22. Dezember: Panik
Oktober 2015
Harry schreckte auf, als sein Handy anfing, penetrant zu klingeln. Müde rieb er sich die Augen und warf einen Blick auf die Uhr. Er war wohl über dem Papierkram eingeschlafen, wenn es schon neun Uhr abends war. Er nahm Papierkram nicht oft mit nach Hause, denn er bevorzugte es, die Arbeit im Ministerium zu lassen. Besonders, weil er drei sehr neugierige Kinder hatte und vermeiden wollte, dass sie zu viele Details über die Verbrecher erfuhren, mit denen die Aurorenabteilung zu tun hatte. Besonders die siebenjährige Lily hatte eine lebhafte Fantasie und schon oft genug Albträume bekommen.
Aber im Moment hatten sie so viel zu tun, dass Harry nicht die Zeit hätte, sich um alle Akten zu kümmern, wenn er keine Überstunden machen würde. Und er wollte die Abendessen mit seiner Familie nicht opfern, also hatte er die Akten notgedrungen mit nach Hause genommen und Ginny hatte ihm ihr Büro überlassen, damit er in Ruhe alles erledigen konnte. Leider war das wohl zu viel Ruhe gewesen, denn er war prompt eingeschlafen.
Aber das penetrante Klingeln seines Handys hatte andere Pläne. Bis er es jedoch endlich gefunden hatte, hatte es schon wieder aufgehört, zu klingeln. Fing jedoch gleich wieder an. Verwundert erkannte Harry den Namen seines Cousins Dudley auf dem Display. Seit sie sich vor ein paar Jahren wieder getroffen und Dudley ihn auf seine Hochzeit eingeladen hatte, hatten sie sporadisch Kontakt. Meistens per SMS. Als Dudley und seine Frau Susanna vor drei Jahren ihre Tochter Patricia bekommen hatten, hatten er, Ginny und Lily sie sogar im Krankenhaus besucht. James und Albus hatten zu dem Zeitpunkt die Nase voll von Babys gehabt, da es in ihrer Familie wirklich genug davon gab, aber Lily liebte sie alle. Und sie mochte Dudleys Frau Susanna sehr gerne, weil die ihr ihren bis dahin größten Traum erfüllt hatte, einmal das Blumenmädchen bei einer Hochzeit zu sein.
Dudley war ein wirklich stolzer Vater gewesen. Hatte das Baby die ganze Zeit im Arm gehalten und es nur sehr widerwillig an Harry und Ginny weitergegeben. Dann hatte er ihnen ständig über die Schulter geschaut und sie andauernd ermahnt, bloß vorsichtig zu sein.
Harry hatte damals genervt die Augen verdreht. „Ich habe drei Kinder, ich weiß, wie man ein Baby richtig hält", hatte er seinen Cousin schließlich angefaucht. Also ehrlich! War er damals auch so gewesen, als James geboren worden war? Wahrscheinlich nicht, denn zu diesem Zeitpunkt hatte er schon genug Erfahrung durch Teddy und die Kinder von Bill und Percy gehabt. Aber Dudley hatte bestimmt nicht viel mit Babys zu tun und da war es nur normal, dass er besorgt war. Also hatte Harry sich gezwungen, nicht zu streng mit seinem Cousin zu sein.
Seitdem schickte Dudley ihm regelmäßig neue Bilder von Patricia und Harry manchmal auch welche von seiner Familie, wenn er sich daran erinnerte. Ein paar Mal hatte seine Familie Dudley auch besucht und sie waren alle zusammen zu einem Spielplatz in der Nähe gegangen, aber sie hatten nie so wirklich gewusst, worüber sie sprechen sollten, also hatten sie sich vorwiegend auf das Familienbilderverschicken beschränkt.
Deshalb war es schon sehr ungewöhnlich, dass Dudley ihn anrief. Sein erster Gedanke war, dass Onkel Vernon gestorben war. Um seine Gesundheit war es wirklich nicht zum Besten bestellt. Und sowas schrieb man nicht per SMS.
„Hallo?", fragte er und unterdrückte mühsam ein Gähnen.
„Harry? Gott sei Dank bist du rangegangen!", hörte er Dudleys aufgeregte Stimme. „Ich dachte schon, du hast das Handy gar nicht bei dir. Und ich muss wirklich dringend mit dir sprechen, ich wüsste nicht, an wen ich mich sonst wenden soll und-"
„Was ist denn passiert?", unterbrach Harry seinen Cousin. Dudley sprach so schnell, er hatte große Mühe, ihn überhaupt zu verstehen. „Ist alles in Ordnung mit Onkel Vernon und Tante Petunia?" Nicht, dass es ihn sehr stören würde, wenn es anders wäre, aber er fühlte sich dennoch verpflichtet, zu fragen.
„Jaja, alles wie immer. Es geht um Patricia." Harry richtete sich überrascht auf. Patricia war so ein liebes Mädchen, das hätte er bei Dudleys Genen gar nicht für möglich gehalten. Aber Susanna war auch wunderbar und das balancierte sich dann wohl aus.
„Geht es ihr gut?", fragte Harry besorgt.
„Ja, es geht ihr gut."
„Was ist denn dann?", fragte Harry jetzt leicht genervt. Für sowas wurde er aus dem Schlaf gerissen? Ganz abgesehen davon, dass er sich eigentlich um den Papierkram kümmern musste.
„Ich glaube, siehatgezaubert", sagte Dudley so leise, dass Harry ihn kaum verstehen konnte.
„Was?", fragte Harry nach.
„Sie hat gezaubert!", schrie Dudley jetzt beinahe.
Harry zuckte zusammen. Erschöpft rieb er sich die Stirn. Er war sich ziemlich sicher, dass er Migräne bekam. „Sie hat gezaubert?", wiederholte er. „Bist du dir sicher?"
„Ziemlich sicher. Susanna hat ihr zum Abendessen ein paar Erbsen gegeben und einen Moment waren sie da und im nächsten Moment waren sie einfach weg. Patty hat sie böse angestarrt und dann sind sie einfach verschwunden. Einfach so! Susanna hat sie später im Müll gefunden. Und das hat mich daran erinnert, dass du als Kind sowas doch auch gemacht hast. Deine Haare wieder langgezaubert, als Mum sie dir abgeschnitten hat und einem Lehrer die Haare blau gefärbt und solches Zeug."
„Ja, schon. Wenn man noch klein ist und die Magie nicht kontrollieren kann, dann zeigt sich das häufig so."
„Und Patty hat die Erbsen verschwinden lassen! Und ich glaube, als wir das letzte Mal bei Mum und Dad waren, hat sie Mums Haare umgefärbt. Von dunkelblond zu hellbraun. Ich war mir nicht sicher, aber wenn ich jetzt so darüber nachdenke …"
Harry verbiss sich ein Grinsen. Das war eine wirklich amüsante Vorstellung, dass Tante Petunias heißgeliebte Enkelin zaubern konnte. „Okay, ja, das klingt so, als ob sie zaubern könnte. Ist das so schlimm?"
„Machst du Witze?", sagte Dudley aufgebracht. „Meine Tochter ist eine Hexe! Das hätte ich nie für möglich gehalten."
„Echt nicht?"
„Wirklich nicht! Ich dachte, die Magie war nur bei deiner Mum. Meine konnte nicht zaubern und ich auch nicht, warum sollte mein Kind das plötzlich können? Genau wie bei Susanna. Ich weiß, ihre Mum hat gehofft, dass die Magie einfach nur sie übersprungen hat und Susanna eine Hexe wird, aber die kann so wenig zaubern wie ich. Warum sollte unser Kind das können?"
„Weil die Magie ja trotzdem in der Familie liegt. Bei euch beiden. So unfassbar ist das gar nicht. Warum sollte Patty nicht zaubern können?" Harry hatte es zwar für relativ unwahrscheinlich gehalten, weil in seiner Vorstellung das Blut von Onkel Vernon jegliche Magie abschrecken sollte, aber unmöglich war es offensichtlich nicht.
Und Ginny hatte schon daran gedacht, sobald sie gehört hatte, dass Susanna schwanger war. „Wäre doch witzig, wenn ihr Baby zaubern könnte, oder? Kannst du dir vorstellen, wie dein Onkel und deine Tante ausflippen würden?"
Harry hatte es sich nicht wirklich vorstellen können, aber er würde ja jetzt erfahren, wie sie reagieren würden. Dafür würde er sogar noch mal in den Ligusterweg fahren, um diese Gesichter zu sehen.
„Dudley, jetzt beruhige dich. Patty ist erst drei. Ihr habt noch lange Zeit, euch an den Gedanken zu gewöhnen."
„Ich weiß nicht, Harry", erwiderte Dudley und klang wirklich panisch. „Heißt das, sie muss nach Hogwarts? Das heißt, wenn sie elf ist, werden wir sie einfach hergeben müssen? Und wenn ihr was passiert?" Seine Atmung ging immer schneller.
„Tief durchatmen, okay. Ein und aus." Harry machte ihm die Atemzüge vor, so wie er es in Ginnys Geburtsvorbereitungskurs gelernt hatte. Nach ein paar Minuten hatte Dudley sich endlich wieder im Griff. „Würdest du dich besser fühlen, wenn Ginny und ich am Wochenende vorbeikommen? Oder vielleicht besser Hermine?", überlegte er. Ginny als eingefleischte Hexe war vielleicht nicht die beste Wahl.
„Hermine?", fragte Dudley verwirrt.
„Meine beste Freundin aus der Schule. Sie war die erste, die in ihrer Familie magische Kräfte hatte. Sie kann dir das vielleicht noch besser erklären als ich. Ich schau mal, ob sie Zeit hat, im Moment stehen ein paar größere Verhandlungen an." Hermine war sehr eingespannt im Ministerium und die wenige freie Zeit, die sie hatte, verbrachte sie am liebsten mit Ron und ihren Kindern, aber vielleicht würde sie eine Stunde erübrigen können.
„Das würdest du tun?", fragte Dudley hoffnungsvoll. „Ich könnte auch Katie fragen, aber Susanna versteht nicht, warum ich mir solche Sorgen mache, für sie war Magie nie …"
„Ist gut. Ich frag Hermine und dann kommen wir vorbei, okay?", versprach Harry.
/-/
„Du kommst aber früh ins Bett", sagte Ginny und schaute überrascht von ihrem Buch auf. „Ich dachte, du wirst noch mindestens eine Stunde mit deinem Papierkram beschäftigt sein."
Harry seufzte. „Ich bin eingeschlafen, dann hat Dudley angerufen und mich aufgeweckt und danach konnte ich mich nicht mehr konzentrieren. Ich geh morgen einfach früher ins Ministerium, das klappt schon." Er kümmerte sich ungern auf den letzten Drücker um diese Sachen, aber von Hogwarts war er es gewohnt, Hausaufgaben kurz auf knapp zu machen.
„Dudley hat angerufen?", fragte Ginny überrascht und legte ihr Buch zur Seite. „Was wollte er denn? Geht es allen gut? Deinem Onkel? Deiner Tante?"
„Jaja, da ist alles okay." Harry streifte seine Schuhe ab und streckte sich neben Ginny auf dem Bett aus. „Er glaubt, dass Patty angefangen hat zu zaubern."
„Ach ja?", fragte Ginny grinsend. „Klasse."
Harry lachte. Ginny hatte darauf gewartet, seit sie erfahren hatte, dass Susanna mit Katie verwandt war. Sie fand das viel amüsanter, als es eigentlich sein sollte. „Ja, Ironie des Schicksals, was? Das einzige Enkelkind von Onkel Vernon ist eine Hexe. Aber Dudley kommt damit gar nicht gut zurecht, er war richtig panisch am Telefon."
„Aber warum?", fragte Ginny verständnislos. „Magie ist doch was Tolles. Wie kann man sich nicht über dieses Geschenk freuen?"
Er zuckte mit den Schultern. „Vergiss nicht, dass Dudley nicht gerade die besten Erfahrungen mit Magie gemacht hat. Onkel Vernon hat uns durch das halbe Land geschleppt, um zu verhindern, dass ich meinen Hogwartsbrief bekomme. Hagrid hat ihm ein Schwänzchen gezaubert, das man operativ entfernen musste. Ich hab seine Tante aufgeblasen. Dann die meterlange Zunge wegen der Zwillinge, die Dementoren, die ihn fast geküsst hätten … Ein Jahr musste er sich verstecken, damit der böse Zauberer, der meine Eltern umgebracht hatte, sie nicht entführen oder auch umbringen würde … Außerdem haben Onkel Vernon und Tante Petunia immer so viel wert draufgelegt, normal zu sein, das muss doch tief in seiner Psyche verankert sein."
Ginny runzelte nachdenklich die Stirn. „Ja, das klingt nicht so toll. Aber ich dachte, er ist mittlerweile viel aufgeschlossener dem Ganzen gegenüber."
„Das schon, aber wenn das das eigene Kind betrifft, dann ist das noch was anderes, glaube ich."
„Ich kann's nicht verstehen", erwiderte Ginny schulterzuckend.
„Ja, aber du warst schon immer eine Hexe. Du kennst die Magie dein Leben lang, über viele Generationen hinweg. Für dich hält sich das alles die Waage. Das Negative und das Positive gehören einfach dazu und man muss es nehmen, wie es kommt. Wenn man von der Magie nichts weiß und dann mit elf plötzlich in diese Welt reingeworfen wird … selbst wenn man nicht berühmt ist, so wie ich, das ist was anderes." Er hätte die Magie zwar nie im Leben wieder hergeben wollen, trotz der negativen Aspekte, die sie mit sich gebracht hatte, aber am Anfang war es schon etwas gewöhnungsbedürftig gewesen.
„Du warst doch auch glücklich über die Magie."
„Natürlich. Ich konnte endlich von den Dursleys weg. Zu Leuten, die mich mochten. Und ich habe endlich den Teil von mir verstanden, der in mir war, aber von dem ich so lange nicht wirklich gewusst habe, was er zu bedeuten hatte. Ich hab das erste Mal in meinem Leben dazugehört. Das war fast wichtiger als die Magie selbst." Er würde dieses großartige Gefühl nie vergessen, endlich am richtigen Ort zu sein und sich nicht dauernd wie ein Fremdkörper zu fühlen.
Ginny strich ihm ein paar Haare aus der Stirn und fuhr mit ihrem Zeigefinger seine Narbe nach. „Du hattest wirklich eine beschissene Kindheit."
Er seufzte. „Wem sagst du das? Aber unsere Kinder nicht. Und wenn ich Dudley helfen kann, dass seine Tochter das auch nicht hat, dann mach ich das."
Sie küsste ihn auf die Narbe und lächelte ihn zärtlich an. „Ich liebe dich."
Harry kuschelte sich an sie und schloss zufrieden die Augen. „Ich dich auch." Seine Kindheit war furchtbar gewesen. Und seine Schulzeit, obwohl er sie geliebt hatte, war auch kein Zuckerschlecken gewesen. Aber jetzt war er wirklich zufrieden mit seinem Leben. Seiner Familie, seiner Arbeit … trotz des blöden Papierkrams. Aber alles musste seine Nachteile haben.
TBC…
