17. Dezember: Nicht sehr geschwisterlich
„Ich versteh einfach nicht, was sie an ihm findet, weißt du?", sagte Justin genervt und wischte sich etwas von dem blöden Konfetti aus den Augen. Er war noch nie bei Madam Puddifoot gewesen und wenn er gewusst hätte, wie kitschig es hier war, hätte er es sich zweimal überlegt, mit Nancy hierher zu kommen. Standen Mädchen wirklich auf so ein Zeug? Er konnte sich nicht vorstellen, dass es Molly hier gefallen hätte, dafür war sie viel zu pragmatisch. Deshalb waren Molly und Michael wahrscheinlich bisher auch nicht hier aufgetaucht. Justin hatte sich extra so gesetzt, dass er den Eingang genau im Blick hatte und bisher hatte er sie Merlin sei Dank nicht hier gesehen. Dan war mit seiner Verabredung Kiell hereingekommen, einem schüchternen Jungen der in ihrem Jahrgang in Hufflepuff war. Dan hatte Justin kurz zugenickt zu Begrüßung, sich dann aber ganz auf Kiell konzentriert.
„Ich weiß gar nicht, was du hast, Michael ist doch sehr nett", sagte Nancy und nippte an ihrem Kaffee.
Justin verdrehte die Augen. „Du hörst ihn auch nicht, wie er im Schlafsaal über Mädchen spricht." Jede Woche schwärmte er für eine andere und wenn man ihm Glauben schenkte, dann war er schon mit einigen von ihnen im Bett gewesen, was Justin aber ehrlich gesagt eher für heiße Luft hielt. Er sah vielleicht ganz passabel aus, aber das war doch wohl nicht alles, oder? Molly war doch nicht so oberflächlich. Molly wollte doch bestimmt jemanden, mit dem sie sich auch unterhalten konnte, der sich dafür interessierte, was sie zu sagen hatte und nicht nur dafür, ob sie bereit war, ihr T-Shirt auszuziehen. Molly hatte auf jeden Fall etwas viel viel Besseres verdient.
„Machen das nicht alle Jungs?", fragte Nancy verständnislos. „Ich meine, ich liebe meinen kleinen Bruder Jonathan und soweit ich das beurteilen kann, ist er zu den Mädchen immer sehr nett und höflich, aber er ist halt auch nur ein Teenager."
Justin zuckte mit den Schultern. Er würde sich dieses schöne Argument jetzt nicht von Nancy kaputt machen lassen. Sicher, er und Dan sprachen auch häufig über Sex, sie waren schließlich Teenager, aber da Dan schwul war und Justin nicht, überschnitten sich ihre Interessensgebiete da eher weniger und es blieb eher eine abstrakte Diskussion. (Manchmal hatte er früher auch mit Michael darüber gesprochen, aber nie über Molly. Molly war so viel mehr als nur irgendein Mädchen.)
„Molly schien zumindest nicht unzufrieden zu sein, als er sie nach Hogsmeade eingeladen hat", sagte Nancy schulterzuckend.
Dan hatte gesagt, dass Molly überhaupt nicht nach Hogsmeade gehen würde, aber Nancy hatte am Morgen ihren Umhang in der Großen Halle vergessen, als sie sich auf den Weg hatten machen wollen und war noch einmal zurück gegangen und hatte so gehört, dass Michael Molly eingeladen hatte, mit ihm zu gehen und sie tatsächlich ja gesagt hatte. Justin war aus allen Wolken gefallen, als Nancy ihm das beiläufig erzählt hatte, als sie unterwegs gewesen waren. Bisher hatte Justin sich zumindest einreden können, dass es nur um Nachhilfe ging, aber das hier … Hogsmeade bedeutete etwas ganz anderes. Hogsmeade war etwas Ernstes.
„Freu dich doch für Molly. Michael ist ein guter Fang, sie könnte es wirklich schlechter treffen."
„Dann geh du doch mit ihm aus", murmelte Justin missmutig und biss sich im nächsten Moment auf die Zunge, als er den Blick sah, mit dem Nancy ihn bedachte.
„Ich gehe mit dir aus!", sagte sie mit einem wütenden Unterton in der Stimme. „Aber so, wie du drauf bist, kommt er mir wirklich wie die bessere Wahl vor. Ich hätte dich wirklich nicht für so einen Neandertaler gehalten, dass du einer Freundin vorschreiben willst, mit wem sie sich treffen kann oder nicht! Deine armen Schwestern."
„Ich hab nur Brüder", murmelte Justin beschämt.
„Na Merlin sei Dank! Bleiben die armen Mädchen wenigstens von dieser Einstellung verschont. Ich sag dir, ich bin wirklich froh, dass meine Brüder beide jünger sind als ich und nicht so eine vorsintflutliche Einstellung haben wie du. Wenn ich die so reden hören würde, dann könntest du aber drauf wetten, dass ich denen was zu erzählen hätte!"
Justin schluckte. „So ist das nicht", verteidigte er sich schwach, auch wenn das bisherige Gespräch wirklich kein allzu gutes Licht auf ihn warf. „Sie hat einfach was Besseres verdient als ihn."
Nancy verdrehte die Augen. „Und lass mich raten, das Bessere bist du?", fragte sie genervt und verschränkte die Arme vor der Brust.
Justins Mund klappte auf und er starrte Nancy fassungslos an. „Das … ich … wir sind Freunde! Sie ist wie eine Schwester für mich!" In Ravenclaw war Molly das, was einer Familie am nächsten kam, da seine Brüder schließlich beide in Hufflepuff waren.
„Dann bist du aber ein beschissener Bruder", sagte Nancy kopfschüttelnd. „Es würde ein besseres Licht auf dich werfen, wenn du auf sie stehen und einfach nur eifersüchtig wärst. Scheiße für mich vielleicht, aber das würde die letzten zwanzig Minuten verständlicher machen. Und dann hab ich mich wenigstens nicht ganz in dir getäuscht."
„Was?"
„Ich weiß nicht, ob du schon viele Verabredungen gehabt hast, aber es macht nicht besonders viel Spaß, beim ersten Date die ganze Zeit von einem anderen Mädchen zu hören und wie sie was Besseres verdient hat als einen völlig akzeptablen Jungen. Nur so als Tipp für das nächste Mädchen, mit dem du ausgehen möchtest. Denn ich verabrede mich auf keinen Fall noch mal mit dir!" Sie knallte ihre Tasse auf den Tisch, stand auf und nahm ihre Handtasche und ihren Umhang. „Du zahlst. Das ist das mindeste."
Sie rauschte aus dem Café und knallte so heftig mit der Tür, dass die Gäste zusammenzuckten und Justin böse Blicke zuwarfen. Sogar Dan, der seine Aufmerksamkeit einen Moment von Kiell ablenkte.
Peinlich berührt schaute er auf seine eigene Tasse, die mittlerweile voll war mit Konfetti. Okay, das hätte besser laufen können. Eigentlich hatte er sich darauf gefreut, mit Nancy hierherzukommen und sich mit ihr von Molly und Michael ablenken zu können, aber die Verabredung von Moll hatte ihn so aus der Bahn geworfen, dass er an nichts anderes mehr hatte denken können. Er konnte es Nancy wirklich nicht übelnehmen, wenn er an ihren Gesprächsverlauf dachte. Eigentlich war es überraschend, dass sie es überhaupt solange mit ihm ausgehalten hatte.
Recht hatte sie trotzdem nicht. Molly war wirklich wie eine Schwester für ihn. Seit er sie das erste Mal gesehen hatte, wollte er sie einfach nur beschützen. Er wollte, dass sie nie traurig war und immer lächelte. Sie hatte so ein bezauberndes Lächeln, das ihm immer den Tag versüßte, wenn er es sah. Besonders in den letzten Monaten. Ein Tag ohne ihr Lächeln war ein beschissener Tag und dass er der Grund war, dass sie in der letzten Zeit nicht viel zu lächeln gehabt hatte, war wirklich furchtbar. Seine letzte Entschuldigung war richtig schiefgelaufen, aber das musste er wieder gut machen. Molly sollte nicht wegen ihm traurig sein. Er wollte der Grund für ihr strahlendes Lächeln sein. Er wollte der Grund dafür sein, dass sie glücklich war. Nicht dieser blöde Michael. Nur er.
Er schluckte. Das klang nicht sonderlich geschwisterlich. Aber was wusste Nancy schon? Sie kannte weder ihn noch Molly richtig, und nur, weil er eifersüchtig geklungen hatte, hieß das nicht, dass er es auch war. Auch wenn er bestimmt eine bessere Wahl wäre als Michael. Er kannte Molly in- und auswendig. Er kannte ihr Lieblingsessen und ihre Lieblingsserie und er verstand sich gut mit ihrer Familie. Er war sogar schon zur Weihnachtsfeier im Fuchsbau eingeladen gewesen. Und wenn er mit Molly zusammen wäre, würde er sie wenigstens zu schätzen wissen. Ihre Intelligenz und ihren trockenen Sinn für Humor. Und er wüsste, was für ein Privileg es war, sie küssen zu dürfen. Seine Hände in ihren dichten dunklen Haaren zu vergraben, die ihr immer in die Stirn fielen, wenn sie völlig konzentriert war auf ihren Aufsatz …
Er räusperte sich. Das war wirklich nicht geschwisterlich von ihm. Und es war bestimmt nicht sehr geschwisterlich, wie heiß ihm dabei wurde, wenn er sich vorstellte, Molly zu küssen. Oder dass er sich fragte, wie sie unter ihrer Schuluniform aussah. Er war aus allen Wolken gefallen, als er sie nach den Ferien beim Hogwartsexpress wiedergesehen hatte. Sie war in die Höhe geschossen und ihre Figur war nicht mehr die eines Mädchens, sondern die von einer Frau. Besonders in der neuen Hogwartsuniform, die sie in den Ferien gekauft hatte. Davon hatte Michael in den letzten Tagen schließlich ausführlich genug gesprochen.
Stöhnend vergrub er seinen Kopf in den Händen, als ihm klar wurde, dass Nancy Recht hatte. Molly war alles andere als eine Schwester für ihn. Und er war ein absoluter Idiot, der wahrscheinlich in den letzten Tagen alles zwischen ihnen kaputt gemacht hatte, weil er zu blöd war, seine eigenen Gefühle zu verstehen. Er war derjenige, der Molly nicht verdient hatte. Und jetzt war es zu spät.
TBC…
