich schon mit dem Gedanken gespielt hatte, das Haus elektrifizieren zu lassen. Aber sowohl seine Frau als auch die Diener waren gegen diese Idee Sturm gelaufen, weil sie alle davon überzeugt waren, dass dieses Wunder der Technik, das sich in den Städten allmählich durchsetzte, sehr, sehr unheimlich war – vielleicht sogar so etwas wie Teufelswerk, was unweigerlich dazu führen würde, dass sie alle direkt nach seiner Installation in einem fegefeuergleichen Inferno umkommen würden!
Nach heftigen Diskussionen im Wohnzimmer und zunehmend entnervten Debatten im Küchentrakt war man schließlich zur allgemeinen Erleichterung doch bei Gaslicht verblieben, obwohl das garantiert viel eher in einem todbringenden Inferno enden würde als Elektrizität, Fegefeuer hin oder her. (Eine Feststellung, die Michael allerdings für sich behalten hatte, um den sensiblen Seelenfrieden seiner Mitbewohner nicht noch mehr in Aufruhr zu bringen.)
Doch das gleichmäßige Rauschen nebenan ließ ihn unwillkürlich wieder an seinen Traum denken. Dieses sanfte Rieseln in der Höhle … und das unbekannte Etwas danach …
Der Traum spielte sich immer auf dieselbe Weise ab. Jedesmal gab es diesen Bruch, diese Pause zwischen dem Betreten der Höhle und dem Moment, in dem er in Dr. McKenzies Einspänner abtransportiert worden war. Nie konnte Traum-Michael sehen, wie er aus der Höhle herausgekommen war und wie sein treuer Gefährte ihn aufgestöbert hatte …
Michael schob das Tablett weg, schlug die Bettdecke zurück, stand auf und tappste barfuß über den Perserteppich zu dem hohen Barock-Spiegel hinüber, der neben seinem massiven Eichenholzschrank stand wie ein Portal zwischen zwei Welten, schillernd und geheimnisvoll, wartend. Altes venezianisches Glas und ein geschnitzter Rahmen voller vergoldeter Efeuranken und Weinreben, Traubendolden und mit Kelchen bewaffneten Faunen machten ganz den Eindruck, als wollte der Spiegel Dionysos persönlich einen Blick auf seinen unsterblichen göttlichen Leib erlauben, bevor er England und irgendeine wilde nächtliche Waldland-Orgie verließ und zum Olymp zurückkehrte.
Doch der derzeitige Besitzer dieser antiken Pracht hatte keineswegs die Absicht, sich weinseligen Orgien hinzugeben und danach seine Insel zu verlassen, und der Anblick seiner hageren und ziemlich prosaischen Gestalt in einem nüchternen wadenlangen Nachthemd aus blau-weiß gestreifter Baumwolle hinterließ bei ihm eher den Eindruck, dass er weder auf dem Olymp noch an einer ähnlich mystischen Stätte willkommen sein würde.
Er beugte sich ein wenig vor und musterte mit klinisch-kühlem Interesse einen ganz bestimmten Teil seiner allzu alltäglichen Erscheinung.
Die Narbe auf seiner Stirn war im Lauf der Jahre so sehr verblasst, dass sie kaum noch zu sehen war. Da war nur noch ein dünner, leicht gezackter weißer Strich schräg über seiner rechten Augenbraue.
Sergeant Bumpher war der Meinung gewesen, dass die Platzwunde, die zu dieser Narbe geführt hatte, von einem Steinschlag herrührte. Und deswegen hatte er auch geschimpft wie ein Rohrspatz, sobald Michael wieder munter geworden und an Deck gekrochen war (Colonel Fitzhuberts Wortwahl!), weil der junge Mann so leichtsinnig gewesen war, eine der damals noch gänzlich unerforschten Höhlen zu betreten, obwohl doch wirklich jeder in der Gegend wusste, wie gefährlich das war. (Michaels diskreter Hinweis, dass er in seiner Eigenschaft als Tourist nicht unbedingt vollständig darüber informiert war, was jeder in der Gegend so alles wusste, war mit einer wegwerfenden Handbewegung und einem verächtlichen Schnaufen abgetan worden, das mehr amtliche Missbilligung verriet als eine wortreiche Strafpredigt.)
Dr. McKenzie hatte sich der Auffassung des Sergeants angeschlossen und mitgeteilt, dass diese Blessur zweifellos mitverantwortlich war, wenn es um Michaels streikendes Gedächtnis ging. Litt die kleine Miss Leopold nicht an genau demselben Trauma, demselben umnebelten Erinnerungsvermögen? Na also!
Doch Michael hatte nie so ganz an diese Theorie geglaubt (obwohl er es angesichts der überlegenen Autorität der sehr viel älteren Männer für angemessener gehalten hatte, ihr nicht zu widersprechen). Er konnte sich einfach nicht vorstellen, wie ein Kiesel oder ein etwas größerer Brocken ihn so frontal an der Stirn getroffen haben sollte. Hätte ein von oben auf ihn herabfallender Stein nicht eher direkt auf seiner Schädeldecke landen müssen, so wie es offensichtlich bei Irma der Fall gewesen war?
Er fand, dass es nicht nur dem gesunden Menschenverstand, sondern auch den Gesetzen der Physik widersprach, wenn man einfach so davon ausging, dass Gegenstände waagrecht durch die Gegend flogen, statt senkrecht.
Aber ihm war bewusst, dass sowohl der Polizei als auch den anderen maßgeblichen Respektspersonen in der Region so sehr daran gelegen war, die ganze Angelegenheit endlich zu einem halbwegs vernünftigen Abschluss zu bringen, dass sie die Grundlagen der Wissenschaft ignorierten und statt dessen eher die naheliegendste von allen inzwischen geäußerten Thesen vertraten: Nämlich dass die verschwundenen Mädchen und Miss McCraw schlicht und einfach von einem Erdrutsch verschüttet worden waren, dem nur Irma entkommen war, weil sie offenbar als einzige dazu in der Lage gewesen war sich wieder freizuschaufeln, was immerhin nicht nur die Beule auf ihrem Kopf, sondern auch ihre stark abgeschürften Hände und abgesplitterten Fingernägel zufriedenstellend erklärt hatte.
Es wäre also nicht wirklich sinnvoll (aber dafür ziemlich vorlaut und geradezu beleidigend!) gewesen, den Sachverstand der beteiligten Herren anzuzweifeln. Und deshalb hatte Michael sich lieber in Schweigen gehüllt – wie so oft …
Er betastete flüchtig das Relikt seiner Verletzung (die möglicherweise sogar an seinen gelegentlichen Migräneattacken schuld war, wie er vermutete!) und kämmte dann mit seinen Fingern ein paar kurze wellige dunkelblonde Fransen darüber, was ihn wie eine leicht verstrubbelte Version von Napoleon aussehen ließ.
Lewis, der ihn dabei erwischte, weil er gerade den Kopf durch die Tür herausstreckte, gab ein vielsagendes Räuspern von sich und griff ganz automatisch sofort nach einer Haarbürste mit einem versilberten Rücken, die auf dem Waschtisch neben ihm parat lag. Seine mild tadelnde Miene kündigte an, dass er schon plante, Michaels zerzausten Schopf nach den morgendlichen Waschungen ganz besonders gründlich durchzustriegeln. Er würde niemals zulassen, dass sein Herr sich in diesem Zustand den Augen der Welt zeigte – es war eine Frage seiner Berufsehre!
„Ihr Bad ist bereit, Mylord", verkündete er mit so viel Würde, dass Michael unwillkürlich ein schlechtes Gewissen bekam.
Er hatte oft das Gefühl, dass seine Dienstboten mehr Wert auf seinen Titel und das damit verbundene Noblesse oblige legten als er selbst. Finch und Lewis waren so vornehm, dass er sich manchmal vorkam wie ein unartiger kleiner Prinz, der von erwachsenen Herzögen und ähnlich distinguierten Edelleuten umsorgt wurde.
„Danke, Lewis", murmelte er und trollte sich in seine Wanne wie ein abgekanzelter Schuljunge zu seinen Strafarbeiten.
Ungefähr eine Dreiviertelstunde später saß er gründlich abgeschrubbt, mit Hingabe gebürstet und gekämmt, mit duftender Pomade geglättet und in einen makellos gebügelten Anzug (taubengrau!) verpackt über einer anderen Teetasse in seinem Frühstückszimmer und versuchte nervös, dem rapierscharfen Blick seiner Angetrauten auszuweichen.
Nach dem Streit am Vorabend („Also wirklich, Michael! Wieso kommst du so spät? Ich warte schon seit Stunden auf dich!" … „Nie lässt du mich ausreden! Immer musst du mich unterbrechen. So demütigend für mich … und das auch noch vor Mamas bester Freundin – meiner Patentante! Was wird Lady Anstruther jetzt von uns denken? Was wird Mama von uns denken?! Aber meine Gefühle sind dir ja vollkommen gleichgültig. Du bist so was von selbstsüchtig." … und ähnliche Anfeindungen mehr!) war die Stimmung zwischen den Eheleuten ausgesprochen frostig.
Die Fronten waren sozusagen verhärtet (oder unter dem arktischen Hauch gegenseitiger Gefühlskälte vereist) und es drohte sogar schon so eine Art Generalmobilmachung in Haddingham Hall. (Violet hatte bereits einen langen, langen – und vielleicht sogar unbefristeten – Erholungsurlaub unter der schützenden Fittiche von Mama angekündigt, die sich gegenüber ihrem Schwiegersohn sowieso schon verhielt wie ein rächender Erzengel, der kurz davor war, sein Flammenschwert zu zücken!) Der Ausbruch von Kriegshandlungen stand also unmittelbar bevor. Tatsächlich war die Ehe der Fitzhuberts zurzeit ein ziemlich exaktes Abbild der Vorgänge auf dem Kontinent …
Aus diesem Grund vermied Michael es jetzt also, den funkelnden Katzenaugen seiner Gattin zu begegnen, was gar nicht so einfach war, denn die Fenster von Violets Seele hatten zweifellos die hypnotische Kraft eines Schlangenbeschwörers, wenn sie es darauf anlegte. Deshalb vergrub sich das Objekt ihrer zornigen Zuwendung auch so bald wie nur möglich (das heißt nach dem Genuss einer Portion Porridge und eines Räucherherings) hinter dem undurchdringlichen Festungswall der neuesten Times.
Wie üblich übersprang er die Schlagzeilen („Serbiens Antwort unbefriedigend. Österreich-Ungarn erklärt diplomatische Beziehungen für abgebrochen!") und vorsichtshalber auch gleich noch den ganzen anderen politischen Kram („Asquith pocht auf Sozialreformen – trotz Flotten-Defizit!"). Stattdessen widmete er sich den wenigen noch erfreulichen Dingen des Lebens – in diesem Fall den Ergebnissen der jährlichen Cricket-Meisterschaften. Es sah ganz so aus, als würde der Pokal der County Championship dieses Mal an den Club in Surrey gehen, wie er mit einer gewissen Genugtuung feststellte.
Aber sogar das konnte ihn oder vielmehr seine gut geheuchelte Aufmerksamkeit nicht ewig fesseln und dasselbe galt auch für die neue Ausstellung in Kews Botanischen Gärten und die aktuellen Spielpläne für die Theater im Londoner West End.
Also schlug er schließlich sozusagen in einem Akt der Notwehr auch noch die Gesellschaftsspalte auf (eine Rubrik, die für gewöhnlich vor lauter Langeweile einen Gähnreiz bei ihm auslöste!) und überflog auch noch die Ankündigungen dort. („Miss Delilah Bunter und der Honourable Jason Carter-Trump geben ihre Verlobung bekannt", „Der Herbstball bei Lady Marchmain wurde verschoben auf...", „Die feierliche Ernennung von Mr. Montgomery Clifton zum Commander of the Empire fand statt am…" und ähnlich belanglose Mitteilungen mehr.)
Aber dann – gänzlich unerwartet – stieß er auf etwas, das eher einen Kälteschauer bei ihm auslöste als einen Gähnreiz.
"Wie unser Korrespondent vom Pointe du Jour berichtet, ist nach einem längeren Aufenthalt in Indien Comtesse de la Motte-Marguery wieder in Paris eingetroffen. Die Comtesse, eine weitgereiste Weltenbummlerin und ein gefeierter Arbiter elegantiarum der internationalen Gesellschaft, bewohnt seit einer Woche mit ihrem Gatten und ihrem Gefolge ihre übliche 10-Zimmer-Suite im Ritz ..."
Michaels Herzschlag setzte für ein paar Sekunden aus – er konnte es ganz deutlich fühlen.
Irma! dachte er.
Obwohl er niemals auf die Idee verfallen war, Zeitungsausschnitte über sie zu sammeln, hatte er Irma Leopold nie ganz aus den Augen verloren. Das wäre auch kaum möglich gewesen, den sie war so unübersehbar wie ein Komet, der seinen fantastischen Feuerschweif über den Nachthimmel zog und auf seinem Weg über das Firmament alle andere Sterne zumindest vorübergehend verblassen ließ.
Journalisten überall waren vernarrt in diese Prinzessin des amerikanischen Großkapitalismus und füllten die Klatschkolumnen immer wieder mit farbenprächtigen Geschichten über ihre Reisen in die exotischsten Winkel der Welt, ihre spektakulären Wohltätigkeitsaktionen, ihren extravaganten Lebensstil. (Sogar der Hanging Rock geisterte ab und zu noch mal durch die Klatschspalten – zum Beispiel nach Irmas Interview mit der Society for Psychical Research, die sich mit der Erforschung paranormaler Phänomene befasste und daher versucht hatte, das Licht der Aufklärung in das Dunkel um den Picknick-Vorfall zu tragen, eine Art mentale oder vielleicht sogar spirituelle Fackel, die allerdings bald wieder erloschen war.)
Irmas Hochzeit mit irgendeinem obskuren französischen Grafen hatte mehr Aufsehen erregt als die Geburt des Zarewitschs im Jahr darauf, was garantiert nur an ihrem eigenen Glorienschein lag, denn der einzige Glanz des unter vielen begierigen Bewerbern schließlich auserkorenen Comtes bestand in einem maroden, aber immerhin wildromantischen Gruselschloss irgendwo an der sturmumtosten Atlantikküste der Bretagne und einem Stammbaum, der bis in die Zeit der Kreuzzüge zurückreichte. (Michael kannte das Prinzip nur zu gut aus seinem eigenen Umfeld: Bankrotter Adelsspross meets reiche Erbin – ein möglichst blaublütiger Titel gegen eine möglichst umfangreiche Mitgift. Es war ein lukratives Geschäft, bei dem beide Parteien genau das bekamen, was sie wollten.)
Und nun war Irma – oder vielmehr die Comtesse de la Motte-Marguery – wieder in Paris.
Ausgerechnet jetzt, dachte Michael.
Er konnte es kaum fassen. Sein Kopf, der ihm sowieso schon zu schaffen machte, wirbelte und seine Gedanken drehten sich wie ein Brummkreisel, während er sich darüber klar zu werden versuchte, was er von diesem Zufall halten sollte.
Aber war das überhaupt ein Zufall? War es nicht vielmehr eine Fügung des Schicksals? Nach so langer Zeit eine Nachricht von Albert … und plötzlich weilte Irma die Globetrotterin, die überall und nirgendwo zu Hause war, die durch die Welt zog, ruhelos wie der Fliegende Holländer persönlich, ausgerechnet in Frankreich. Nicht gerade einen Katzensprung von Michael entfernt, aber doch immerhin in Reichweite. Wenn er es so wollte …
Er dachte an den Brief in seiner Schreibtischschublade, an die Artikel aus dem Melbourne Chronicle, an die Implikationen, die sich daraus ergaben, und ihm wurde heiß und kalt. Schweißperlen sammelten sich auf seiner Oberlippe und in seinen Achseln, dann fröstelte er wieder. Ihm war schwindelig, sein Kopf summte und schwirrte wie ein Bienenschwarm … Es war unerträglich, er konnte es nicht mehr aushalten … Er …
„Michael? Was hast du denn? Michael!"
Violets Stimme schnitt wie ein Skalpell in seine Verwirrung hinein, kalt, präzise und schonungslos.
„Was ist?" sagte er schroff.
„Die Frage ist doch eher: Was ist mit dir?" gab Violet ebenso scharf zurück.
Michael ließ die aufgeschlagene Times fallen, die wie ein abgestürzter Papierdrachen zu Boden sank, schlaff und leblos – so wie er selbst. Er sah seine Frau an, begegnete endlich ihrem anklagenden Blick …
Und plötzlich wusste er, dass er so nicht weiter machen konnte. Er konnte nicht so weiter existieren oder eher vor sich hin vegetieren, halb gefangen von der Vergangenheit mit all ihren unbeantworteten Fragen, mit ihren unzähligen Was-wäre-wenn-Möglichkeiten, halb gefesselt von der Gegenwart, die ihm die Luft abschnürte, die ihm den Atem nahm, die ihn erstickte …
Das alles musste endlich aufhören, es musste enden. Er war sich nicht ganz sicher, wie weit dieses Ende gehen würde, was genau es beinhalten würde. Aber diese Ungewissheit musste definitiv enden oder er würde verrückt werden. Ja, er würde den Verstand verlieren…
Sein Entschluss war schnell gefasst.
„Violet, ich fahre nach Paris – heute noch!" sagte er tonlos.
Sie starrte ihn an, als hätte er den Verstand bereits verloren.
„Aber … Das kannst du nicht machen, Michael! Nicht jetzt. Papa hat gesagt, dass es mit Sicherheit bald Krieg geben wird und dass er uns alle betreffen wird. Er hat mich heute morgen angerufen und er meint, es ist nur noch eine Frage von Tagen. Und wir sollen Vorbereitungen treffen, so lange wir noch können."
„Was für Vorbereitungen?" fragte er irritiert.
„Papa hat mit seinen Freunden aus der City geredet und sie scheinen wohl alle der Meinung zu sein, dass es bald eine Verknappung geben könnte. Und deshalb sollen wir die Zeit nutzen, um alle möglichen Vorräte einzulagern. Und vor allem sollen wir endlich die Wiesen unten bei Edgebrook umpflügen lassen, damit wir nächstes Jahr mehr Getreide anbauen können. Sicher ist sicher, sagt Papa."
Michael seufzte nur. Sein Schwiegervater lag ihm schon seit Jahren damit in den Ohren, dass er jeden Quadratmeter, den er nicht unbedingt als Weiden für seine Pferde brauchte, in sehr viel lukrativeren Ackerboden umwandeln sollte. (Die vereinigten Beutegeier von Pushy & Co waren dagegen der Ansicht, dass er alles so teuer wie möglich als Bauland an irgendwelche Grundstücksspekulanten verkaufen sollte. Doch er hatte sich bis jetzt erfolgreich dagegen gesträubt. Tatsächlich hätte Michael Fitzhubert sich lieber hängen, rädern und vierteilen lassen als die Zerstückelung, Rodung und Bebauung dessen zuzulassen, was er etwas theatralisch als „das Land seiner Väter" bezeichnete!)
Und jetzt schien Schwiegerpapa statt drohender Verarmung auch noch so eine Art Hungersnot zu befürchten. Michael konnte ihn praktisch vor sich sehen: Sorgenvoll gerunzelte Dackelstirn über einem kampflustig blitzenden Monokel und einem buschigen eisgrauen Walrossschnauzbart, der flatterte wie ein Segel bei Windstärke Zehn, wenn er seinem saumseligen Schwiegersohn die Leviten las, was er gerne und häufig tat. Es war zu schade, dass man sich seine Verwandtschaft nicht aussuchen konnte, nicht einmal die angeheiratete ...
„Du siehst also, du kannst jetzt nicht einfach so zu deinem Vergnügen verreisen. Du musst hier bleiben und mit dem Verwalter reden und alles organisieren. Was auch immer du da drüben auf dem Festland vorhast, es muss warten. Du musst warten, Michael."
Warten. Geduldig abwarten und zusehen, bis irgendein kosmisches Räderwerk weiter tickte und für ihn entschied, was er zu tun und zu lassen hatte. Aber genau das wollte Michael nicht mehr. Er hatte schon zu oft und zu lange abgewartet und es war nie etwas Gutes dabei herausgekommen.
„Das ist keine Vergnügungsreise. Ich habe in Paris etwas zu erledigen. Etwas sehr Wichtiges", sagte er.
„Was um alles in der Welt kann so wichtig sein?!"
Aber darauf konnte Michael nicht antworten. Und vielleicht war das auch gar nicht nötig, denn Violet war scharfsinniger als sie aussah und hatte mehr Informationsquellen im Haus als ihr naiver Gatte vermutete.
„Es ist wegen diesem Brief, nicht wahr? Du hast gestern wieder einen Brief von diesem Australier bekommen."
Und als Michael in wortlosem Staunen den Mund aufklappte …
„Ich weiß es von Jane. Robert hat es ihr gesagt und sie hat es mir gesagt."
Michael nickte nur, resigniert und ein wenig müde. (Die Buschtrommel funktionierte bestens in diesem Haushalt, wie er schon oft erfahren hatte. Finch, dieses Monument an Diskretion, hätte sich natürlich eher die Zunge abgebissen, als sich über den Posteingang der Herrschaft zu äußern. Aber Robert, der entschieden das keckste und vorlauteste Exemplar in einer ganzen Herde von redseligen Hausdienern war, hatte weniger Skrupel, wenn es um Tratsch ging – vor allem dann, wenn er sich damit vor Violets ziemlich niedlicher Kammerzofe aufspielen konnte. Es war so etwas wie sein bevorzugtes Balzritual.)
„Ja, das habe ich mir gedacht. Du bist immer so, wenn dieser Schafhirte von sich hören lässt."
„Schafzüchter!" korrigierte Michael mechanisch.
Aber Violet war mit einer soliden Batterie von Standesdünkeln gewappnet wie ein Schlachtschiff mit gusseisernen Kanonen, sobald es um das ging, was sie als die „niederen Klassen" bezeichnete. Und deshalb gab sie ihm mit einem ungeduldigen Achselzucken zu verstehen, dass ihr gerade jetzt nichts gleichgültiger sein konnte als Albert Crundalls genaue Berufsbezeichnung.
„Du bist immer so, wenn dieser Kerl dir schreibt", sagte sie.
„Was genau meinst du mit 'immer so'?" fragte Michael, obwohl er ganz genau wusste, was sie damit meinte.
„Launisch. Sprunghaft. Unzuverlässig. Unmöglich!" erwiderte sie schneidend.
Michael lauschte dem Klang ihrer Worte nach und stellte mit einem seltsamen Gefühl der Distanziertheit fest, dass sie keinerlei Widerhall in ihm erzeugten. Gerade jetzt hätte ihm nichts gleichgültiger sein können als Violets Vorwürfe. Er verspürte nicht den geringsten Wunsch, sich gegenüber seiner Frau zu erklären oder gar zu rechtfertigen. Und das sagte vielleicht mehr über das längst zerschlissene Gewebe ihrer Beziehung aus als irgendetwas sonst.
Doch seine Teilnahmslosigkeit provozierte Violet nur noch mehr.
„Ja. Genau so bist du, wenn er dir einen Brief schickt. Weil es natürlich wieder um dieses Mädchen geht. Es geht immer irgendwie um sie, oder nicht?"
Michael schwieg. In einem schwachen Moment (nur wenige Monate nach ihren Flitterwochen, als die lähmende Eintönigkeit ihres Ehealltags bereits damit begonnen hatte, seine guten Vorsätze aufzulösen wie Essig eine Perle!) hatte er sich dazu hinreißen lassen, Violet alles zu erzählen – ein Fehler, den er sofort bereut hatte und heute noch bereute. Es war nicht besonders klug, einer Frau zu beichten, dass ihr frischgebackener Ehemann sein Herz schon Jahre zuvor an eine andere verloren hatte und dass er nie wirklich über diesen Verlust hinweg gekommen war. Und Violets heftige Reaktion hatte ihm deutlich gezeigt, wie unklug so etwas war.
Und schon aus diesem Grund war es völlig sinnlos, Violets Verdacht hier und jetzt mit irgendeiner Ausrede zu zerstreuen. Außerdem hatte er keine Lust zu lügen.
„Antworte mir gefälligst!"
Und als er nicht antwortete, sondern nur kommentarlos vor sich hinstarrte, rief sie aufgebracht: „Miranda und immer wieder Miranda ... Du bist von ihr besessen, Michael! Besessen von dem Geist eines Mädchens, das du nicht einmal wirklich gekannt hast, mit dem du nie auch nur ein einziges Wort geredet hast. Das ist absurd! Das ist … krank!"
Auch darauf gab es nichts zu sagen, wie Michael fand, denn sie hatte zweifellos Recht und sie wusste es.
Violet sprang auf, ging um den Tisch herum und blieb direkt vor ihm stehen, aufrecht wie eine Lanze, den zierlichen Kopf mit ihrer Gibson-Girl-Frisur aus üppigem und nur mühsam gebändigten Herbstfeuerhaar hoch erhoben – sehr ladylike, aber zugleich so angespannt wie eine Stahlfeder, sprungbereit. Ihre Hände waren so fest ineinander gekrallt, dass ihre Fingerknöchel sich weiß unter der Haut abzeichneten, ihre grünen Augen sprühten.
Michael dachte flüchtig, dass er sie noch nie zuvor so schön gesehen hatte und so … aufgewühlt. Sie sah aus wie die edwardianische Variante einer erzürnten Artemis, es fehlten praktisch nur noch Pfeil und Bogen – und vielleicht noch eine Meute von geifernden Jagdhunden, die bereit waren, sich auf ihn zu stürzen, um die Tugend ihrer beleidigten Göttin zu bewahren, indem sie den Frevler in Stücke rissen. Violets Anblick erfüllte ihn mit einer seltsamen Wehmut, eine Regung, die ihm etwas von verpassten Chancen und Gelegenheiten ins Ohr raunte.
Als sie wieder sprach, war ihre helle Stimme hart und klar und sehr entschieden, der Schwanengesang einer Bach-Trompete mit einem Londoner Upperclass-Akzent.
„Du hast mich nie geliebt, Michael. Nicht einen Augenblick lang. Ich wusste das von Anfang an, aber ich habe dich trotzdem geheiratet. Weil ich dich geliebt habe. Und weil ich so gehofft habe, dass du irgendwann lernen wirst mich zu lieben, wenn wir erst mal eine Weile zusammen gelebt haben, wenn du mich richtig kennen gelernt hast.
Als du mir dann von Miranda erzählt hast, war mir sofort klar, dass das noch schwieriger wird als ich befürchtet habe. Aber ich habe felsenfest geglaubt, dass wir es trotzdem noch irgendwie schaffen können, wenn ich nur genug Geduld mit dir habe, wenn ich mich nur lange genug um dich bemühe.
Aber ich habe mich geirrt. Ich komme einfach nicht an dich heran. Weil du es gar nicht zulässt. Weil du mich immer auf Abstand hältst. Weil du mich behandelst wie eine Fremde … wie eine Last, wie eine Bürde. Weil du unter einer Glasglocke sitzt wie ein Wachsblumenstrauß – so hübsch anzusehen, aber unerreichbar für mich, unberührbar. Weil deine Miranda immer und ewig zwischen uns steht wie eine Wand. Weil du an ein totes Mädchen festgekettet bist wie ein Sträfling an seine Eisenkugel. Weil du lieber mit einem Gespenst in der Vergangenheit lebst als mit mir in der Gegenwart. Weil wir keine Zukunft haben."
Sie atmete einmal tief durch (es klang fast wie ein Aufschluchzen), bevor sie sehr viel leiser fortfuhr: „Denn ich weiß wirklich nicht mehr, was ich jetzt noch machen soll, was ich überhaupt noch machen kann. Vor einer echten Rivalin hatte ich nie Angst. Gegen eine Frau, die lebt, die atmet, die dich verführen und von mir weglocken will, könnte ich kämpfen. Aber gegen ein Gespenst bin ich machtlos."
Sie hielt inne …
Und Michael war trotz seiner Abgestumpftheit unwillkürlich bewegt – er wusste selbst nicht genau, ob es die Leidenschaftlichkeit ihres Ausbruchs war oder der Schmerz in ihren letzten Worten. Sie hatte noch nie so offen mit ihm gesprochen, ihre wahren Gefühle so bedingungslos vor ihm ausgebreitet. Es berührte ihn in seinem innersten Wesenskern, auf einer Ebene, die ihm nie zuvor bewusst gewesen war. Und plötzlich empfand er tiefes Bedauern und eine Welle von Zuneigung für diese Frau … seine Frau. Er hatte ihr Unrecht getan, von Anfang an. Und er hatte keine Ahnung, wie er das wieder gutmachen sollte, denn die einzige Möglichkeit dazu, die Violet wirklich akzeptieren würde, war ihm verwehrt. Oder nicht? Doch! Er musste einfach tun, was getan werden musste, um sich von dem zu befreien, was tatsächlich auf ihm lastete, was wirklich eine Bürde für ihn war.
Er stand auf und trat einen Schritt auf sie zu.
„Ich wollte dir nie weh tun, Violet", sagte er sanft. „Es tut mir Leid, wirklich unendlich Leid, dass es mit uns so weit gekommen ist. Aber es muss nicht so bleiben. Wir haben eine Zukunft, du und ich – auch wenn im Moment alles so düster aussieht. Ich muss nur noch diese eine Sache hinter mich bringen ... eine Mission … eine Forschungsexpedition … oder vielleicht eher so eine Art Jagdausflug … Und dafür muss ich eben unbedingt nach Paris gehen. Doch wenn ich zu dir zurück komme ..."
Er ließ den Satz offen, zu überwältigt von all diesen ungewohnten Gefühlsaufwallungen, zu verlegen und vielleicht auch zu vorsichtig, um ein Versprechen zu geben, das er womöglich gar nicht halten konnte.
Trotzdem wollte er nach ihr greifen, sie berühren, eine Geste der Beschwichtigung, eine Demonstration von Zuwendung, von Verbundenheit. Doch Violet wich vor ihm zurück. Und als Michael sie anstarrte, ein wenig befremdet, ein wenig verletzt von ihrer Zurückweisung in diesem zerbrechlichen Moment, da er seine Gefühle ausbreitete, öffnete sie langsam ihre Hände als würde sie etwas loslassen, etwas frei lassen, das sie schon zu lange festgehalten hatte.
„Dann geh. Geh und tu, was du offensichtlich nicht lassen kannst", sagte sie ruhig.
Aber da war eine Hoffnungslosigkeit in ihren Nixenaugen, die ihn erkennen ließ, dass er gerade eine Brücke abgebrochen hatte, die sich über einen bodenlos tiefen Abgrund spannte, dass er soeben eine Tür zugeschlagen hatte, die sich wahrscheinlich nie wieder für ihn öffnen würde.
Als ob sie diesen Eindruck noch bestätigen wollte, wandte sie sich in einem Wirbel aus meergrünem Georgette und Rüschenvolants von ihm ab und ging auf die Tür zu.
„Violet!"
„Bon voyage, Michael", sagte sie ausdruckslos, ohne sich auch nur nach ihm umzusehen.
„Ich komme zurück. Ich schwöre es dir. Bald. Sobald ich kann."
„Ich werde nicht hier sein und darauf warten."
Und mit diesem Abschiedsgruß war sie weg. Einfach so …
Doch Michael Fitzhubert beschloss, seine Niederlage einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen. Er würde sich später mit dem Fiasko dieses Morgens und seinen möglichen Folgen auseinandersetzen. Sehr viel später ...
Er bedachte die wenig verlockenden Überreste des Frühstück-Büfetts auf der Anrichte (gegrillte Tomaten, Speckstreifen und Würstchen, alle auf gleichermaßen unappetitliche Weise zusammengeschrumpelt!) mit einem grimmigen Blick und erwog die Herausforderungen und Unannehmlichkeiten des Tages, die noch vor ihm lagen, das heißt wuchtige Schrankkoffer, von Zigarrenqualm ausgeräucherte Erste-Klasse-Abteile in heißen, extrem langsamen Zügen, überfüllte Fähren und die allgemeinen Unwägbarkeiten einer Kanalüberquerung.
Und als er damit fertig war, hatte er wirklich Kopfschmerzen …
Fortsetzung folgt ...
