Kapitel 25 - Dal Segno
„Da bist du ja, Chiemi. Warum bist du weggelaufen?", fragte sie.
Chiemi schlug die Augen auf. Sie blickte herauf auf das Gesicht eines Mädchens, das sie freundlich anlächelte. Es war der April vor 13 Jahren und sie hatte sich unter einem Gerüst im Spielplatz versteckt. Es war einer ihrer Lieblingsorte, zu denen sie immer hinging, um ihre Sorgen und Gedanken freien Lauf zu lassen.
„Du weinst ja… ist alles in Ordnung?", fragte sie besorgt.
„Warum bist du hier?"
„Ich habe nach dir gesucht."
„Das soll dir doch egal sein.", murmelte Chiemi.
Die Sonne am Horizont näherte sich dem Boden und war schon rot gefärbt, als sie gerade dabei war unterzugehen.
„Lach mich ruhig aus. Vielleicht werden deine Freunde dich dann besser finden.", sagte sie, in der Hoffnung, dass das Mädchen sie endlich in Ruhe lassen würde.
Das Mädchen zögerte.
„So jemand perfektes wie du, hat kein Recht, große Töne zu spucken, als ob du mich verstehen könntest."
„Ich…"
„Bitte geh und lass mich in Ruhe."
Sag doch etwas, dachte Chiemi wütend. Sie soll sich aufregen und sie anschreien, dass sie sich stattdessen verziehen sollte. Wie sehr sie Chiemi hassen würde und wie gerne sie sie loswerden könnte. Sie soll ihren Stolz mit Füßen treten und ihr Sand ins Gesicht werfen.
Lach sie aus!
Beschimpfe sie!
Werf ihr Steine ins Gesicht!
Ruiniere ihre Kleidung!
Das und nichts anderes war sie doch, nicht wahr?
Ein Monster. Ein gesichterstehlendes Monster. Chiemi hingegen war beinahe Identitätslos. Alles, was ihr geblieben war, waren ihre Lieblingsplätze und ihre Großeltern.
(„Warum kannst du nicht normal sein wie Kasumi?")
(„Wieso strengst du dich nicht genügend an?")
„Haltet die Fresse.", flüsterte sie leise.
(„Du solltest wirklich dir eine Scheibe von ihr abschneiden. Manchmal glaube ich wirklich, dass du es absichtlich vermasselst, um uns blöd vor allen anderen Eltern da stehen zu lassen.")
Sie hielt ihre Ohren zu, doch die Stimmen ihrer Eltern schienen aus ihrem Kopf zu kommen. Weitere Tränen flossen ihre beiden Wangen hinunter.
„Du hast Recht… ich habe wirklich kein Recht, so etwas zu sagen.", sagte Kasumi.
Chiemi lächelte. Genau das hatte sie schon erwartet. Sie ist nichts weiter als ein Parasit, das Stück für Stück einen Teil ihrer Identität frisst. Irgendwann werden auch ihre Freunde vergessen, wer sie war, ganz zu schweigen von ihren eigenen Eltern.
„Trotzdem will ich, dass du mir zuhörst."
„Red keinen Unsinn. Was will mir eine Zwölfjährige wie du schon über das Versagen erzählen?"
Kasumi zögerte.
„Siehst du? Dachte ich's mir. Wenn du mir nichts zu sagen hast, dann…"
Dann öffnete sie ihren Mund.
„Einiges."
Stille.
Beiden sagten kein Wort, als Chiemi sich die Zeit nahm, um dass was sie gesagt hatte, zu verarbeiten.
Dann brach sie in ein schallendes Lachen aus.
„Du? Eine Versagerin? Hahahaha, ich fass es nicht, das ist ja zum Totlachen!"
„Das meine ich Ernst.", sagte Kasumi.
Chiemi hörte aprupt auf.
„Mach dich nicht ÜBER MICH LUSTIG!", schrie sie und stand vor ihr auf. Sie war größer als sie und blickte nach unten, um ihr wütend ins Gesicht zu sehen, doch Kasumi bewegte sich kein Bisschen und blieb standhaft in ihrer Aussage.
Tap…
„Ich weiß, wovon ich rede.", sagte sie und als Chiemi ihre Zielstrebigkeit im Gesicht sah, verstand sie etwas. Sie war sich nicht sicher, was es war, jedoch wurde es ihr klar genug, dass sie es aufgab und sie mit genervter Neugierde musterte. Empfindete sie wirklich Respekt ihr gegenüber?
Tap, Tap, Tap, Tap…
Beide standen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber und sahen sich gegenseitig an. Für eine Weile geschah nichts, als plötzlich…
SSSHHHHH!
BROOOOMMMM!
„UWAAAAHHH!", rief Chiemi erschrocken, als plötzlich das trommelnde Donnern im Himmel wütete.
Es begann in Strömen zu regnen und die Regentropfen prasselten nur so ein. Kasumi reagierte schnell, nahm sie an die Hand („Hey, was machst du?") und rannte mit ihr zu einem der Spielgeräte am Spielplatz. Diese zwei Spielgeräte waren rund, hatten Löcher als Eingänge und schienen vom Boden herauszuragen. Zusätzlich waren sie eine gute Überdachung für solche Momente. Chiemi erinnerte sich noch an damals, als sie mit ihrer Großmutter dort gespielt hatte, denn auch zu dieser Zeit hatte sie keine Freunde, geschweige denn Familienmitglieder, die bereit wären, mit ihr nach draußen zu gehen und am Spielplatz zu spielen.
Genau, denn außer ihren Großeltern hatte sie niemanden, der ihr Aufmerksamkeit schenkte.
Als die beiden beim Spielgerät ankamen, setzten sie sich gemeinsam hin, um eine Verschnaufpause zu machen.
„Warum?", fragte Chiemi verwirrt und wütend zugleich.
Kasumi antwortete nicht.
„Sag mir, warum du mich mitgezogen hast?"
„Hattest du Angst?", fragte sie.
Erstaunt über die Frage, antwortete Chiemi: „Willst du dich über mich lustig machen?"
„Nein."
„Dann beantworte mir die Frage, verdammt!", sagte sie wütend, packte sie an der Schuluniform und zog sie zu sich.
„Du hast Angst vor dem Donner, richtig?", fragte Kasumi.
Chiemi zögerte.
BRRAAAAAMMMM!
„HYAAAAHH!"
Sie ließ Kasumi los und zog sich schnell ins Dunkel im Inneren des Spielgerätes zurück.
Kasumi blickte ihr nach und überlegte.
Als Chiemi wieder die Augen öffnete, bemerkte sie sofort, dass sie aufgeflogen war. Jetzt wusste Kasumi von ihrer Angst bescheid. Ihr war es peinlich, regelrecht peinlich, wie sie sich jetzt zusammengekauert hatte und herum heulte wie ein Weichei. So sehr, dass sie am liebsten vor Scham gerne im Boden versinken würde.
Sie warf einen wütenden Blick auf Kasumi und ballte die Faust.
Lach sie aus!
Sag ihr, was für ein Versager sie ist!
Kasumi ist perfekt, also darf sie das!
„Bitte…", murmelte sie, nur darauf wartend, dass Kasumi sie nieder machte und sie zum Gespött der Schule wurde.
Dann öffnete Kasumi ihren Mund.
Sie sang.
Es war eine Melodie, die sie zum ersten Mal in ihrem Leben gehört hatte. Selbst ihre Stimme war perfekt und sie traf jeden Ton ohne Probleme. Chiemi wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Ihr Gesang war wirklich wunderschön und sie erkannte ein wahres Talent in ihrer Stimme.
Es war eine Seite, die sie niemandem zeigen würde, nicht einmal ihrem eigenen Vater. Chiemi öffnete vor lauter Staunen den Mund. In diesem Moment erblickte sie ein neues Ich in ihr.
Das war die wahre Kasumi Awase.
—-
„Das darf doch wohl nicht wahr sein!", murmelte Herr Inubuchi zu sich.
„Das erklärt dann einiges…", gab Sato von sich.
Conan starrte wie gebannt auf die Aufnahme. Dieses Grinsen…
Inspektor Megure nickte und gab Takagi ein Signal.
„Jawohl.", sagte er und verließ den Überwachungsraum.
Nein, kein Zweifel, dachte Conan. Das musste der Täter sein, doch warum denn nur…?
„Na, wenn das so ist, dann entschuldige ich mich von hier.", sagte Herr Suzumura und machte sich bereit zu gehen, als der Inspektor ihn aufhielt.
„Wohin denn so eilig? Wir sind hier noch nicht fertig."
„Hä? Ich geh doch nur aufs Klo, okay? Kann ich hier nicht'n mal in Ruhe einen abseilen lassen?"
„In diesem Falle bleiben Sie bitte in der Nähe, verstanden?"
Herr Suzumura seufzte genervt und nickte, dann verließ er den Raum. Conan sah ihm noch nach, als dieser die Tür schloss.
Wieder dieses Grinsen…
Nein, irgendetwas stimmte nicht mit der Aufnahme. Als hätte der Täter es ausschließlich auf Frau Awase abgesehen, obwohl Frau Nakayama auch dabei war und direkt neben ihr stand. Hieß es also, dass es dem Täter egal war, wer von den beiden draufgehen würde?
—-
Zur selben Zeit, im ersten Stock auf der anderen Seite des Einkaufszentrums…
„Suchen Sie etwas Bestimmtes?", fragte eine Angestellte in einem Bekleidungsgeschäft.
„Nein, nicht dass ich es wüsste.", winkte eine Frau ab.
„Wenn Sie gerne möchten, können wir Ihnen unsere neue Herbst/Winterkollektion zum Besten geben. Durch unsere exklusive Herbstedition sparen Sie mehr als 750 Yen pro Kleiderstück.", begann die Angestellte.
„Äh, nein danke, ich passe. Ich sehe mich hier nur um.", sagte die Frau und versuchte, möglichst höflich abzulehnen, doch die Angestellte ließ nicht locker.
„Na, wenn Sie dann schon mal hier sind, würde ich Ihnen dann stattdessen diese Winterpullover mit weißem Polster empfehlen, die meiner Meinung nach sehr gut zu Ihrer Haarfarbe passt. Diese und viele mehr gibt es zum großen Teil in Größe M, L, XL zu einem Preis ab 3500! Und das Beste komm-"
„Nein, danke schön, ich würde mich gerne nur umsehen. Bitte geben Sie mir etwas Zeit.", erwiderte sie leicht gereizt.
Das brachte die Angestellte für einen Augenblick aus dem Konzept. Doch das hatte sie Monate, wenn nicht sogar Jahre trainiert! Nein, oh nein, sie wusste GANZ GENAU, wie man die Kunden dazu verführt, etwas zu kaufen, ob sie es wollten oder nicht. Ihr Motto war nicht umsonst: Ein LEERER Kunde ist ein ZUFRIEDENER Kunde. Also dann…
„Natürlich, dafür kann ich Sie noch für ein ganz bestimmtes Sortiment interessieren… bla bla bla bla bla."
Die Kundin spürte, wie aus ihrer Gereiztheit Wut wurde und sie langsam die Beherrschung verlor. Ein schneller Blick nach oben auf die Überwachungskameras sagte ihr, dass sie beobachtet und aufgenommen wurde. Nun gut, ein neuer Plan musste her. Sie griff vorsichtig in ihre Jackentasche und wollte ein kleines Gerät mit einem Lautsprecher herausholen, doch…
Ihr Handy vibrierte plötzlich in ihrer Hosentasche. Als sie das bemerkte, kam ihr eine gute Möglichkeit, dieser Frau zu entkommen.
„…nur mit einem Exklusiv Rabatt von 15 Proze-"
„Aber natürlich nehme ich diese Jacke und probiere sie auch gleich an, ja?", unterbrach sie die Verkäuferin mit einem so gut wie möglich gespieltem Interesse.
„Ja, aber…"
„Nein danke, Sie müssen nichts dazu sagen, ich bin schon sehr interessiert an einem Artikel in Ihrem Sortiment. Wenn Sie mich dann bitte entschuldigen…?", sagte sie und ging an der Verkäuferin vorbei, direkt zu den Umkleidekabinen.
Sprachlos und verwirrt, wurde sie zurückgelassen und sah der Frau mit den langen weißen Haaren hinterher.
Als sie den Vorhang in der Umkleidekabine hinter sich schloss, nahm sie sich einen kurzen Augenblick, um zu prüfen, ob niemand da war, der ihr zuhören konnte.
Wwwwmmm…
Sie blickte unter den Trennwänden rechts und links neben ihrer Kabine, ob sie irgendwelche Füße oder Kleidungsstücke auf dem Boden sehen konnte, doch zu ihrem Glück fand sie beides nicht. Erleichtert, zog sie schnell ihr Handy aus ihrer Hosentasche.
Wwwwmmm…
Das Handy in ihrer Hand vibrierte weiter.
War das Hive? Dumme Frage, natürlich müsste er das sein. Wahrscheinlich hatte er wieder etwas angestellt, doch bei dem Gedanken an das, was sie gestern Nacht erlebt hatte, machte es ihr plötzlich Angst.
Wwwwmmm…
Angst, er hätte ähnliches angestellt und unschuldige Zivilisten, nein, Polizisten gezwungen, sich auf das Schlimmste gefasst zu machen.
(„Keine Sorge, ich werd sie alle abschlachten.")
Wwwwmmm…
Sie hat es mit angesehen. Alles…
Für einen kurzen Augenblick sah sie Dunkelheit vor sich. Leichen, nichts als Leichen.
Ihre Hand zitterte leicht, als sie ihr Handy entsperrte und auf den Bildschirm starrte…
*UNBEKANNTE NUMMER*
Sie ging ran und legte den Hörer vor das Ohr.
„Du bist wieder zu spät, Vermillion.", sagte eine bekannte kühle Stimme und ließ sie zusammenzucken.
„Du bist es?", fragte sie erstaunt, aber auch irgendwie erleichtert, dass es diesmal jemand anderes war.
„Bist du alleine?"
Es war dieselbe Person, die sie vorgestern Nacht angerufen hatte. Seine kalte Stimme bohrte sich im Nu durch ihre Ohren direkt in ihr Herz und ließ es nahezu gefrieren. Ein Schock fuhr durch ihren Rücken.
„J-Ja, was gibt's?"
„Bist du dir sicher, dass du alleine bist? Ich höre Stimmen in deiner Nähe."
Als würde er direkt neben ihr stehen…
„Da-Das bildest du dir nur ein. Ich bin alleine."
„Lüg mich nicht an, Vermillion. Ich weiß genau, wo ihr euch beide befindet. Mit einem Knopfdruck kann ich mich in die Überwachungskameras reinhacken und herausfinden, was ihr beide gerade treibt, also spiele nicht mit mir, hast du mich verstanden, Vermillion?"
„Ich…"
Sie schluckte und konnte ihr leichtes Zittern nicht mehr unter Kontrolle halten. Der Mann fuhr fort.
„Wenn ich dich bei einer falschen Sache erwische, kann selbst der Tod dir nicht weiterhelfen."
„Ich bin alleine, versprochen. Niemand hört mich hier, also bitte…"
„Bist du dir auch ganz sicher?"
„Ja.", brachte Vermillion heraus.
Eine Weile verging…
„Nun gut, ich fahre fort.", sagte er.
Vermillion fiel ein Stein vom Herzen. Er und Hive waren sehr gefährlich, so viel war sie sich sicher.
„Ich fasse mich kurz: Jemand hat sich unbefugten Zugriff auf unsere Systeme verschafft."
„Was?", fragte Vermillion erstaunt.
„Normalerweise kümmere ich mich selbst darum, doch der Eindringling scheint viel gewiefter zu sein, als ich erwartet hatte."
„Heißt also, dass sich jemand in dein System gehackt hat, richtig?"
„Positiv. Wer auch immer es war, scheint ein Profi zu sein. Jedenfalls umging er die Firewall ohne jegliche Mühe und hat sich jetzt im Mainframe eingenistet. Hast du eine Ahnung, was das für Auswirkungen hat?"
„Nein.", murmelte sie unwissend.
„Hah, dachte ich's mir. Ich erkläre es dir: Der Server, den ich verwalte, wird von zwei Fraktionen betrieben. Einer davon ist unserer…"
„…und der andere gehört zur Organisation, richtig?"
„Genau. Du lernst dazu, Vermillion. Im Mainframe des Systems sind jegliche Daten und Informationen über die Mitglieder beider Fraktionen gespeichert. Wenn diese Daten ans Tageslicht kommen, wird die Polizei auf uns scharf. Das bedeutet, dass die Tage des Weiße Lotus und die der Organisation gezählt sind."
„Und was macht der Eindringling in diesem Moment?"
„Alles zu seiner Zeit. Hast du in letzter Zeit Kontakt mit irgendjemandem außer deinem Partner gehabt?"
„Was meinst du damit?"
„Beantworte die Frage, Vermillion.", befahl er ihr in einem etwas raueren Ton.
„Nein.", antwortete sie, wie aus der Pistole geschossen.
„Wie ist es mit Hive?"
„Auch nicht."
„Alles klar, danke."
„Gibt's sonst noch etwas?"
„Nein, das wär's."
„Nun gut, dann…"
„Ich lege auf.", sagte sie und wollte auflegen, doch der Anrufer hielt sie auf.
„Halt, warte. Bevor du das tust, hör mir zu."
„Was denn?"
„Ich warne euch. Was auch immer ihr beide auch tut, seid sehr vorsichtig. Das ist ein Befehl."
Vermillion fuhr erneut zusammen.
„Warum?"
„Es scheint mir, dass von allen Dateien, die sich im Mainframe befinden, die von Hive am Meisten geöffnet wurden. Der Eindringling ist womöglich an Hive's Daten interessiert, so, als würde er nur nach ihm suchen wollen."
„Hive's… Daten…", brachte Vermillion angsterfüllt von sich.
„Ich wiederhole noch einmal: Was auch immer ihr beide auch tut, seid vorsichtig, hast du mich verstanden, Vermillion?", sagte der Anrufer.
„Jawohl.", sagte sie.
Der Mann legte auf.
Vermillion konnte nicht fassen, was hier passierte. Zitternd und das Telefon in ihrer Hand festhaltend, lehnte sie sich an die Trennwand und starrte an die Decke. Ihr Herz schlug schnell, als sie sich ihrer beiden Zustand bewusst wurde.
(„Wenn diese Daten ans Tageslicht kommen, wird die Polizei auf uns scharf. Das bedeutet, dass die Tage des Weiße Lotus und die der Organisation gezählt sind.")
(„Der Eindringling ist womöglich an Hive's Daten interessiert, so, als würde er nur nach ihm suchen wollen.")
(„Ich warne euch.")
Vermillion erschrak. Moment mal, könnte es sein, dass…?
„Verdammt, was soll das denn heißen?", murmelte Herr Suzumura, als er wütend auf der Toilette saß und auf sein Handybildschirm starrte.
„Leitung belegt…", las er auf dem Display. Anscheinend ging sie im Moment nicht ran, wie bescheuert.
Der Mann seufzte schwer und steckte genervt sein Handy zurück in die Hosentasche.
—-
„Frau Nakayama, es tut mir leid, aber ich bitte Sie hiermit, mit mir mitzukommen.", sagte Takagi, als er bei der Unfallstelle ankam. Die Frau blickte hoch.
„Ich habe nichts getan, ich schwöre es.", sagte sie und ihre Tränen flossen weiterhin ihre Wangen hinunter. Sie sah schrecklich aus und man konnte klar sehen, wie sich das Make-up an ihren Augenliedern gelöst hatte. Selbst Takagi, Ai, der Professor und Ayumi erkannten, dass sie stark unter Schock stand.
„Wir möchten nur etwas bestätigen, das ist alles.", beruhigte er sie und reichte ihr die Hand zum Aufstehen.
„Folgen Sie mir zum Überwachungsraum, ja?"
„Zum Überwachungsraum?", wiederholte Chiemi verwirrt und wischte sich die Tränen von ihrem Gesicht. Nichtsdestotrotz folgte sie ihm und Ayumi sah ihr besorgt nach.
Nein…
Irgendetwas war falsch, das spürte sie. Ein komisches Gefühl bahnte sich an und ließ sie nicht los. Doch was war hier nur falsch? Welchen Fehler würde die Polizei nur begehen?
„Genta, Mitsuhiko…"
„Was ist denn, Ai?", fragte Mitsuhiko.
„Seid ihr euch sicher, ob euch in diesem Fall wirklich keine besonderen Merkmale aufgefallen sind? Womöglich hat einer der Männer irgendetwas zu den Aufzügen gesagt…", meldete sich Ai zu Wort und befragte die beiden Kinder.
„Besonderes…", murmelte Genta nachdenklich.
„Nein, ich denke nicht. Obwohl…", begann Mitsuhiko.
„Ich glaube, ich weiß es…", begann Ayame.
„Was sagst du da, Ayame?"
„Da war etwas Komisches im Aufzug, das bin ich mir sicher."
„Sag es uns schon.", erwartete Ai.
„Kurz bevor der Aufzug fiel, habe ich aus dem Inneren des Aufzuges etwas hören können, aber es fällt mir irgendwie nicht ein."
„Du hast etwas gehört? Was?", fragte Genta nach.
„Was hast du hören können?", stimmte ihm Mitsuhiko neugierig zu.
„Es war ein Lied.", erklärte Ayame.
Die beiden Jungs sahen sich gegenseitig verwirrt an.
„Ein Lied?"
„Aber was soll an einem Lied denn komisch sein?", fragte Ai.
„Ja genau, denn es ist doch recht bekannt, dass Aufzüge Fahrstuhlmusik haben, oder etwa nicht?", nickte Mitsuhiko.
„Ich weiß, aber… ich glaube, ich kenne diese Melodie von irgendwoher, ich kann mir den Titel bloß leider nicht merken."
„Ein Lied… ein Lied…", dachte Genta angestrengt nach. Keiner von den beiden kam auf eine Idee, doch dann traf Mitsuhiko plötzlich ein Geistesblitz.
„Moment mal, Genta, ich denke, ich hab's! Erinnerst du dich an das, was einer der Männer gesagt hat?", sagte er aufgeregt.
„Nö, keine Ahnung."
„Die beiden haben doch irgendetwas von 'nem Lied gelabert, oder etwa nicht?"
„Echt?", fragte Genau überrascht.
„Stell dich nicht blöd, Genta. Du warst doch mit dabei."
„War ich das?"
„Hast du das mit Absicht gesagt, um mich zu ärgern?"
„Keine Ahnung, sag du's mir."
Mitsuhiko antwortete nicht darauf, sondern warf ihm einen genervten Blick zu und Genta konnte sich sein Grinsen schlecht verkneifen.
„Okay, okay, ich weiß schon Bescheid. Der eine hat doch gesagt, dass alle von diesen Aufzügen eine eigene Fahrstuhlmusik in sich gespeichert haben, richtig?", sagte er und amüsierte sich damit, ihm auf die Nerven gegangen zu sein.
Mitsuhiko rollte mit den Augen.
„Jedenfalls, wenn das stimmt, dann sollte dieser Hinweis wichtig für die Lösung des Falls sein."
„Sicherlich wird uns dieses Lied dann auch zum Täter führen, oder?", fragte Ayame.
„Genau.", stimmte Ai ihr zu.
Als sie das sagte, fühlte Ayumi eine Welle von Freude überkommen. Ai währenddessen sah sich um und fokussierte sich auf den Boden, dort wo Frau Nakayama zuvor gesessen hatte. Dann blickte sie auf den Aufzug.
Nein, irgendwie hatte sie kein gutes Gefühl bei der Sache.
—-
„Sehen Sie sich bitte die Überwachungsaufnahmen an.", sagte Inspektor Megure und deutete mit dem Finger auf den Bildschirm für die Kamera 02.
„Ich kann Ihnen getrost sagen, dass ich nichts mit diesem Fall zu tun habe, Herr Inspektor.", flehte sie ihn an, als sie das Geschehen vor vier Tagen mitverfolgte.
„Hier, halten Sie mal die Aufnahme an.", befahl er und Herr Inubuchi pausierte die Aufnahme. Als sie das Gesicht des Täters erblickte, erstarrte sie vor lauter Schock.
„Kennen Sie diese Person, Frau Nakayama?", fragte der Inspektor.
„N-Nein, das… das kann nicht sein.", brachte sie hervor.
Auf dem Bildschirm grinste eben diese Chiemi Nakayama in die Kamera und das direkt nach getaner Arbeit.
„Das ist unmöglich! Das kann ich nicht gewesen sein!", rief sie ungläubig und schlug mit beiden Händen auf den Schreibtisch.
„Man kann es zwar aufgrund der mangelhaften Bildqualität schwer erkennen, aber wenn man genauer hinsieht, bemerkt man die langen Haare und die groben Gesichtsumrisse des Täters. Zusätzlich wird Ihre braune Haarfarbe…"
Er gab Herrn Inubuchi ein Zeichen und dieser spulte die Aufnahme einige Minuten zurück.
„…in einem anderen Standbild durch das Licht des Aufzugs deutlich, wie hier zu sehen ist."
„Ein Grinsen.", kommentierte Sato.
„Das…"
Frau Nakayama verschlug es die Sprache.
„Das kann nicht sein! Ich war an diesem Tag zu dieser Zeit Zuhause! Ich kann es nicht gewesen sein, nicht wahr, Tokiharu?", sagte sie und wandte sich flehend Herrn Inubuchi zu, doch dieser schüttelte den Kopf.
„Es tut mir leid, Chiemi, aber…"
„Was? Was willst du mir sagen? Komm schon, sag es mir!", rief sie verzweifelt.
„Ich war zu dieser Zeit woanders und habe nicht gewusst, dass du schon Zuhause gewesen bist. Ich bin damals mit Douto und Kasumi in Shibuya einkaufen gegangen. Du hast mir ja auch keine Nachricht geschrieben, deswegen konnte ich es ja auch nicht wissen."
„Was?"
Sie stützte ihre Arme am Boden ab, als sie in die Knie ging. Conan warf ihr einen nachdenklichen Blick zu.
Nein, er wollte es auch nicht glauben. Es war falsch. Als würde jemand wollen, dass sie sich in Verzweiflung an alles Mögliche festhalten würde, was ihr auch nur ansatzweise helfen könnte und doch…
Conan sah wieder zum Bildschirm und starrte auf das Grinsen von Frau Nakayama in der Aufnahme. Seine Augen verengten sich. Dann lächelte er mit einer herausfordernden Miene im Gesicht. So war das also. Wie es ausschaut, war der Täter sehr Klever, auch nachdem der Mord geschehen war.
Was ihm jedoch noch fehlte, war das Motiv des Täters. Warum nur würde der Täter so etwas Schreckliches nur tun?
Der Inspektor gab Takagi und Sato ein Zeichen und gab die nächsten Anweisungen an.
„Frau Nakayama und die beiden Herrn Inubuchi und Watamine bitte ich, jetzt mit uns mitzukommen.", sagte er zu den drei Verdächtigen.
„Gehen wir also zurück zum Tatort?", fragte Herr Watamine verwirrt.
„Ja, das ist richtig. Weitere Antworten gebe ich, wenn wir da sind."
Eine Weile später, als sie alle den Überwachungsraum verließen und am Tatort angekamen, trafen die Sieben auf Herrn Suzumura mit einem Polizisten, den der Inspektor losgeschickt hatte, als Beobachter.
„Keine Vorfälle, Herr Inspektor.", versicherte ihm der Polizist.
„Hat er sich gewehrt.", fragte er.
„Negativ, Herr Inspektor."
„Verstehe."
„Herr Professor.", flüsterte Conan und winkte Agasa zu. Dieser bemerkte ihn und kniete sich zu ihm.
„Und Shinichi, weißt du schon, wer der Mörder ist?", fragte er.
„Ja, aber mir fehlen noch einige Informationen.", sagte Conan.
„Nun, Mitsuhiko und Genta haben etwas von einer besonderen Fahrstuhlmusik erzählt."
„Stimmt ja, jetzt fällt es mir auch ein. Herr Inubuchi hat vorhin darüber ausgesagt, doch…"
„Doch was?"
„Jetzt scheint Frau Nakayama die Hauptverdächtige zu sein. Zahlreiche Beweise gegen sie liegen auf der Hand."
„Du meinst wohl…"
„Genau, ich weiß, dass ich diesen Fall aufklären werde.", sagte er und der Professor hob misstrauisch die Augenbraue.
„Ähh, mit Ihrer Hilfe natürlich, Professor, ehehe…", sagte er und rieb sich verlegen den Hinterkopf.
„Na schön, dann wollen wir mal.", murmelte er.
Ai beobachtete das Gespräch und lächelte. Sie kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu gut. Der Junge wusste auf jeden Fall, wie er knifflige Situationen bewältigen konnte.
Ayumi folgte neugierig ihren Blick.
—-
„Hier, Izami. Over.", sagte ein kurzbärtiger Mann außerhalb des Einkaufszentrums.
Der Mann trug eine schwarze Lederjacke, eine Jeanshose und ließ die Abendsonne an seiner Sonnenbrille abblitzen. Er hatte ein Walkie-Talkie in der rechten Hand und telefonierte.
„Bist du angekommen? Over."
„Ja, ich stehe momentan gegenüber dem Einkaufszentrum. Ich kann einige Polizeikarren schon vor dem Eingang parken sehen, wahrscheinlich ist wieder ein Mord geschehen. Ich vermute mal, einer dieser verdammten Fingermörder hat wieder zugeschlagen. Over.", sagte er.
„Hast du ihn? Over."
„Laut Quellen befindet sich das Ziel im Moment in diesem Gebäude. Werde mich in Kürze selbst vergewissern. Over."
„Verstanden. Over."
Der Mann steckte das Gerät in seine Hosentasche und zündete sich in aller Ruhe eine Zigarette an. Dann blickte er durch das Glas am Eingang des Einkaufszentrums und lächelte dreckig.
„Hab ich dich endlich gefunden, du dreckiges Arschloch."
– Kapitel 25 ENDE –
