Hermines Blick ruhte auf Tom, der am Schreibtisch in seinem Zimmer saß und an einem Aufsatz für Alte Runen arbeitete, während sie auf seinem Bett lag und so tat, als würde sie lesen. In Momenten wie diesen wirkte er normaler als sonst. Als wäre er einfach nur ein Siebtklässler, der sich um gute Noten bemühte. In Momenten wie diesen konnte sie die Wärme und Zuneigung, die sie für ihn fühlte, zulassen, ohne sich selbst zu verurteilen. Umso mehr hasste sie es, dass sie diesen Moment zerstören musste.
„Tom."
Er hielt augenblicklich inne und drehte sich zu ihr um. „Ja, mein Herz?"
Sie veränderte bewusst ihre Position nicht. Mit ausgestreckten Beinen lag sie auf seinem Bett, seitlich auf ihren linken Unterarm gestützt, und schaute ihn ernst an. „Ich würde gerne noch einmal mit dir über Horkruxe reden."
Sie sah, wie sein ganzer Körper sich anspannte. „Warum?"
Nervös strich sie mit ihrer rechten Hand über die Decke. „Ich habe das Gefühl, dass ich das Konzept noch nicht richtig verstehe. Und ich will es verstehen, weil ich wissen will, ob und wie ich dir helfen kann."
Tom legte seine Feder zur Seite und stand auf. Kurz blieb er am Schreibtisch stehen, beide Hände in den Hosentaschen vergraben, und starrte auf den Teppichboden hinab. Noch immer konnte sie sie Spannung in seinen Schultern sehen, doch sein Gesicht blieb demonstrativ neutral.
Schließlich seufzte er und trat auf sie zu, um sich auf die Bettkante sinken zu lassen. „Möchtest du es mir ausreden? Mir einen Vortrag halten, wie moralisch verwerflich Horkruxe sind?"
Hermine spürte Ungeduld in sich aufsteigen, doch sie unterdrückte es. Das Gespräch war wichtig und sie wusste, wenn sie einen Streit mit Ton provozierte, würde sie nie ihren Punkt machen können. Entschlossen streckte sie ihre rechte Hand nach ihm aus, die er nach kurzem Zögern ergriff.
„Ich bin nicht Slughorn, Tom. Wir haben zu oft über Moral und die Ketten, die sie für uns alle darstellt, geredet. Du kennst mich besser als das. Du weißt, dass ich dir keinen Vortrag halten will."
„Was willst du dann?" Obwohl sein Daumen zärtlich über ihren Handrücken strich, lag eine Härte in seinen Augen, die Hermine einen Schauer über den Rücken jagte.
„Der Tom, der du heute bist, das ist der Tom, den ich mag." Sie leckte sich über die Lippen. Warum war es nach all der Zeit immer noch so schwierig, die richtigen Worte für ihre Gefühle zu finden? „Es gibt niemanden, der mich so verstehen kann wie du. So, wie du jetzt und hier gerade bist. Du hast eine Vision für die Zukunft, die ansteckend ist. Ich sehe dich und ich weiß, ich spüre ganz tief in mir, dass du diese Vision umsetzen kannst. Und ich weiß, dass du mich dabei an deiner Seite haben willst. Das alles ist wahr, jetzt grade."
Er hörte auf, ihre Hand zu streicheln. Sie spürte, wie sich seine Anspannung auf seinen ganzen Körper übertrug, wie der Griff um ihre Hand härter wurde. Sie ahnte, dass ihre Worte ihm Angst machten, auch wenn er vermutlich nicht selbst wusste, dass es Angst war, was er spürte.
„Ich will, dass du wächst. Dass du so, wie du jetzt bist, bleibst, aber besser. Erfahrender, gebildeter, weitsichtiger, aber im Grunde immer noch so, wie du jetzt bist. Weil ich den, der du gerade bist…" Sie brach ab, schluckte, holte tief Luft. Sie konnte es sagen. Sie musste es sagen.
„Weil ich dich genau so, wie du bist, liebe."
Sie schaute ihm in die Augen, entschlossen, aber innerlich in Aufruhr. Es steckte mehr Wahrheit in diesen Worten, als ihr lieb war, aber darum ging es hier nicht. Sie wollte etwas erreichen, sie wollte Tom erreichen.
Mit klopfendem Herzen und Rauschen in den Ohren schaute sie zu ihm auf. Jede noch so kleine Regung war wichtig. Seine Hand schien ihre noch fester zu packen. Seine Kiefer waren aufeinandergepresst, seine Augenbrauen zusammengezogen. Sein Blick lag auf ihr, nicht länger neutral, sondern voller Herausforderung. Misstrauen. Zweifel.
Sie schluckte hart. Vielleicht hatte sie ihre Hand zu früh gezeigt. Hatte sie gerade alles zerstört, was sie über so viele Monate mühsam aufgebaut hatte?
Sie wollte gerade dazu ansetzen, etwas Beschwichtigendes zu sagen, da brach sein Blick. Etwas Neues trat in seine Augen. Wärme. Sein Mund entspannte sich, verzog sich zu dem kleinsten Ansatz eines Lächelns.
Mit einem Ruck zog Tom sie zu sich hoch und in seine Arme. „Du glaubst an mich." Es war keine Frage und trotzdem klang er, als würde er sich darüber wundern. Als wäre der Satz etwas völlig Neues, Unerhörtes, etwas, das er sich niemals hätte träumen lassen.
„Ich glaube an dich", flüsterte sie, das Gesicht an seiner Schulter vergraben, ihre Arme eng um ihn geschlungen.
Minutenlang verharrten sie in der Umarmung. Hermine wagte es nicht, sich zu bewegen, und Tom schien zum ersten Mal den körperlichen Kontakt einer einfachen Umarmung wirklich zu genießen. Sie lauschte seinen tiefen Atemzügen, spürte das Klopfen seines Herzens, fühlte die Wärme seines Körpers. Der erste Schritt war getan.
Langsam löste Tom sich wieder von ihr, aber nur so weit, dass er ihr wieder in die Augen sehen konnte. „Was auch immer du über die Horkruxe sagen willst, sag es. Ich verspreche dir, ich werde dir zuhören und seine Sorgen ernstnehmen. Ich werde dich nicht verurteilen, bis ich dich zu Ende angehört habe. Mein Herz. Ich verspreche es dir."
Hermine schloss die Augen und lehnte sanft ihre Stirn an seine. „Danke", wisperte sie, überwältigt von der Offenheit, die Tom ihr gerade zeigte.
Sie atmete einmal entschlossen ein und wieder aus, dann rückte sie ein Stück von ihm ab und setzte sich im Schneidersitz vor ihn hin. Er spiegelte ihre Haltung. Zögerlich, darauf bedacht, die richtigen Worte zu finden, fing Hermine an. „Du hast mir von Nebenwirkungen erzählt. Von Ärger und Wut. Du hast mir gesagt, dass deine Emotionen unwichtig sind und dass alles nach Plan läuft, solange du deinen klaren Verstand behältst. Dass du nicht denkst, dass du deinen Verstand verlierst, wenn du mehr Horkruxe erschaffst."
Sie machte eine Pause, um ihm die Chance zu geben, etwas darauf zu sagen, doch er nickte bloß. Sie fuhr sich durch ihre Haare, dann sprach sie weiter. „Ich bin mir nicht sicher, ob das so stimmt. Ich bezweifle nicht, dass du wesentlich mehr über Horkruxe weißt als ich. Du hast welche erschaffen, ich nicht. Aber ich glaube, ich weiß mehr über Gefühle. Und ich glaube, nein, ich bin mir sehr sicher, dass wir unsere Gefühle und Gedanken, und damit unsere Handlungen und geistige Leistung, nicht voneinander trennen können. Gedanken verursachen Gefühle. Du kannst vielleicht den rein logischen Verstand, der in der Lage ist, komplexe arithmantische Probleme zu lösen, vom Rest trennen, aber das ist es nicht, was du brauchst. Nicht alles."
Wieder machte sie eine Pause, wieder schwieg er, sein Blick offen, seine Haltung abwartend. „Du willst eine neue Gesellschaftsordnung erschaffen. Dafür brauchst du andere Menschen. Zauberer und Hexen. Du musst darüber nachdenken, wie du andere zusammen oder gegeneinander arbeiten lassen willst. Du musst selbst mit anderen zusammenarbeiten und sei es nur, um Anweisungen zu geben. Du bist zu zwischenmenschlichen Interaktionen gezwungen. Und das funktioniert nicht mit reiner Logik. Reine Logik sagt dir, dass es am einfachsten ist, andere dazu zu bekommen, das zu tun, was du willst, wenn du sie manipulieren kannst. Wenn du etwas gegen sie in der Hand hast, sie dir einen Gefallen schulden oder sie Angst vor dir haben. Aber das Wie. Die Umsetzung dieser Manipulation geht über reine Logik hinaus. Dafür musst du deine Gefühle beherrschen und kontrollieren können, um immer die Oberhand zu behalten."
Sie spürte, wie sich Schweiß in ihrem Nacken bildete. Sie hoffte, dass ihre Worte ihn erreichten und dass er verstand, worauf sie hinauswollte. „Der Tom, den ich in den vergangenen Monaten kennengelernt habe, ist gut darin. Du selbst bist kontrolliert und kannst deswegen andere Menschen lesen und manipulieren. Ich will, dass du das auch in Zukunft kannst. Darum mache ich mir Gedanken über die Horkruxe."
Hermine nickte einmal, um zu verdeutlichen, dass sie damit vorerst fertig war. Tom nickte ebenfalls, doch blieb stumm. Sein Blick war nach unten gerichtet, während er unbewusst den Daumen seiner linken Hand zwischen den Fingern seiner rechten Hand knetete. Sie konnte sehen, dass er tatsächlich über ihre Worte nachdachte. Das gab ihr Hoffnung.
„Du glaubst also, wenn ich mehr Horkruxe erstelle, könnte es mit meiner unkontrollierten Wut schlimmer werden?", fragte er schließlich, ohne den Blick zu heben.
„Ja", bestätigte sie, „aber ich kann dabei nur auf deine eigenen Worte Bezug nehmen. Du hast mir gesagt, dass die Wut sich neu anfühlt. Anders. Dass du es nur auf die Horkruxe schieben kannst. Wenn das immer noch deine Ansicht ist, dann sollten wir darüber sprechen. Es ist wichtig, dass du weißt, worauf du dich einlässt. Dass du die Risiken kennst."
Wieder blieb Tom lange stumm. Dann, als hätte er eine Entscheidung getroffen, ging ein Ruck durch ihn und er setzte sich aufrechter hin, den Blick entschlossen auf sie gerichtet. „Mein Plan ist es, sechs Horkruxe zu erstellen. Damit ist meine Seele in sieben Teile gespalten. Sieben."
Er schaute sie bedeutungsvoll an und plötzlich fiel es Hermine wie Schuppen von den Augen. „Das Wenlock-Theorem! Sieben ist die magischste Zahl. Ein ganzer Bereich der Arithmantik ist nur der Zahl sieben gewidmet."
Sie hätte sich am liebsten vor den Kopf geschlagen, dass ihr das nicht früher aufgefallen war. Als Harry damals erzählt hatte, dass Tom in der echten Erinnerung von Slughorn schon die Frage gestellt hatte, ob man die Seele in sieben Teile spalten konnte, hatte sie das als kurios, aber nicht weiter relevant hingenommen. Sie hatte sich immer mal gefragt, warum er ausgerechnet diese Zahl gewählt hatte. Doch erst jetzt verstand sie es.
„Exakt." Tom nickte bedächtig. „Über Horkruxe ist so wenig niedergeschrieben, dass ich nicht herausfinden konnte, was die Grenze ist. Slughorn war auch nicht hilfreich, er war nur schockiert, dass ich über so viele Morde nachdenke. Also habe ich angefangen, arithmantische Berechnungen aufzustellen. Und am Ende kam, wenig überraschend, raus, dass sieben die höchste Zahl ist, die noch Stabilität garantiert. Sieben ist eine so magische Zahl, dass sie auch mehr Stabilität verspricht als fünf oder sechs."
„Sobald du also das vierte Horkrux erschaffen hast, solltest du so schnell wie möglich Nummer fünf und sechs erschaffen, um deine Seele zu stabilisieren", nahm Hermine den Faden auf. Sie konnte sich nicht helfen, Toms Gedankengang war ebenso faszinierend wie logisch.
„Wieder richtig", bestätigte er. „Im Moment habe ich zwei Horkruxe, also ist meine Seele in drei Teile geteilt. Drei ist ebenfalls eine stabile Zahl, also hielt ich es für sicher, schon jetzt zwei Horkruxe zu erstellen."
„Aber du spürst Nebenwirkungen. Zumindest wenn wir deine unkontrollierte Wut auf die Horkruxe schieben." Hermine tippte sich nachdenklich mit einem Finger gegen die Lippen. „Wäre sieben mehr oder weniger stabil als drei?"
Tom legte den Kopf schräg. „Gute Frage. Sieben ist auf jeden Fall stabiler als fünf und sechs, das haben meine arithmantischen Berechnungen ganz klar gezeigt. Aber ich habe die Formal noch nicht für kleinere Zahlen ausprobiert."
Kurz kämpfte Hermine mit sich, doch dann siegte ihr Lerneifer. „Kannst du mir die Berechnungen zeigen? Arithmantik ist eines meiner Lieblingsfächer, aber ich hatte bisher nie die Gelegenheit, es mal für echte Dinge auszuprobieren. Also jenseits der Übungsaufgaben aus dem Unterricht. Ich würde nur zu gerne deine Formel sehen. Und vielleicht kann ich auch überprüfen, ob deine Berechnung stimmt."
„Sie stimmt."
Mit den Augen rollend schlug sie Tom gegen ein Knie. „Natürlich, Mr Ich-bin-der-beste-in-allen-Fächern. Aber vier Augen sind besser als zwei, oder nicht?"
Seufzend schob Tom sich vom Bett. „Du wirst vermutlich keine Ruhe geben, bis ich es dir gezeigt habe. Und ich muss die Formel sowieso anpassen, um sie für drei und vier nutzen zu können, das kann ich genauso gut jetzt machen."
Begeistert sprang Hermine ebenfalls vom Bett. „Danke!"
Tom zog die Türen seines Schrankes auf und fing an, in den Tiefen davon zu wühlen. „Ich warne dich, mein Herz. Jeder Schritt, den du heute gehst, ist unumkehrbar. Es gibt kein Zurück."
Darauf konnte sie nur schnauben. „Es gibt schon lange kein Zurück mehr für mich, Tom."
Endlich zog er eine lange Rolle Pergament hervor und kehrt zu ihr am Schreibtisch zurück. Er legte ihr sanft zwei Finger unters Kinn und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen. „Ich weiß. Aber ich teile mehr mit dir, als irgendjemand jemals wissen sollte. Dass du überhaupt von Horkruxen weißt, ist schon zu viel. Aber diese Formeln mit dir zu teilen, ist noch viel mehr. Das hier ist Wissen, das du direkt gegen mich einsetzen kannst."
Toms Augen strahlten eiserne Entschlossenheit aus. Hermine wusste, dass in seinen Worten eine unausgesprochene Herausforderung lag. Wenn er auch nur den Hauch eines Verdachts bekommen würde, dass sie das, was er gleich mit ihr teilen würde, gegen ihr verwenden wollte, war es ihr Ende, egal, wie viel an dem Verdacht dran war.
Sie erwiderte seinen Blick offen und unerschrocken. „Ich will dieses Wissen nicht gegen dich einsetzen. Sondern für dich."
