Kapitel 2: Schicksalswahl
Mit einem tiefen Seufzer fiel Kaiba mit dem Rücken auf das Bett, welches sich im obersten Stockwerk-Apartment des Kaiba Corp Towers befand. Ihm gehörte laut Testament dieses und vieles mehr, daher erübrigte es sich für ihn die Idee weiterhin im Hotel zu übernachten. Er bevorzugte nach wie vor die Intimsphäre eines eigenen Zuhauses vor einem fünf Sterne Hotel.
Er musste kurz die Augen schließen, um seine zahlreichen Gedankengänge zu stoppen. So viel war in den letzten 48 Stunden passiert, dass er nicht einmal Zeit dafür hatte, nachzudenken, wie sich sein Leben ändern könnte. Und ob er überhaupt dazu bereit war. Hundemüde von der langen Reise nach Domino City, den beiden anstrengenden Tagen geprägt von der Bestattung seines Vaters und jetzt noch eine Wende in Sachen Erbe und Testament, ließen ihn keine Ruhe. An Schlafen konnte er nicht denken, zu sehr beschäftigte ihn die Entscheidung seines Vaters, ihm, dem ungehorsamen, rebellischen und nahezu verhassten Sohn sein gesamtes Erbe zu hinterlassen. Da musste doch was dahinterstecken, er kannte seinen berechnenden Vater zu gut, um an eine spontane Gemütsänderung zu denken. Zudem: er war nicht der einzige leibliche Sohn, Mokuba könnte genauso als legitimer Haupterbe gelten, wie er, zumal mit Mokuba die Verhältnisse nicht so verhärtet waren. Aber Mokuba war noch klein, erst in sechs Jahren könnte er über das Erbe verfügen, das Unternehmen leiten und Rechtsgeschäfte tätigen. Die Verwaltung durch die Mutter, Lucrecia, war also für seinen Vater keine Option. Warum? Wie waren die Verhältnisse zwischen seinem Vater und seiner zweiten Frau? Irgendwelche Gerüchte aus der Boulevardpresse hatte er nicht gehört. Er war zwar nie an solchen Gerüchten und News interessiert, jedoch erhielt man als einer der berühmtesten Familien im Lande und Übersee alle möglichen wahren und erfundenen Geschichten mit. Er hatte in seinem Unternehmen eigens eine Abteilung drin, der die Neuigkeiten, egal ob positiv oder negativ, aufgriff und ihm wöchentlich berichtete.
Anders als die Jahre zuvor, schottete sich sein Vater aus der Öffentlichkeit mehr und mehr ab. Er war bei allen wichtigen geschäftlichen Veranstaltungen dabei und zeigte sich auch in der einen oder anderen Business-basierten-Veranstaltung, jedoch kam er ihn nie außergewöhnlich trübselig oder sogar krank vor. Gealtert, ja, aber nicht todkrank. Daher kam die Nachricht des Ablebens seines Vaters nahezu aus heiterem Himmel.
Überrascht hatte ihm das Benehmen von seiner Stiefmutter dagegen nicht. Er kannte ihre wahren Absichten, sich in einer der reichsten Familien des Landes einzuheiraten und sich für den Rest ihres Lebens zu versorgen, sehr gut. Dies war nicht nur ein reines Heiratsmotiv von Lucrecia Gardner in die Familie der Kaibas, sondern auch ein weiterhin fest und steif verfolgter Plan von ihr. Aus diesem Grund hatte Lucrecia gleich nach der Heirat alles daran gesetzt ein Kind von Gosaburu zu bekommen, einen wahren Erben, wie sie stets betonte, auch in Anwesenheit von Kaiba. Auch fingen zu diesem Zeitpunkt die Kampagnen gegen ihn an. Er war nie ein Kind, das sehr an seinen Vater gehangen hatte oder gar für ihn wichtig war, doch mit der Unterstützung von Lucrecia wurde er ein Dorn im Auge des Vaters.
Er wimmelte die Gedanken ab. Er wollte nicht an die Vergangenheit denken und schon gar nicht an das zerrüttete Verhältnis zu seinem Vater und seiner manipulativen Frau.
Er wollte an die Zukunft denken. Was sollte nun passieren? Wie sollte er es nun schaffen sowohl in New York zu sein als auch in Domino, zwei große Unternehmen zu leiten und doch fern von dem Geschehen in der Villa zu bleiben.
In der Montgomery Inc. hatte er gute Strukturen aufgebaut, sodass er dort zumindest für einige Zeit fehlen konnte. Seit er das Unternehmen der Montgomery Familie geerbt hatte, hatte er sich mit jedem Tag, jede Stunde, fast nahezu 24 Stunden in diesem Unternehmen behaupten müssen. Seine Mutter stammte aus einer der einflussreichsten Familien in den USA. Das alte Geld wurde durch das Unternehmen von Generation zu Generation an die Nachkommen vererbt, bis Setos Großvater in jungen Jahren verstarb und das Unternehmen an seine einzige minderjährige Tochter vererbte. Auch sie, Annabell Rose Montgomery, sollte das Unternehmen leiten. Doch sie verliebte sich in den damals noch aufsteigenden Jungunternehmer Gozaburu Kaiba und beschloss, statt im Büro und in Konferenzen zu sitzen, sich der Familie zu widmen. In der Zwischenzeit leitete das Unternehmen ihr Cousin und später der Sohn des Cousins, bis Kaiba selbst die Zügel vor zwölf Jahren an sich zog. Der Kampf zwischen ihn und seinen amerikanischen Verwandten nahm eine neue, wuchtige Wende, bis am Ende Kaiba den Kampf für sich entscheiden konnte. Er war der einzige legitime CEO und Großaktionär der Montgomery Inc. Und daran konnten die Cousins und sonstigen Verwandten nichts mehr ändern. Das Montgomery-Problem sollte daher keines mehr sein.
Dagegen war die Kaiba Corp. ein Neuland, den er betreten und ausforschen musste. Zwar hatte er jede freie Minute zwischen Heimunterricht, Internat, außerschulischen Aktivitäten im Unternehmen seines Vaters verbracht – mit zehn hatte er schon sein erstes Praktikum, mit zwölf nahm er an dem ersten Forschungsprojekt teil, den er ein Jahr später selbst leitete, mit fünftzehn war er der Berater des Departments Entwicklung und musste nebenbei sein Collage-Abschluss machen. Jedoch war das alles nichts verglichen zu den letzten zwölf Jahren, in denen er abwesend war: zwölf Jahre könnten eine signifikante Rolle in der Entwicklung und Fortbestand von Kaiba Corp. bedeuten.
Wie bereits mit Iso besprochen, musste er so schnell wie möglich eine außerordentliche Aktionärsversammlung einberufen und sich zum neues CEO wählen lassen. Das Problem waren die 20% Anteile von Mokuba an den Aktien, denn ohne die würde er keine Mehrheit bilden können, da er selbst als Befangener seine Anteile und Stimmen nicht einsetzten könnte. Selbst wenn die 11 % der Minderheitsaktionäre für ihn stimmen würden, würde Tea ihre Stimmen auf keinen Fall an ihn geben, da war er sich sicher.
Tea. Schon der Gedanke an sie rief jedes Mal ein Cocktail an Emotionen in ihm hervor. Er spürte innerlich die Hitze steigen, aber gleichzeitig ging es ihm eiskalt den Rücken runter. Er sah sie vor seinem inneren Auge, nunmehr eine erwachsene wunderhübsche Frau, mit den langen hellbraunen Haaren, dem herzförmigen Gesicht und den azurblauen leuchtenden Augen. Und er sah ihr verängstigte Form, ihr blasses Gesicht und ihre tränenreichen Augen in dieser Nacht vor zwölf Jahren.
Die Erinnerung und die damit einhergehende Qual ließen ihn wieder aufrecht im Bett sitzen. Er rieb sich mit den Händen das Gesicht und stand auf. Er durfte sich nicht mehr fertig machen, als er es schon sowieso aufgrund der Ereignisse war. Er sollte sich duschen und dann schauen, dass er wenigstens in dieser Nacht fünf Stunden am Stück schlafen konnte.
Die Nacht brachte ihm zwar keine wesentliche Erholung, aber wenigstens war sie traumlos.
Den ganzen Vormittag verbrachte er im Office seines Vaters. Er lernte die Manager der einzelnen Abteilungen kennen und sah sich einige Unterlagen an: die Bilanzen und Jahresabschlüsse der letzten Jahre, die Investitionssummen fremder Kapitalanleger, die Börsenzahlen mit den Auf- und Abstiegen, und obwohl er keine wesentlichen Probleme im Unternehmen fand, so würde er einiges anders machen als bisher. Als provisorischer CEO würde er vieles nicht machen können, erst wenn er in zwei Wochen als CEO von der Hauptversammlung der Aktionäre in seiner Rolle bestätigt würde. Die Einladungen waren verschickt, er war gespannt, wie er sich die Rolle des CEOs sichern könnte, an Lucrecia dürfte sie niemals fallen, lieber holte er sich eine fremde dritte Person ins Boot.
Es klopfte an der Tür. Einer der Sekretärinnen seines Vaters kam hinein und kündigte die Ankunft von Mokuba an, der nicht lange auf sich warten ließ und zu seinem älteren Bruder stürzte.
„Seto! Ich habe dich vermisst!"
„Mokuba, was machst du hier?"
„Ich wollte dich besuchen, Seto."
Der Braunhaarige lächelte und streichelte den Kopf seines Bruders.
„Wer hat dich gebracht?"
„Tea hat mich gebracht und wird mich am Abend auch abholen.", sagte der Zwölfjährige, „Ich hoffe du hast etwas Zeit für mich, wir könnten zusammen Mittagessen und vielleicht hast du Lust Kaibaland anzuschauen. Wir haben die größten Riesenräder aufgestellt, und wenn man ganz oben ist, dann werden die Lichter ausgemacht, damit man die Stadt sehen kann. Und ..."
Für einen Augenblick hörte Kaiba nicht mehr genau hin, was Mokuba noch alles aufzählte. Er fragte sich, wie lange Tea und er sich aus dem Weg gehen könnten und wie fair würde das gegenüber Mokuba sein, wäre ein Dialog überhaupt möglich? Oder wenigstens ein stummes, wortloses miteinander, nicht mehr als ein „Hallo" und „Auf Wiedersehen". Wie lange könnten sie ihr angespanntes Verhältnis rechtfertigen oder brauchten sie es gar zu rechtfertigen?
Die fröhliche Art von Mokuba gab ihn Hoffnung auf eine sinnvolle Zeit in Domino. Wenigstens, wenn ihm sonst nichts Positives in dieser Stadt hielt, könnte er mit Mokuba solange Quality-time verbringen, wie nur möglich war. Er wüsste nicht, wie schnell die Zeit hier vorbei sein könnte, wettete jedoch mit der außerordentlichen Aktionärsversammlung und seiner nicht erfolgten Wahl und Rückkehr nach New York.
Tea saß sichtlich nervös in einem der vielen Sesseln im großen Konferenzraum. Mit ihr befanden sich dort ihre Mutter, die auch zur Vertretung von Mokuba da war, der Notar Mr. Iso, die Abteilungsleiterin der Rechtsabteilung sowie 7 Minderheitsaktionäre, die insgesamt 11% der Aktien an Kaiba Corp hielten. Es war der Tag der Wahl eines neuen CEO der Kaiba Corp. Alle warteten darauf, dass der provisorische CEO und Erbe der 49% der Anteile, Seto Kaiba die Versammlung eröffnete. Kurz nachdem alle Platz genommen hatten, kam er in das Konferenzraum, eine junge Sekretärin an seiner Seite, die Protokoll der Veranstaltung führen sollte.
Kaiba eröffnete die Versammlung und stellte die Beschluss- und Wahlfähigkeit der Anwesenden fest. Es waren alle gekommen, die eingeladen wurden. Es gab nur ein Tagesordnungspunkt – die Wahl des CEO. Zunächst wurden die Kandidaten vorgestellt. Neben Seto Kaiba und Lucrezia Kaiba gab es noch eine Dritte Person, der als Kandidat in Betracht kam, ein hochdotierter Manager, der jedoch kein Aktionär war. Dies sollte als Kompromisskandidat gelten, sollten die beiden vorher genannten Kandidaten in beiden Runden nicht gewählt werden.
Die Aktionäre entschieden sich einstimmig die Wahlen offen zu halten, was bedeutete, dass jeder nacheinander offen seine Stimmen als Ganzes an einen der Kandidaten vergeben konnte.
Wie so bereits vorhergesehen, konzentrierten sich insgesamt 11 Stimmen, allesamt von den Minderheitsaktionären, auf Seto Kaiba. Er selbst durfte sich nicht wählen. Lucrezia enthielt sich. Seto stimmte noch nicht ab. Die Stimmen von Tea waren entscheidend, denn wenn sie ihre 20 Stimmen an Lucrezia vergab, so konnte er wenigstens die Wahl der unliebsamen Stiefmutter verhindern, indem er seine 49 Stimmen an den neuen Kandidaten vergab. Es stand 11 Stimmen auf Seto Kaiba, 30 Stimmen auf Lucrezia (die Stimmen von Mokuba) und bisher 0 Stimmen auf den neuen Kandidaten. Es war Teas Reihe abzustimmen. Der Notar fragte nach:
„Miss Kaiba, sie sind dran, wen möchten Sie zum CEO wählen?"
Obwohl die Situation eindeutig war, wurde durch das Zögern von Tea, die Stimmung angespannt. Ihre Mutter hatte vor der Fahrt zum Headquarter ihr nochmal versichert, dass sie ihre Stimme entweder an sie oder dem dritten Kandidaten vergeben sollte. Auf keinen Fall jedoch an Seto Kaiba, denn dann wären alle anderen überstimmt. Sie nickte dem ganzen zu. Ihr waren die Themen rund um Kaiba Corp nie wichtig, sie hatte die Firma nie als die ihre wahrgenommen und musste auch nicht, da sie bis zum Tod von Gozaburu keinerlei Bezug zum Unternehmen hatte. Jetzt war das jedoch zu einem gewissen Prozentsatz ihre Firma und zu einem noch höheren Anteil die von Mokuba. Gleich zur Eröffnung der Sitzung wurde die Strategie der Firma dargestellt. Bei Wahl des neuen Kandidaten würde Kaiba wieder zurück nach New York ziehen und von dort die wenigen Geschäfte leiten, die ihm als Großaktionär zufielen. Sie hatte jedoch die Schönen Momente zwischen den beiden Brüdern in den letzten Wochen mitbekommen. Mokuba hatte jedes Mal ein Strahlen im Gesicht, als er nach Hause kam, nachdem er sich mit Kaiba getroffen hatte. Allein der Gedanke, Mokuba würde erneut enttäuscht werden, sollte Kaiba zurück nach New York ziehen, brach ihr das Herz.
Als ihr klar wurde, dass sie etwas zu lange überlegt hatte, sprach sie:
„Ich vergebe meine Stimmen an … Seto Kaiba". Das Raunen und die überraschten Gesichter im Konferenzraum zeigten, nicht zuletzt des Genannten, dass keiner der Anwesenden damit gerechnet hatte. Der wohl am meisten überraschte von allen dürfte Seto Kaiba sein.
Als er als Nächstes gefragt wurde, wen er seine 49 Stimmen geben wollte, riss er sich zusammen und kündigte an, dass er sich enthalten würde.
Der Notar protokollierte nun für alle Teilnehmer das Wahlergebnis und ignorierte die abfälligen Bemerkungen und das skandalträchtiges Benehmen von Lucrecia, die nicht glauben konnte, was ihre Tochter gerade gemacht hatte.
„Wir haben folgendes Wahlergebnis, meine Damen und Herren: Seto Kaiba; 31 Stimmen, Lucrezia Kaiba: 30 Stimmen, John Wilton: 0 Stimmen. Herzlichen Glückwünsch Mr. Kaiba zur Wahl des CEO."
Er drückte die Hand von Kaiba mit einer offiziellen Gratulation und überreichte ihm das Protokoll.
„Was hast du dir dabei gedacht, Tea? Wie kannst du nur mir so etwas antun? Warte nur ab, wenn ich das Testament angefochten habe, werdet ihr alle ohne nichts bleiben. Habt ihr mich verstanden? Du auch Tea!"
Mit diesen Worten stürmte sie noch vor den anderen Teilnehmer raus. Während die anderen Aktionäre im Raum daneben verköstig wurden, würde Lucrezia zu ihrem Anwalt gehen und noch einen Beschluss zur Anfechtung bringen.
Tea seufzte und packte ihre wenigen Sachen, die sie auf dem Tisch hatte, zusammen. Kurz bevor sie raus gehen konnte, hörte sie Kaiba ihren Namen rufen.
„Tea, bitte warte kurz", sagte er und vergewisserte sich, dass keiner in dem Raum geblieben war, „warum hast du mich gewählt? Warum nicht deine Mutter oder sogar Mr. Wilton?"
Tea drehte sich um. Zum ersten Mal traute sie sich ihn direkt in den Augen zu schauen.
„Ich habe es nicht für die Firma getan und auch nicht für dich. Ich habe es für Mokuba getan, ihm würde das Herz brechen, wenn du gehen würdest."
Mit diesen Worten machte sie sich auf den Weg nach Hause.
Autors Note: Bin gespannt auf konstruktive Kritik ;)
