Blut klebte an seinen Armen. Es waren Streifen von Calebs Blut, die Nolan nicht weggewischt hatte. Zu wichtig war die Suche nach Lucy gewesen. Man hatte ihm die Schaufel gegeben. So geübt und effektiv wie er konnte niemand sonst damit umgehen. Er hatte auf diese Weise am besten helfen können, das Fass freigegraben. Mit dem größtmöglichen Entsetzen hatte John Nolan dann die Schaufel aus seinen Händen gelegt. Wie ferngesteuert hatte er Lucys Beine genommen und aus dem Fass gehoben. Wie gelähmt hatte zugesehen, wie Officer Bradford versucht hatte, sie wiederzubeleben. Verzweifelt hatte dieser gekämpft, so wie er selbst um das Leben von Zoe Andersson gekämpft hatte. Diesmal hatte er, John Nolan, nur hilflos hatte zusehen können. Aber Bradford hatte gesiegt! Er hatte geschafft, was John bei Chief Andersson verwehrt geblieben war. Bradford hatte Lucy aus dem Fängen des Todes gerissen. In John Nolans Kopf hämmerte die Frage: Warum Lucy? Warum ausgerechnet Lucy? Auch wenn sie nicht mehr zusammen waren, empfand er noch immer viel für sie. Sie war einer der wichtigsten Menschen in seinem Leben.
Sie ist mit Caleb ausgegangen, weil ich es gesagt habe! Ich habe sie direkt zu ihm getrieben!" Diese Gedanken hatten Tim Bradford in den letzten Stunden nicht zur Ruhe kommen lassen, hatten ihn angetrieben. Gerade hatte er sie gefunden. Sie hatte nicht mehr geatmet. Sie war vor ihm gelegen. Tot. Er hatte sie reanimiert. Automatisch immer und immer wieder auf ihren Brustkorb gedrückt, hatte gehört, wie er dabei eine Rippe vom Brustbein gelöst hatte. Er hatte Lucy zurückgeholt. Aber seine Schuld war damit längst nicht beglichen. Sie lag jetzt wimmernd in seinen Armen. In seinen Militäreinsätzen hatte er immer wieder verwundeten Kameraden beigestanden, aber das hier war anders. Noch nie zuvor hatte er etwas Vergleichbares gespürt. Weder diese Schuld, noch diese Nähe.
Harper hatte aus dem nächsten Streifenwagen zwei Wolldecken gebracht. Armstrong beugte sich zu ihr hinunter: „Lucy, Caleb ist tot." Sie reagierte nicht. Sie lag zitternd, keuchend und wimmernd in Bradfords Armen. Dieser versuchte behutsam, sie auf die weicheren Decken zu legen, die Harper vorbereitet hatte. Dabei drehte er ihren Oberkörper wieder weg von sich und entblößte so versehentlich das Unglaubliche:
„Oh mein Gott, was ist das?"
Fassungslos starrten auf das neue Tattoo auf Lucys Körper. „Day of Death…"
„ Er hat ihr Todesdatum eintätowiert!"
Grey gewann die Fassung als erster wieder zurück. Er hatte sofort nach Lucys erstem Atemzug den Rettungswagen, der ursprünglich für Caleb alarmiert worden war, umgeordert. Aber der Wagen kam den unwegsamen Weg nicht bis zu ihnen auf die Anhöhe durch. Deswegen schickte er jetzt West und Lopez den Paramedics entgegen, um diese beim Tragen der Ausrüstung zu unterstützen. Grey selbst sagte der Leitstelle Bescheid. Er wollte den besten, schnellsten und schonendsten Transport für Lucy: Sie brauchten hier einen Rettungshubschrauber.
„Lucy, willst du etwas trinken," wollte Armstrong wissen. Auch darauf keine Reaktion.
„Lassen wir das besser noch, sie würde sich wahrscheinlich übergeben," meinte Harper.
„Wir haben gehört, dass Sie Ihre Kollegin gefunden haben. Was können wir tun," fragte der erste Paramedic bei Grey an. „Ja, Officer Lucy Chen, 29, wurde von uns ohne Eigenatmung aufgefunden. Nach CPR, ähm, ansprechbar. Helikopter ist angefordert."
„Lucy, die Paramedics sind da," hatte Bradford sie währenddessen versucht, vorzubereiten. Sie wollen dir helfen. Aber dazu müssen sie dich anfassen, okay?"
Der ältere Paramedic kniete sich zu Lucy hinunter. Sein geübtes Auge sah, dass die blasse, blutverschmierte junge Frau im Schock war: „Misses Chen, ich bin Mikail. Es tut mir sehr leid, was Ihnen passiert ist. Wir nehmen Ihre Beine etwas hoch und decken Sie zu. Ich gebe Ihnen Sauerstoff."
Lucys Oberkörper und Kopf lagen noch immer auf Bradfords Knien. An seinen Händen klebten ihr Blut und der Staub vom Graben. Sie hielt die Augen geschlossen, das grelle Tageslicht schmerzte zu sehr in ihren Augen. Sie zitterte am ganzen Körper, sie fror trotz der Hitze erbärmlich. Als der eine Paramedic ihre Beine anheben und der andere ihr die Ohio—Maske aufsetzen wollte, erschrak sie zutiefst. Sie wehrte sich. Ihr Schrei fuhr allen durchs Mark. Auch die Paramedics wichen zurück. Ein Vorgehen, wie es im Lehrbuch stand, konnten sie hier vergessen! Bradford streckte die Hand nach der Maske aus.
„Alles gut, Lucy. Es ist alles gut. Wir machen das anders, okay? Ich halte sie dir vor, du musst nur atmen. Ein und aus. Nur tief und kräftig atmen, gute, frische ?" Ihr schwaches Nicken war kaum wahrnehmbar, aber er spürte es. Also hielt er ihr die Maske mit einer Hand vor Mund und Nase, während er sie mit der anderen Hand weiter stützte. „Lucy, dir wird gleich wärmer," kündigte Nolan an, bevor er und West sie mit einer raschelnden Rettungsdecke zudeckten.
„Misses Chen, haben Sie Schmerzen?" Sie nickte leicht, wimmernd.
Die Paramedics unterhielten sich kurz. Dann reichte Mikail Bradford eine Spritze mit einem konischen Aufsatz. „Würden Sie versuchen, ihr das als Nasenspray zu geben?" Bradford stutzte kurz. Das hatte er noch nie gemacht.
Nolan bemerkte das und griff rasch ein: „Oh, da kann ich unterstützen. Als Henry noch klein war…" er hielt kurz inne und kniete sich herunter „vergessen Sie es….Lucy, hier ist John." Er war erschrocken, wie viel bleicher sie aus der Nähe wirkte. Zerbrechlich. Ihr Zittern war immer noch offensichtlich. Zärtlich berührte er ihre Wange, streifte den Staub ab, gab sich Mühe, die Wunden auszulassen. Bradford nahm die Maske weg.
„Lucy, ich gebe dir ein Medikament in die Nase. Bleib ruhig, wir sind alle bei dir, okay?"
Bradford hielt Lucys Kopf von der Seite, während Nolan ihr die konisch zulaufende Spitze vorsichtig in ein Nasenloch steckte. „Lucy, Achtung, es wird kurz feucht…"
Er drückte ab. Sie schrie wieder, riss die Augen auf. Das Licht war unangenehm hell. „Shhht, Lucy. Alles gut." „Einfach weiter atmen," empfahl Bradford und hielt ihr wieder den Sauerstoff vor. „Was war das, was haben wir ihr da gegeben," wollte er von Mikail wissen.
„Ein Beruhigungsmittel. Es nimmt ihr etwas die Angst. Vor allem wird sie vergessen, was jetzt kommt."
„Was jetzt kommt?" Bradford war alarmiert. Er war bereit, sie bis ans Äußerste zu beschützen. Nochmals würde er sie nicht im Stich lassen!
Der Paramedic bemerkte die latente Aggression und sagte leise:„Sie braucht dringend Flüssigkeit und ein Schmerzmittel wäre auch gut. Der Helikopter darf sie nicht ohne Zugang transportieren. Allerdings habe ich Zweifel, dass sie es zulässt, dass wir ihr einen Zugang legen."
„Sie ist im Schock, der Körper zentralisiert. Selbst wenn sie stillhalten würde: Da ist ein Zugang in die Vene schwierig," erklärte der jüngere von beiden noch zusätzlich.
„Ja, bevor wir sie jetzt mit mehreren Versuchen hier draußen quälen: Wir würden ihr einen Zugang in den Knochen unter dem Knie legen."
Bradford schüttelte kaum merklich den Kopf. Jeder, der ihn kannte, nahm seine Ablehnung wahr. Aber ihm war klar, dass es nötig war und eine bessere Idee hatte er auch nicht.
„Sie wird nicht stillhalten. Sie ist in Panik," teilte Lopez ihre Einschätzung mit. Nolan sah besorgt auf Lucy. Auch wenn sie seit dem Nasenspray etwas ruhiger wurde: Ob sie die benötigte Hilfe der Paramedics zulassen würde, erschien auch ihm , der ebenfalls ahnte, dass die Situation sonst eskalieren könnte, bat: „Warten Sie noch kurz."
Er rief Lopez, Nolan, Harper und West zu sich. „Helft uns bitte. Sprecht mit Lucy, haltet sie mit mir, so dass sie uns spürt und ihr nichts passieren kann." Harper hatte als erste verstanden, was Tim meinte. Sie setzte sich zu Bradford auf den Boden und berührte Lucys Schulter zunächst nur ganz leicht: „Lucy, hier ist Nayla. Ich bin da. Du bist in Sicherheit. Dann hielt sie ihre Schulter fester und wiederholte „Du bist in Sicherheit." Grey, Lopez, West und Nolan folgten ihrem Vorbild. Die Rettungsdecke raschelte laut unter ihren Händen. Nolan und West waren an Lucys Beinen.
Der jüngere Paramedic schnitt Lucys Hosenbein bis übers Knie auf. Er rollte die Decke darunter auf, während Nolan das Bein mit festem Griff hielt. Es war eiskalt. Bradford beugte sich so über Lucy, dass sie nicht mehr geblendet wurde und versuchte, sie abzulenken:
"Lucy, bitte schau mich an. Die Paramedics legen dir einen Zugang. Bleib ruhig, wir sind bei dir, okay?" Sie öffnete tatsächlich die Augen und sah ihn an, aber ihr Blick wirkte nicht klar.
„Okay? Du atmest einfach nur ein und aus. Komm, wir machen das … und aus…." Bisher hatte er solche Maßnahmen eher belächelt, höchstens bei Leuten mit einer Opiat-Überdosis angewandt, bis der Rettungsdienst kam. Jetzt erschien es ihm als einzige Möglichkeit. Lucy folgte seinen Worten, sah ihn an. Bradford konnte ihren Blick kaum ertragen. Dieser Blick war so anders, so fremd! Es wirkte, als wäre etwas in ihrer Seele gebrochen. Und er war daran schuld!
Nolan flüsterte West zu: „Erst fesselt sie Caleb, jetzt fixieren wir sie… ich fühle mich so mies." West nickte. Grey blickte ihn strafend an. Er sagte betont laut: „Lucy, wir sind bei dir!" Die Paramedics desinfizierten Lucys Bein gründlich. Bradford kannte das Nio—System, das sie dabei hatten, gut aus seinen militärischen Einsätzen. Als sie Lucy das dazugehörige, sterile Pflaster mit dem Aufsatz unter das Knie klebten, forderte er deshalb Lucy nochmals auf: „Lucy, es kann gleich etwas weh tun. Schau mich weiter an, okay. Ich will, dass du mich ansiehst. Wir sind alle da, okay?" „Alles wird gut," bestätigte Harper. Sie alle wussten, dass sie jetzt gefordert waren. Tatsächlich ging es sehr schnell. Lucy schrie kurz vor Schmerz, aber nicht mehr voller Panik, auf. Schon war es vorbei. „Das hast du gut gemacht,"lobte Grey. Bradford nickte ihr freundlich zu. Erleichtert schloss sie die Augen. Es zog und drückte noch jemand an ihrem Bein, aber es war okay für sie. Jetzt trauten sich auch Nolan und West, loszulassen. „Misses Chen, Sie haben es geschafft. Wir geben Ihnen jetzt etwas gegen Schmerzen. Und Flüssigkeit." „Und nochmals etwas zur Beruhigung für den Flug," sagte der jüngere Paramedic, aber das wurde durch den herannahenden Helikopter übertönt. Armstrong zündete in einiger Entfernung ein Signalfeuer, um der Besatzung den Landeplatz anzuzeigen.
„Und dass wir sie hier festgehalten haben, daran sie wird sich wirklich nicht erinnern," wollte Nolan, der die Infusion weiterreichte, wissen. „Sehr wahrscheinlich nicht. Sie wird sich erinnern, dass Sie alle für sie da waren." Nolan war erleichtert, Grey nickte seinen Schützlingen zu. „Das Tatoo ist schon genug," stellte West leise fest. „Hoffentlich ist da nicht noch mehr," teilte Nolan ihm seine Besorgnis mit. Bradford spürte, wie Lucys Körper sich unter ihm entspannte. „Hey, Lucy, bleib bei uns!" Lopez legte ihm die Hand auf die Schulter. „Tim, das sind die Medis. Es geht ihr besser."
Das pfeifende Geräusch, der ohrenbetäubende Lärm der Turbinen. Der staubige gelbe Sand um sie herum. Wind, der ihnen diesen Staub in jede Zahnlücke pressen könnte. Lucys khakifarbene Jacke. Plötzlich war Bradford wieder mittendrin. „Medevac!Medevac!" Normalerweise war er für die Sicherung seiner Leute zuständig. Aber diesmal war er Ersthelfer, andere Kameraden sicherten sie ab. Sie alle waren angespannt. Sie wussten, dass jeder Fehler, jede Unachtsamkeit ihren Tod bedeuten konnte. Vor ihm lag ein verwundetes Mitglied seiner Einheit, kaum noch bei Bewusstsein. Das linke Bein war mit einem Tournequet abgebunden. Rechts von ihm der Übersetzer der Einheit und sein bester Freund, Roshan Kadir. Links von ihm Blech, vielleicht Fahrzeugteile. „Durchhalten," sagte er und legte seine Hand auf die Schulter des Verwundeten. Sein Körper voller Adrenalin. Kam gleich die nächste Attacke ihrer Feinde? Der Lärm des Hubschraubers übertönte alles. Die Männer spürten den Wind, versuchten, so gut wie möglich den aufwirbelnden Sand nicht ins Gesicht geblasen zu bekommen. Tim Bradford hatte sein Shemagh über das Gesicht des Verwundeten gelegt und sich schützend über ihn gebeugt, bis das laute „ Flapflapflap" der Rotorblätter langsamer wurde und schließlich verstummte. Hoffentlich keine Mine im Boden, die den Helikopter nachher in die Luft jagte! Die Türen gingen auf, zwei HEMSTC kamen mit einer Trage auf sie zu. Schnell den Verletzten in den sicheren Helikopter bringen. „Du schaffst es. Mach mir keine Schande!"
Bradford griff die Decke wie in Trance. Gemeinsam mit den anderen hob er Lucy damit auf die Trage. Die medizinische Hubschrauberbesatzung bekam von den Paramedics die Übergabe.
„Bradford?" brachte Grey ihn wieder in die Realität zurück. „Ja,Sir?"
„Sie schafft das. Sie haben sie gerettet. Gut gemacht."
Sie alle starrten auf den Helikopter.„Eine Kollegin darf mit," sagte der HEMSTC.
"Ich komme mit," sagte Bradford sofort.
„Nein, eine Kollegin. Eine Frau, die sie kennt, der sie vertrauen kann."
"Aber ich…"
„Lopez geht mit," entschied Grey. „Sie begleitet Lucy auch bei allen notwendigen rechtsmedizinischen Untersuchungen," fügte er mit scharfem Blick auf Bradford hinzu."Jawohl, Sir," sagte Angela.
Bradford spannte die Kiefermuskeln an. Grey hatte natürlich recht. Er hatte gar nicht daran gedacht - oder daran denken wollen - dass Caleb Lucy noch mehr angetan haben könnte, als das, was offensichtlich war. Aber natürlich, warum hätte jemand wie Caleb es nicht voll ausnutzen sollen, eine junge Frau in seiner Gewalt zu haben? Ein guter Cop dachte daran. Selbstverständlich konnte er zu diesen Untersuchungen nicht mit! Erleichtert nickte er Angela zu — sie war die beste Wahl. Ermutigend klopfte er ihr beim Einsteigen in den Helikopter auf die Schulter. Angela lächelte zurück. Sie sahen, wie Angela sich setzte und zärtlich Lucys Hand mit den blutigen Fingerkuppen ergriff.
Als der Hubschrauber so weit weg war, dass man sein eigenes Wort wieder verstand, befahl Grey: „Harper, Sie nehmen West mit zur Dienststelle. Armstrong und Nolan nehmen den nächsten Wagen. Und Sie, Bradford, steigen bei mir ein. Ich fahre! Das ist ein Befehl!"
Jackson setzte sich schweigsam neben Harper. Er kämpfte gerade mit seinen eigenen Dämonen. Dass er zusammengeschlagen worden war, hatte Narben auf seiner Seele hinterlassen, die gerade wieder aufgerissen worden waren. Als er Lucy vorhin vor sich hatte liegen sehen, verletzt und leblos, hatte er gemeint, sie wieder zu spüren: Die heftigen, brutalen Schläge und Tritte gegen den Kopf, Tritte in alle Körperstellen. Immer und immer wieder. Bis er das Bewusstsein verloren hatte. Sein sogenannter „Partner" hatte ihm nicht geholfen. Es war Lucy gewesen, die ihn gefunden hatte. An ihrer Stimme hatte er bemerkt, dass er noch am Leben und bei ihr in Sicherheit war. Sie war mehr als eine Freundin: Bei ihr war zu Hause. Hätte er ihr Martyrium verhindern können, wenn er früher Alarm geschlagen und sie früher nach ihr gesucht hätten?
Die Rückkehrer wuschen und zogen sich um. John Nolan hatte in seiner Zeit auf dem Bau eine Routine darin entwickelt, sich hartnäckige Verschmutzungen schnell und effektiv von der Haut zu rubbeln. Das klappte nicht nur mit Farbspritzern, sondern auch mit Blut. So war zwar als erster fertig, hing aber beim Blick auf das Foto von den drei Rookies, das er im Spind aufbewahrte, noch seinen Gedanken nach. Seine starke, lebensfrohe Lucy vor sich liegen zu sehen, eigentlich schon tot, hatte ihn schwer getroffen. Er spürte, dass er den Tod von Zoe Andersson noch immer nicht ganz überwunden hatte. Er schloss die Augen. Vor ihm verschwammen die Geschehnisse von heute mit den Geschehnissen am Pool. Helligkeit, Hitze und Trockenheit heute, Dunkelheit und kühle Nässe damals. Aber eine leblose Frau mit dunklen Haaren, Hände, die ihr auf den Brustkorb drückten…. Ihm wurde etwas schwindelig. Im Gegensatz zu Jackson, der ja mit Geschichten um Leben und Tod aufgewachsen war, Harper, die ihm durch ihre Einsätze komplett abgebrüht schien und dem hartschaligen, kriegserfahrenen Bradford war er wirklich noch ein Rookie, was den Umgang mit dem Tod anging. Allein es zu sehen, wie aus einem Körper alles Leben wich, war für ihn noch immer schockierend. Deshalb wartete er, bis Grey, dem er keine Angriffsfläche bieten wollte, aus dem Raum war. Dann ging er John Nolan eine Spindreihe weiter.
Tim Bradford hatte geduscht. Er zog gerade sein Shirt über, als John Nolan ihm sagte: „Bradford, danke, dass Sie Lucy gerettet haben."
Er schlüpfte noch aus dem Ärmel. „Wir alle haben…" „Nein, Sie haben sie gefunden, Sie haben CPR durchgeführt." „Das hätten Sie genauso getan. Sie haben dem Jungen aus dem Pool auch das Leben gerettet." „Ja, aber den kannte ich nicht. Bradford, Ich bin so dankbar, dass Sie das getan haben. Ich wüsste nicht, ob ich das bei einem Menschen, den ich kenne… bei Chief Andersson hat es nicht…"
„Hören Sie auf. Sie hätten es genauso getan und genauso gut gekonnt. Andersson hatte keine Chance. Lassen Sie uns gehen."
Damit stand Tim Bradford auf und ging an John vorbei. Jackson kam von hinten und legte John freundlich die Hand auf die Schulter. „Ehrlich, Mann, da hast das gesagt, was ich auch schon gedacht habe… ich bin echt dankbar, dass er das übernommen hat. Bei jemanden, den man gut kennt, ist es doch etwas anderes."
Als Tim aus der Umkleide kam, stand plötzlich Rachel vor ihm. „Danke! Ich bin so froh! Und so stolz auf dich." Sie umarmte Bradford. Der zögerte kurz, ließ sich dann aber widerstrebend darauf ein. Er hatte nicht das Gefühl, Lob zu verdienen, überhaupt nicht! Erst recht nicht von dieser wundervollen Frau! Auch war er noch nicht so weit, dass es aus seiner Sicht vorbei war. Ja, er hatte Lucy wiederbelebt. Aber niemand von ihnen wusste doch, welche weiteren Verletzungen sie hatte. Er löste sich sanft aus Rachels Umarmung. „Danke dir, dass du da bist. Wir wollten zu Lucy, kommst du mit?" Rachel nickte. Sie umschlang mit dem Arm seine Hüfte, drückte sich ein wenig an ihn. Er hätte gelogen, hätte er behauptet, es würde ihm nicht gut tun, gerade jetzt ihren Körper, ihre Wärme bei sich zu haben, ihr Parfum zu riechen. Einfach ihre Hand zu halten, auch wenn seine Hände schmerzten. Sie sprachen nicht. Rachel war einfach da und gleich war alles so viel besser, leichter erträglich.
Es dauerte noch einige Zeit, in der sie mit Harper, Nolan und West warten mussten. „Hat eigentlich jemand ihre Eltern informiert," fragte Harper. Nolan schüttelte den Kopf. „Nein. Und ich denke auch nicht, dass wir das tun sollten." Jackson West ergänzte: „Ihre Eltern waren immer dagegen, dass sie Polizistin wird. Und ich weiß nicht, wie sie das jetzt aufnehmen. Das Letzte, was sie jetzt braucht, sind Vorwürfe." John Nolan nickte bestätigend, die anderen seufzten voller Mitleid.
Lucy hatte alle Untersuchungen über sich ergehen lassen. Es war alles wie in einem Traum für sie. Angela war bei ihr, sprach ihr gut zu. Überhaupt waren alle Gesichter, die Lucy sah, freundlich. Alles war hell, jeder erklärte ihr ruhig die folgenden Schritte. So, als könnte sie etwas dagegen haben. Das erschloss sich ihr gerade nicht. Sie war doch einverstanden? Hier würde ihr niemand etwas tun, Angela war ja bei ihr. Die Ereignisse der letzten Tage verschwammen im gnädigen Nebel der Beruhigungsmittel.
Und als die letzte Untersuchung beendet war, hatte Lucy weder den Medikamenten noch ihrer Erschöpfung etwas entgegen zu setzen: Bevor sie im Zimmer angekommen war, schlief sie tief und fest.
Angela López, als einzige noch immer in Uniform, ging jetzt ins Foyer, wo sie längst von ihren Kollegen und Harper erwartet wurde. Sofort standen die anderen auf und umringten sie.
„Und, wie sieht es aus," wollte Bradford von Angela wissen.
„Ja, wie sieht es aus," wollten auch Nolan und West wissen.
„Ich weiß nicht, ob ich euch das sagen darf…"
„Ich bin ihr Ausbilder."
„Wir sind ihre besten Freunde, sie würde es von uns auch wissen wollen und wir würden ihr es auch sagen…Naja, ich zumindest," sagte Nolan. „Glaube ich jedenfalls." Auch er wollte sich nicht ausmalen, was Lucy durchgemacht haben könnte. Lopez musste trotz der ernsten Situation über Nolans Stotterei grinsen. Dann räusperte sie sich und fuhr ruhig fort: „Es sieht nicht nach einer Vergewaltigung aus. Sicher ausgeschlossen ist es aber nicht. Sie hat heftige Prellungen, auch an der Niere, äußere Schürf und Platz— und Quetschwunden. Zwei gebrochene Rippen. Und dieses Tattoo…"
Grace kam hinzu:„Er hat sie unter Drogen gesetzt. Und sie war sehr stark ausgetrocknet, daher mal schauen, wie es ihre Nieren verkraften. Und hoffentlich gibt es keine Embolie." Sie sah in betroffene Gesichter. Mitfühlend ergänzte sie deshalb: „Mit den Medikamenten schläft Lucy jetzt mindestens für die nächsten acht Stunden und das solltet ihr ebenfalls tun. Meine Schicht ist auch bald zu Ende."
„Ich werde bei ihr bleiben," sagte Bradford sofort und Rachel nickte zustimmend, gab ihm einen Kuss auf die Wange. Sie spürte, dass es ihm wichtig war, um die Ereignisse zu verarbeiten.
„Okay. Sie können sich den Ruhesessel aus Zimmer 087 holen."
Tim Bradford tat wie empfohlen. Vorsichtig trat er in Lucys Zimmer ein, zog den Sessel hinter sich her. Lucy lag in ihrem Bett. Sie sah mitgenommen aus. Ihr Gesicht war bleich, voller Schrammen und versorgter Wunden. Das medizinische Personal hier hatte es geschafft, Lucy einen normalen Zugang in den rechten Unterarm zu legen und den i.o. Zugang am Bein entfernt.
Gerne hätte er Lucy berührt, nur an der Hand. Aber es kam ihm vermessen vor. Vor wenigen Stunden hatte er sie reanimiert und es war selbstverständlich gewesen, ihren Kopf auf sich liegen zu haben. Jetzt war sie wieder sein Küken, sein Rookie. „Hey Lucy," flüsterte er. Bevor Grace auch nach Hause ging, schaute sie nochmals herein. Sie kontrollierte Lucys Werte, drehte die Infusion etwas weiter auf. Dann reichte sie Bradford eine Decke und eine Einmalzahnbürste aus dem sonst verschlossenen Schrank mit dem Klinikmaterial im Zimmer. „Wie geht es Ihnen? Angela und John haben mir erzählt, dass Sie reanimiert haben…" Tim nickte, während er hörbar ausatmete. „Gut. Sie lebt ja!"
„Warum nur, habe ich das Gefühl, dass Sie mich anlügen?" Grace verschränkte die Arme und lächelte den Polizisten räusperte sich und fragte mit Blick auf Lucy: „Hört sie mich?"
„Höchstens wie im Traum —wir müssen aber auch nicht hier sprechen."Bradford stand auf und ging mit Grace zur Tür.
„Raus mit der Sprache!"
Bradford seufzte leicht genervt und verzweifelt zugleich: „Wenn Sie wieder wach und bei sich ist, wird sie mich hassen. Sie muss mich hassen."
„Ich verstehe nicht… warum sollte sie? Sie haben ihr das Leben gerettet!"
Bradford sah zur Decke. „Das hätte wirklich jeder andere von uns ebenso tun können. Aber: Sie ist mit Caleb ausgegangen, weil ich es gesagt habe! Ich hab sie direkt zu ihm getrieben!"
„Sie kannten diesen Typen doch gar nicht, woher hätten Sie wissen sollen, dass er ihr das antut?"
„Ich habe ihn durchleuchtet und nichts gefunden. Ich bin ein Cop, ich hätte das im Gefühl haben müssen."Grace lächelte sanft. „Ich bin Ärztin. Und es ist mir auch schon passiert, dass Menschen gerade noch vor mir standen — ich dachte, es ginge ihnen gut — und im nächsten Augenblick leblos am Boden lagen."
Tim dachte gerade an den Moment, als er nach der experimentellen Impfung ebenfalls von einem Moment zum anderen kollabiert war. Damit hatte wirklich niemand gerechnet, am wenigsten er selbst. „Verstehe. Aber das ist doch etwas anderes…"Grace lächelte erneut. „Ich kann Ihnen nur den Rat geben, sich von den Schuldgefühlen zu lösen. Schauen Sie, was jetzt ist. Sie ist da, sie lebt. Das zählt. Und dass Sie für sie da sind. Die nächste Zeit wird schwer."
Bradford nickte.„Überleben ist nicht nur der Moment, in dem man nicht stirbt. Der weitaus schwierigere Teil kommt danach… aber wem sage ich das?" Grace berührte Bradford leicht am Arm. „Schauen Sie auch nach sich. Jemanden zu reanimieren ist eine Ausnahmesituation. Auch für harte Cops. Gute Nacht!"
Bradford nickte:"Gute Nacht."
Er setzte sich in den Besucherstuhl. Jetzt konnte er noch nicht schlafen, obwohl er eigentlich todmüde war. Sein Blick wanderte zum Monitor. Er hatte keine Ahnung von den Linien und Zahlen darauf. Aber er wusste, dass es gut war, wenn die Linien ihr jeweiliges Muster nicht änderten und kein Alarm kam. Er sah auf Lucy, berührte nun doch vorsichtig ihre geschundene Hand. Caleb, dieser Bastard! Hätte Harper ihn nicht erschossen, er hätte sich hundert Tode für dieses Monster gewünscht! Tränen der Wut standen in seinen Augen, als er flüsterte:„Lucy, ich habe so viel gesehen, so viel Leid. Ich habe Menschen in die Augen gesehen, Augen voller Hass, voller Wahn, bevor ich sie erschoss. Ich war in Falludjah, ich war in Afghanistan. Mein Vater hat mich in diese Hölle geprügelt. Und obwohl es die Hölle war, war es besser dort zu sein, als bei ihm. Ich dachte, ich hätte dort das Schlimmste gesehen, was Menschen tun können. Tote Kinder im Arm ihrer toten Mütter…nein, das willst du nicht wissen…. Trotzdem: Ich hatte immer Mühe, mir vorzustellen, wie sehr man einen Menschen hassen kann. Aber seit heute habe ich eine Ahnung davon. Ich hasse Caleb für das, was er dir angetan hat. Und…" er weinte jetzt „und ich hasse mich dafür, dass ich es zugelassen habe." Er hatte seine Hand auf ihre gelegt. Ihre Hand bewegte sich leicht, als er schluchzte. Schnell versuchte er, sich zu beruhigen. Lucy sollte noch nicht einmal in ihren Träumen seine Schwäche wahrnehmen! Langsam breitete sich Erschöpfung in ihm aus. Tim Bradford strich nochmals leicht über Lucys malträtierte Hand und legte sich dann in den Atemzüge später schlief er.
Der Überwachungsmonitor piepste. Bradford schreckte auf, sah intuitiv auf die Uhr. 2:34 morgens. Lucy lag in dem Bett neben ihm, ruhig, aber sehr bleich mit bläulichen Lippen. Fast so, wie sie bei der Reanimation gewesen waren. Ihre Gesichtszüge wirkten angespannt. „Lucy." Sie reagierte nicht. Auch nicht, als er sie beim nächsten Ansprechen vorsichtig an der Schulter berührte. Eine Pflegekraft kam herein, da stand er schon besorgt an ihrer Seite.
„Was ist mit ihr?"
Die Pflegekraft bestätigte erst auf dem Monitor den Alarm, bevor sie antwortete: „ Die Sauerstoffsättigung ist etwas abgefallen. Auf 90, das ist noch nicht bedrohlich, ich denke, sie atmet zu flach. Vielleicht hat sie Schmerzen durch die gebrochenen Rippen." Dann berührte sie Lucy vorsichtig an der Schulter und sprach sie an: „Miss Chen? Bitte tief atmen." Sie wartete einen Moment und wiederholte dann ihre Bitte. Tatsächlich schien Lucy darauf zu reagieren. „Ich stelle Ihren Oberkörper im Bett etwas höher und bringe Ihnen gleich noch etwas gegen die Schmerzen." Sie ging kurz hinaus. Tim Bradford stellte sich zu Lucy, berührte sie sanft an der Schulter: „Lucy? Ich bin da. Komm, wir machen das nochmals zusammen. So wie vorhin. Einatmen… und ausatmen." „Das machen Sie sehr gut. Machen Sie ruhig weiter," lobte ihn die Pflegekraft. „Jetzt noch das Schmerzmittel…" Sie blieb neben den beiden Polizisten stehen. Nach einer Minute entspannten sich Lucys Gesichtszüge wieder, die Schmerzen schienen nachzulassen. „Sehen Sie: 98%. Sie können jetzt wieder schlafen."
Bradford legte sich zwar in seinen Sessel, beobachtete aber noch mindestens eine Viertelstunde lang die Zahlen auf dem Monitor und Lucys Atmung, bevor ihm die Augen wieder zufielen.
„Guten Morgen," sagte eine ihm vertraute Stimme. Ein warmer Hauch und ein vertrauter Duft kitzelten seine Nase, bevor zarte Lippen seine Stirn küssten. Er öffnete verschlafen die Augen. Vor ihm stand Rachel. Hinter ihr Nolan und Jackson.
„Ich kann leider nicht hier bleiben, ich habe noch einen wichtigen Termin vor Gericht. Wie geht es ihr?" fragte Rachel.
„Ganz gut, denke ich. Sie schläft seit gestern."
„Das ist gut," fand Nolan. Rachel nickte, küsste Tim:"Sag ihr liebe Grüße."
„Sie wird Hunger haben, wenn sie aufwacht," fiel Tim Bradford ein. Er selbst hatte ebenfalls solchen Hunger, dass alle sein Magenknurren hören konnten.
„Gehen Sie, ich bleibe bei ihr," bot John Nolan an. „Holen Sie sich und ihr etwas zum Frühstück."
„Gute Idee," sagte Jackson, „dann hole ich die Geschenke."
John setzte sich. Vorsichtig nahm er Lucys Hand, strich mit seiner darüber. „Oh, wie schön! Deine Hand ist wieder warm," flüsterte er. „Ich kann mir nicht vorstellen, was du durchgemacht haben musst. Aber bei dem, was jetzt kommt, werde ich dir so gut helfen, wie ich kann, okay?" Er meinte, ein leichtes Lächeln auf Lucys Lippen zu sehen. Hoffentlich träumte sie etwas Gutes! Er hielt Wache an ihrer Seite, betrachtete sie ganz genau. Was war er dankbar, dass sie noch lebte! Seine Nacht war schrecklich gewesen. Er war sicher fünf Mal aufgeschreckt, weil er immer geträumt hatte, Lucy hätte es nicht geschafft. So wie Captain Andersson eben.
Eine Viertelstunde später kam Grace hinzu, lächelte John an: „Lucy hat wirklich Glück, solche Freunde zu haben." Sie überprüfte noch Lucys Werte, hing eine neue Infusion an, bevor sie sagte: „Ich denke, sie wird bald aufwachen." Das hörte auch Tim Bradford, der jetzt wieder hereinkam und mit John den Platz auf dem Besucherstuhl wechselte. „Ich nehm den mal wieder mit," sagte John Nolan und schob den Ruhesessel im Hinausgehen vor sich her. Tim Bradford nickte ihm dankbar zu. Lucy sollte nicht schlussfolgern, dass er hier geschlafen hatte.
