2. Dezember: Alte Bekannte
„Das ist aber wirklich hübsch", sagte Lily anerkennend und musterte die kleine Kirche in einem Vorort von London, die Dudley und seine Verlobte Susanna für die Trauung ausgesucht hatten. Blumenschmuck war vor dem Eingang, die Bäume trugen alle wunderschön verfärbtes herbstliches Laub und die Sonne strahlte vom Himmel. Für den Spätherbst konnte man sich kein besseres Wetter wünschen.
Glücklicherweise waren schon genug Leute vor der Kirche versammelt, sodass ihre Ankunft nicht weiter auffiel. Lily umklammerte Ginnys Hand und hüpfte begeistert neben ihrer Mutter her. Ihre Tränen waren getrocknet und sie hatte ein strahlendes Lächeln im Gesicht. „Und sie haben auch ganz sicher meine Blütenblätter?", fragte sie zum zehnten Mal.
„Ganz sicher", erwiderte Ginny mit einer Engelsgeduld. James verdrehte genervt die Augen, verkniff sich aber eine Bemerkung, als er Harrys Blick sah und Albus ihn zur Warnung mit dem Ellbogen in die Rippen stieß. Harry verbiss sich ein Grinsen.
Kaum waren sie auf dem Vorplatz der Kirche angekommen, eilte auch schon eine der Brautjungfern zu ihnen, die ein hübsches Kleid in demselben Farbton wie Lily trug.
„Willkommen, willkommen", sagte sie herzlich. „Sie sind bestimmt Dudleys Cousin und seine Familie", fuhr sie fort und schüttelte einem perplexen Harry die Hand, genau wie einer überrumpelten Ginny, bevor sie sich zu Lily herunterbeugte. „Und du bist bestimmt unser Blumenmädchen." Lily nickte begeistert. „Wir haben schon sehnsüchtig auf dich gewartet, du kannst gleich mitkommen und dann geben wir dir deine Blütenblätter und zeigen dir, wo du langgehen musst, okay?" Lily nickte und nahm die Hand, die ihr die Brautjungfer hinhielt. Ginny folgte den beiden zur Kirche und winkte Harry zum Abschied zu.
Der schaute seiner Frau etwas hilflos hinterher. Er hatte nicht damit gerechnet, so schnell von ihr alleine gelassen zu werden und der Meute hier jetzt praktisch hilflos ausgeliefert zu sein. Auch wenn es bisher gar nicht so schlimm war. Er sah kaum bekannte Gesichter. Niemand von den Jungen, mit denen Dudley in der Schule befreundet gewesen war und die Harry genauso gerne drangsaliert hatten wie er. Stattdessen waren da viele sehr muskulöse Männer, bei denen Harry sich fragte, wie ihre Anzughemden es schafften, nicht aus den Nähten zu platzen. Das mussten wohl andere Boxer sein, die Dudley aus seiner Zeit als Profiboxer kannte.
James konnte seine Augen von einem besonders muskulösen Exemplar kaum abwenden. „Ich hab noch nie so viele Muskeln gesehen", sagte er staunend. „Ich dachte, Alfred Brewer ist beeindruckend, aber der …" Alfred Brewer war der erfolgreichste Treiber in der Britischen Quidditchliga und spielte bei den Wimbourner Wespen.
„Jetzt starr doch nicht so hin", zischte Albus James nervös zu. „Außerdem, so besonders ist das jetzt auch nicht, immerhin kennen wir Hagrid."
„Jaah, aber Hagrid ist ein Halbriese, das ist ganz was anderes", widersprach James. „Ob ich wohl auch solche Muskeln haben könnte, Dad?"
Harry zuckte mit den Schultern. Um ehrlich zu sein bezweifelte er das, weil James eine recht drahtige Statur hatte. „Vielleicht. Wenn du jeden Tag hart trainierst. Aber ich dachte, du willst später mal Jäger werden, da sind solche Muskeln eher hinderlich, wenn man sich flink durchschlängeln möchte. Aber wenn du lieber Hüter oder am besten Treiber sein möchtest …"
James schüttelte entschieden den Kopf. „Bloß nicht. Jäger ist doch mit Abstand die beste Position im ganzen Spiel. Alles andere ist sterbenslangweilig."
„Hey!", sagte Harry beleidigt. Sicher, als Sucher schwebte man über den Dingen und war längst nicht so sehr am Spielverlauf beteiligt wie bei den anderen Positionen, aber letzten Endes hatte man doch die wichtigste Aufgabe von allen und entschied, wann das Spiel zu Ende war. Aber für James wäre das absolut nicht das richtige, er verabscheute Warten und Nichtstun und musste immer in Bewegung sein.
James verdrehte die Augen. „Jaja, ein Sucher ist auch wichtig, wir wissen es, Dad."
„Dann ist ja gut", sagte Harry und verschränkte die Arme vor der Brust. Diese Diskussion führten sie mindestens einmal die Woche. Aber gleich darauf waren James und Albus wieder abgelenkt, diesmal von ein paar Kindern in etwa ihrem Alter, die sich ein paar Meter weiter einen kleinen Ball zuwarfen. James schaute Harry flehentlich an und Harry seufzte. „Na geht schon. Aber seid vorsichtig. Und wehe, ihr macht euch dreckig. Eure Mutter würde euch umbringen!" Zwar würden sie alle Schäden schnell beseitigen können, aber sie waren immerhin auf einer Muggelhochzeit und da würde so etwas auffallen.
Und so stand Harry plötzlich ganz alles da, schmählich im Stich gelassen von seiner Familie, wo er sie gerade am dringendsten brauchte.
Aber da er unter Muggeln war, wurde er kaum beachtet, was mittlerweile wirklich eine Seltenheit war. Ein paar von den Boxern erkundigten sich, woher er Dudley kannte, aber Harry hasste Small Talk und die anderen auch, deshalb wurde er sehr schnell wieder alleine gelassen. Das änderte sich erst, als plötzlich seine alte Nachbarin Mrs Figg in einem grell geblümelten Kleid und einem Hut, der dem von Nevilles Großmutter Konkurrenz machen konnte, vor ihm auftauchte und ihm ein Glas Sekt in die Hand drückte.
„Das kann ja keiner mit ansehen, wie verloren du hier rumstehst, Junge", sagte sie kopfschüttelnd. „Dudley hat zwar gesagt, dass er dich eingeladen hat, aber ich hätte ehrlich gesagt nicht gedacht, dass du wirklich auftauchst. Bist du alleine hier?"
Überrumpelt schüttelte Harry den Kopf. Er deutete zu den spielenden Kindern. „Meine Jungs sind dort drüben. Und Lily ist das Blumenmädchen, deshalb lässt sich Ginny noch mit ihr den Ablauf erklären."
Zufrieden nickte Mrs Figg. „Das ist gut, dass du deine ganze Familie mitgebracht hast, das wird Dudley freuen."
„Ach wirklich?", fragte Harry überrascht. Er hatte angenommen, dass sein Cousin keinen Gedanken mehr an ihn verschwendet hatte, seit der Krieg vorbei und er und Tante Petunia und Onkel Vernon nach der Flucht wieder zurück in ihr normales Leben gekehrt waren.
„Ja, natürlich. Er hat zwar versucht, es sich nicht anmerken zu lassen, aber ich glaube, es hat ihn schon verletzt, dass du ihn nicht zu deiner Hochzeit eingeladen hast. Oder ihm von den Geburten deiner Kinder erzählt hast."
„Ach wirklich?", fragte Harry noch perplexer. „Woher wusste er überhaupt …" Harry hatte angenommen, dass Dudley erst von Ginny und seinen Kindern erfahren hatte, als sie sich vor ein paar Monaten zufällig bei einem Bauernmarkt über den Weg gelaufen waren.
„Na von mir, Junge, was denkst du denn? Dudley kommt mich immer besuchen, wenn er bei seinen Eltern vorbeischaut und erkundigt sich, was es Neues in der Zauberwelt gibt. Die Sonderausgabe der Hexenwoche zu deiner Hochzeit hat er sogar behalten, ich musste mir ein neues Exemplar kaufen", sagte sie kopfschüttelnd. „Und Dädalus schreibt ihm glaube ich auch immer noch. Der ist richtig erleichtert, dass er jetzt wieder Eulen benutzen kann und sich nicht mehr mit der Muggelpost herumärgern muss. Auch wenn ich wirklich nicht weiß, was sein Problem war, ich hab's ihm hundert Mal erklärt und so schwer ist das nun wirklich nicht. Sogar die Briefmarken habe ich ihm gekauft. Und sowas war mal im Orden, es ist wirklich ein Wunder, dass er sich ohne Zauberei die Schuhe zubinden kann, ich sag's doch immer wieder …"
Harry schwieg, nickte zwischendurch und kippte schließlich das Glas Sekt in einem Zug herunter. Mrs Figg war zwar um einiges erträglicher, seit er wusste, dass sie eine Squib und Mitglied im Orden war, aber anstrengend war sie immer noch. Und reden konnte sie ohne Punkt und Komma. Glücklicherweise erwartete sie keine Antwort und Harry konnte in Ruhe darüber nachdenken, dass Dudley anscheinend viel mehr Interesse an Harrys Leben gehabt hatte, als er gedacht hatte.
Fast hatte er ein schlechtes Gewissen, dass er ihn nicht auf seine Hochzeit eingeladen hatte, aber woher hätte er denn wissen sollen, dass der Cousin, der ihn jahrelang gehasst, drangsaliert und gepiesakt hatte, gerne dabei gewesen wäre? Außerdem wäre er als einziger Muggel unter lauter Zauberern bei einer durch und durch magischen Hochzeit wirklich fehl am Platz gewesen. Und er hatte nie auch nur das geringste Interesse an Harrys Leben außerhalb des Ligusterwegs gezeigt. (Gut, um fair zu sein, er hatte auch nicht die besten Erfahrungen mit Zauberern gemacht. Hagrid hatte ihm ein Schwänzchen gezaubert, Fred und George hatten seine Zunge meterlang anschwellen lassen, er hatte mitansehen müssen, wie Harry seine Tante aufgeblasen hatte … Ganz zu schweigen von den Dementoren, die ihn beinahe geküsst hätten ...) Harry hatte wirklich angenommen, dass Dudley sein Bestes getan hatte, um zu vergessen, dass Harry überhaupt existierte. Er war sich ziemlich sicher, dass zumindest Onkel Vernon und Tante Petunia das getan hatten. Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass Dudley noch Kontakt mit Dädalus Diggel haben könnte, der ihm und Dudleys Eltern damals zur Flucht verholfen und sich mit ihnen zusammen versteckt hatte.
Dann wurde er aber jäh daran erinnert, warum er sich nie die Mühe gemacht hatte, seine alte Familie zu kontaktieren. Denn plötzlich entdeckten Onkel Vernon und Tante Petunia ihn. Seine Tante wurde kalkweiß, während sein Onkel puterrot anlief. Hektisch schaute Tante Petunia sich um und stöckelte dann auf zu hohen Absätzen auf ihn zu. Sie war stark geschminkt und trug ein knallpinkes Kostüm mit einem Hut, von dem riesige Federn abstanden. Onkel Vernon hinkte hinterher. Er hatte überraschend viel abgenommen, sah aber nicht sehr gut aus. Harry fragte sich, ob er wohl gesundheitliche Probleme hatte. Wundern würde es ihn nicht.
„Du!", zischte Tante Petunia aufgebracht.
„Was machst du hier, Bursche?!", fragte Onkel Vernon kopfschüttelnd. „Kann man nicht einmal in Ruhe ein Familienfest feiern, ohne dass du uns dazwischenfunkst? Hast du nicht schon genug ruiniert?"
Tante Petunia nickte. „Schlimm genug, dass wir damals nicht auf der ersten Hochzeit von unserem Diddimatz sein konnten." Sie rümpfte die Nase. „Nicht, dass diese Frau eine gute Wahl gewesen wäre, das habe ich ihm von Anfang an gesagt."
„Deshalb waren Sie wahrscheinlich auch nicht eingeladen", murmelte Mrs Figg augenverdrehend.
TBC …
