23. Dezember: Beruhigung
„Danke, dass du mitkommst", sagte Harry noch einmal und klingelte an Dudleys Haustür.
„Kein Ding", winkte Hermine ab. „Eigentlich ist dafür ja ein Lehrer von Hogwarts zuständig, wenn sie erstmal den Brief hat, aber ich kann verstehen, dass das bei deinem Cousin eine Sondersituation ist." Sie grinste. „Außerdem bin ich gespannt, ihn kennen zu lernen. Du hast in all den Jahren so ein lebhaftes Bild von ihm gezeichnet, ich will wirklich wissen, wie er so ist."
„Kann sein, dass ich da manchmal etwas übertrieben habe", erwiderte Harry schulterzuckend.
„Wir werden ja sehen", sagte sie und lächelte einen Moment später Dudley an, der gerade die Tür geöffnet hatte. Zwischen seinen Beinen schaute die dreijährige Patricia hindurch, die Harry fröhlich zuwinkte.
„Hallo, Onkel Harry!", rief sie. Harry ging in die Knie und umarmte sie. Patricia war so ein fröhliches kleines Mädchen, das sich immer freute, ihn zu sehen, auch wenn das nicht oft der Fall war. Etwas schüchtern schaute sie zu Hermine, die die beiden aufmerksam beobachtet hatte. „Hallo", sagte sie zögerlich.
„Das ist Hermine, eine Freundin von mir", erklärte Harry ihr. Hermine reichte ihr die Hand und Patricia schüttelte sie brav, bevor sie wieder zu ihrem Vater zurückeilte.
„Ich danke euch wirklich, dass ihr so kurzfristig kommen konntet", sagte Dudley und schüttelte Hermine mit so einem festen Griff die Hand, dass die unwillkürlich das Gesicht verzog. „Kommt rein, ich hab schon Tee gekocht und Susanna hat Kuchen gebacken, als sie gehört hat, dass ihr kommen wollt. Sie ist leider nicht da, weil ihre Privatschule irgendeine Fortbildung für die Lehrer veranstaltet. Aber sie lässt dich grüßen."
„Danke", sagte Harry und folgte mit Hermine zusammen Dudley ins Wohnzimmer, wo der Esstisch wie versprochen gedeckt war.
„Du kannst spielen gehen, wenn du willst", sagte Dudley zu seiner Tochter. Die nickte erst begeistert, hielt dann aber inne und schaute unsicher zu dem Kuchen, der auf dem Tisch stand. „Ich heb dir ein Stück auf, keine Sorge."
Patricia nickte. „Okay", sagte sie zufrieden und rannte in ihre Spielecke neben dem Sofa, wo sie sofort damit begann, vorsichtig ein paar Bauklötze aufeinander zu stapeln.
„Ein süßes Mädchen", sagte Hermine und setzte sich neben Harry an den Tisch.
„Danke", sagte Dudley stolz. „Sie kann sogar schon ein paar Worte lesen, weil sie Susanna beim Zeitunglesen immer so gelöchert hat."
„Ach ja?" Hermine lächelte. „Meine Rosie ist auch so. Schrecklich wissbegierig. Wir haben so viele Lexika, weil sie immer was Neues wissen will."
Dudley nickte. „Zum Glück hat Susanna wegen ihrer Arbeit schon viele. Wie viele Kinder haben Sie denn?"
„Zwei. Rose und Hugo. Sind so alt wie Harrys Kinder Albus und Lily. Ich bin wirklich froh, dass sie zusammen nach Hogwarts kommen werden, dann sind sie nicht ganz allein. Das kann ganz schön schwierig sein."
„Ach ja?", fragte Dudley besorgt. Er griff nach der Teekanne, aber seine Hände zitterten so sehr, dass Harry sie ihm aus der Hand nahm und ihnen einschenkte und dann jedem ein Stück Schokoladenkuchen auf den Teller legte. „Susanna denkt, dass ich übertreibe. Sie ist ganz begeistert, dass Patty auch nach Hogwarts kommen wird, weil sie als kleines Mädchen unbedingt auch dorthin wollte, so wie Katie, aber ich …"
„Ja, Magie war für Sie keine so schöne Erfahrung, oder?", sagte Hermine mitfühlend und legte Dudley eine Hand auf den Arm.
Dudley schaute sie dankbar an. „Ich weiß, ich stelle mich an, aber … ich muss ständig daran denken, was Dädalus damals erzählt hat. Dass eine Riesenschlange durchs Schloss geschlichen ist und alle muggelstämmigen Schüler versteinern wollte, dass ein Haufen Dementoren dort war, um euch vor einem Massenmörder zu schützen-"
„Also das war ein Missverständnis, Sirius hätte nie-", protestierte Harry sofort.
„Ja, vielleicht, aber trotzdem hattet ihr dort diese Dementoren, diese gemeingefährlichen Ungeheuer! Bist du nicht sogar bewusstlos geworden und vom Besen gefallen?", beharrte Dudley.
Harry schaute ihn mit großen Augen an und verfluchte Dädalus dafür, dass der Dudley anscheinend wirklich alles aus seiner Schulzeit erzählt hatte, als sie sich dieses eine Jahr vor Voldemort versteckt hatten. Hermine schien genauso überrascht, dass Dudley so gut Bescheid wusste.
„Und dann dieses Turnier mit den Drachen und deinem toten Mitschüler? Todesser, die unterrichten? Ein ganzer Krieg, der auf dem Schulgelände ausgetragen wird? Könnt ihr mir verübeln, dass ich diese Schule nicht so toll finde wie ihr oder Susanna?" Dudley schaute sie entschuldigend an.
Hermine nickte. „Ja, natürlich, das sind alles sehr verständliche Argumente, aber das war einmal. Die Schlange gibt es nicht mehr und seit Voldemort endgültig vernichtet ist und die meisten Todesser in Askaban, gab es solche Vorfälle auch nicht mehr. Harrys Patensohn ist jetzt schon seit sechs Jahren an der Schule und es ist absolut nichts passiert."
Das stimmte. Im Vergleich zu Harrys Schuljahren war Teds Zeit in Hogwarts wirklich sehr unspektakulär. Das aufregendste und überraschendste war gewesen, dass Percys Tochter Molly nach Ravenclaw gekommen war und nicht nach Gryffindor, und wenn man ein bisschen länger darüber nachdachte, dann war das eigentlich gar nicht so überraschend.
„Und wenn wir nicht wollen, dass sie dort hinkommt?", fragte Dudley.
Hermine und Harry schauten sich unsicher an. „Keine Ahnung", sagte Harry schließlich ratlos. „Ist das schon mal vorgekommen?"
Hermine zuckte mit den Schultern. „Ich glaube nicht? Ich kann mal nachfragen. Aber ich glaube nicht, dass ein Kind nicht nach Hogwarts möchte, sobald es hört, dass es eine Schule gibt, wo man zaubern lernt. Ich jedenfalls wollte auf keinen Fall irgendwo anders hin. Und ich hatte schon durchgeplant, auf welche Universität ich mal gehen werde."
„Ach ja?" Dudley starrte Hermine überrascht an. „Und dir kam das nicht merkwürdig vor, diese ganz neue Welt, von der du nichts gewusst hast?"
„Nein, ich war erleichtert, als damals Professor McGonagall zu meinen Eltern kam und uns alles erklärt hat. Ich hatte endlich eine Erklärung für all die merkwürdigen Sachen, die mir immer passiert sind. Ich hab mich nie wirklich zugehörig gefühlt in der Schule und ich war so froh, dass es eine Welt gibt, in die ich wirklich reinpasse."
„Und dann war alles gut, als du dort warst?"
Hermine lachte humorlos. „Schön wär's. Ich wollte so unbedingt endlich dazugehören, dass ich meine Eltern gezwungen habe, alle Bücher über die Zauberwelt in der Winkelgasse zu kaufen. Ich bin noch nie gerne unvorbereitet in eine Situation gekommen. Stattdessen war ich dann besserwisserisch und altklug." Sie verdrehte die Augen. „Jemand hat mich sogar als Alptraum bezeichnet."
„So ein Arschloch", sagte Dudley unwillkürlich, als ob er Harry früher nicht viel schlimmere Namen an den Kopf geworfen hatte.
„Ja, mein Mann war nicht immer sehr taktvoll, als er jünger war", erwiderte Hermine amüsiert, als sie Harrys Blick bemerkte.
Dudley wurde rot. „Oh." Er räusperte sich. „Aber es wurde besser?"
„Oh ja, nach einer Weile hab ich mich mit Harry und Ron angefreundet und später auch mit Ginny, als sie in die Schule gekommen ist."
„Und trotz allem wärst du dorthin gegangen? Auch wenn du gewusst hättest, dass dich eine Riesenschlange umbringen könnte oder ein größenwahnsinniger Zauberer die Hälfte eurer Bevölkerung auslöschen würde?"
Hermine trank nachdenklich einen Schluck aus ihrer Tasse. „Es ist meine Welt. Da gehöre ich hin. Vielleicht hätte ich das anders gesehen, wenn ich davor von allem gewusst hätte, aber als ich erstmal drin war … und Harry ohne Ron und mich völlig aufgeschmissen gewesen wäre", Harry lachte, „da hatte ich eigentlich keine Wahl. Und du musst dir wegen dieser gefährlichen Sachen wirklich keine Sorgen machen, seit Voldemorts Tod ist nichts Vergleichbares passiert. Nur das Übliche. Prügeleien, Sportverletzungen und so weiter. Ich mache mir keine Sorgen, meine Kinder dorthin zu schicken. Und wenn du deiner Tochter das verbietest … wer weiß, ob sie dir das verzeihen würde. Die Magie ist ein Teil von ihr und die will raus, egal wie. Wenn sie nicht lernt, das zu kontrollieren, kann das mit der Zeit richtig gefährlich werden."
Dudley schaute erschrocken zu seiner Tochter, die fröhlich mit ihren Bauklötzen spielte und die Erwachsenen völlig vergessen hatte. „Wirklich?", fragte er besorgt.
Hermine nickte. „Ja. Deshalb wurde Hogwarts damals doch überhaupt erst gegründet, dass die Kinder lernen, wie man richtig mit diesem Geschenk umgeht."
Dudley seufzte. „Okay, wenn ihr meint …" Frustriert aß er ein Stück von seinem Kuchen. „Es ist nur … ich soll sie in eine Welt lassen, die ich nicht kenne? Die gefährlich sein kann? Wenn sie erst elf ist? Und dann sehe ich sie nur noch ein paar Monate im Sommer? Ich dachte, ich hätte sie noch so viel länger. Sie ist doch mein kleines Mädchen!"
Harry seufzte. „Das kann ich verstehen. Teddy war noch so klein, als er nach Hogwarts gekommen ist und jetzt ist er jedes Mal ein ganz neuer Mensch, wenn er wiederkommt. Aber gefährlicher als deine Welt ist es auch nicht. Hast du nach einem Schädelbruch nicht mal im Koma gelegen?" Das hatte damals seine Karriere als Profiboxer beendet. Aber das war auch eine Ausnahmesituation und kein Alltag.
„Und Kriege und Unfälle und das alles haben wir auch in der Muggelwelt. So viel anders ist das auch nicht", fügte Hermine hinzu.
„Und deine Eltern? Wie sind die damit klargekommen? Verstehen sie die Welt?"
Hermine seufzte. „Ja, das ist etwas schwieriger, das stimmt. Ich hab versucht, es ihnen zu erklären, so gut ich konnte, aber so ganz hat das nie funktioniert." Ganz zu schweigen davon, dass Hermine ihnen damals ihre Erinnerungen genommen und sie nach Australien geschickt hatte, um sie vor Voldemort zu schützen. Nach dem Krieg hatte sie sie zwar sofort zurückgeholt und ihre Eltern waren vor allem erleichtert gewesen, dass Hermine nichts passiert war, aber es stand trotzdem immer noch zwischen ihnen.
„Aber du kennst die Welt schon sehr viel besser als ihre Eltern", wandte Harry ein. „Und du kennst ein paar Hexen und Zauberer und weißt, was alles passiert ist. Das macht das Ganze doch bestimmt sehr viel einfacher." Immerhin wurde er nicht ins kalte Wasser geworfen. „Solange du dich nicht verhältst wie deine Eltern, sollte das eigentlich kein Problem sein." Aber darüber sollte er sich eigentlich keine Sorgen machen müssen. Dudley hatte sich die letzten Jahre sehr bemüht, nicht wie seine Eltern zu werden.
„Es ist wirklich schwer zu glauben, dass Mum die Schwester einer Hexe war. Susannas Mutter und ihre Schwester sind so ganz anders", sagte Dudley nachdenklich.
„Sie war eifersüchtig, weil meine Mutter zaubern konnte und sie nicht. Sie hat damals sogar Dumbledore geschrieben und gefragt, ob sie nicht auch nach Hogwarts kam. Und als er nein gesagt hat, hat sie das an meiner Mum ausgelassen. Als Kinder haben sie sich eigentlich gut verstanden."
„Wirklich?", fragte Dudley überrascht. „Woher weißt du das? Hat Mum dir davon erzählt?"
Harry schüttelte den Kopf. „Ich hab das in den alten Erinnerungen von einem von Mums Schulfreunden gesehen. Der kannte sie schon, bevor sie in Hogwarts war." Das war wahrscheinlich nicht unbedingt die zutreffendste Bezeichnung für Snape, aber den Rest wollte Harry jetzt nicht erklären.
„Ja?" Dudley schüttelte den Kopf. „Verrückt. Wenn Mum auch hätte zaubern können, dann wäre bestimmt alles anders gekommen." Das war nun wirklich eine absurde Vorstellung. Wahrscheinlich hätte sie nie im Leben seinen spießigen Vater geheiratet, wenn sie nicht so versessen darauf gewesen wäre, genauso spießig zu werden.
„Und sie wäre ohne zu zögern nach Hogwarts gegangen, wenn dich das tröstet. Aber weil das nicht ging, hat sie angefangen, die Magie zu hassen und das dann auf dich übertragen." Onkel Vernon hätte Magie wahrscheinlich sowieso gehasst, dazu hatte er Tante Petunia nicht gebraucht. „Vielleicht solltest du sie daran erinnern, wenn sie wegen Patty Theater macht."
„Ach, ich glaube, ich warte, bis sie elf ist, bevor ich Mum und Dad irgendwas davon sage", murmelte Dudley. Was wahrscheinlich das Beste war, was er machen konnte.
„Gute Idee", sagte Harry. „Mach dir nicht zu viele Sorgen. Sie wird immer dein Kind bleiben und die nächsten acht Jahre habt ihr sie ganz für euch." Er aß noch ein Stück von dem Kuchen. „Und Susanna kannst du sagen, dass der Kuchen ganz fantastisch schmeckt. Kann sie mir das Rezept geben?"
„Du kannst backen?", fragte Dudley überrascht.
Harry lachte. „Ich nicht, aber Ginny."
Dudley schaute zu Hermine. „Willst du das Rezept auch?"
Hermine schüttelte entschieden den Kopf. „Um Himmels Willen, nein! Bei meinem Glück explodiert nur die Küche." Hermine konnte überhaupt nicht kochen. „Aber vielleicht hat mein Mann Interesse, der backt sehr gut."
„Ich frag Susanna und schick es dir per SMS, okay?", sagte Dudley zu Harry. „Sie wird sich freuen, sie ist immer ganz stolz, wenn sie ein gutes Rezept findet. Sie experimentiert dann immer so lange damit herum, bis es noch zehnmal besser schmeckt. Ich muss höllisch aufpassen, dass ich nicht so dick werde wie damals. Ich hab lange trainieren müssen, um diese Figur zu erreichen." Dudley strich sich über seine muskulösen Arme und seinen relativ flachen Bauch. Kein Vergleich zu damals als Kind, wo er wie ein Hefekloß ausgesehen hatte.
„Daddy, schau mal!", unterbrach Patricia sie dann lautstark. Sie zeigte begeistert auf einen ihrer Bauklötze, der mitten in der Luft vor ihr schwebte und sich ganz schnell drehte.
Dudley seufzte, bevor er aufstand und zu ihr ging. Er setzte sich neben sie, zog sie in seine Arme und küsste sie auf ihre blonden Haare. „Ganz toll, mein Schatz. Ich wünschte, ich könnte das auch." Patricia strahlte ihn an.
„Ich glaube, sie werden ganz gut zurecht kommen", flüsterte Hermine ihm zuversichtlich zu. Harry schaute zu Dudley, der sich von Patricia zeigen ließ, was sie alles mit dem schwebenden Bauklotz anstellen konnte und nickte. „Ja, ich glaube auch."
TBC…
