Flucht

Marthas Gedanken kreisen um die Worte ihres Schöpfers. Dank ihrer Recherche und stundenlanger Geduld weiß sie nun endlich was er ihr damals sagte. Sie hat nach wie vor keine Ahnung wer er war oder was mit ihm passiert ist, aber sie ist sich nun sicher, dass er in dem damaligen Krieg auf der Seite der Rumänen gekämpft haben muss. Sie müssen verzweifelt gewesen sein, wenn sie Neugeborene erschaffen haben, denn Martha war mit Sicherheit nur eine von vielen.
Auch wenn sie nur noch wenige Erinnerungen an ihr menschliches Dasein hat, so hört sie seine Stimme noch immer so deutlich wie in besagter Nacht. Das dunkle Grollen mit einer Mischung aus Hass und Blutdurst hallt bei dem Gedanken daran in ihrem Kopf. Die schwarzen Iriden, das verzerrte Gesicht, das so viele Emotionen offenbarte. All diese Erinnerungen. Eva ist der Meinung, dass es einen Bund zwischen Schöpfer und Neugeborenen gibt. Belegen kann sie es nicht, aber nach Marthas Auffassung macht dies durchaus Sinn. Eventuell sollte sie diesbezüglich mal Marcus fragen.
Gedankenversunken streift sie, dicht gefolgt von ihrer Wache, durch die schier unendlichen Gänge des Schlosses. Dabei hallen immer wieder die Worte in ihrem Kopf `Vernichte den italienischen Abschaum. Kämpfe mit uns`.
Martha seufzt auf, woraufhin die Wache sofort den Blick hebt. Sie weiß noch immer nicht wie er heißt, aber sie hat gerade andere Dinge im Kopf. Schließlich setzt sie ihren Weg fort, bis sie den vorderen Teil des Schlosses erreicht.

Es ist bereits Abend, denn die Sonne sinkt allmählich am Horizont während Martha im Empfangsbereich ankommt. Ariana ist gerade dabei ihre Tasche zu nehmen, als sie die beiden Vampire kommen sieht. Etwas nervös schließt sie ihre Jacke und hängt sich schließlich ihre Handtasche um, dabei hat sie ein gezwungen freundliches Lächeln aufgesetzt. Martha nickt ihr leicht zu, kümmert sich dann aber weiter um die Gemälde die in diesem Bereich des Schlosses hängen. Aus den Augenwinkeln sieht sie wie Ariana den Raum schließlich schnellen Schrittes gen Ausgang verlässt. Ein leichtes Grinsen huscht dabei über Marthas Lippen. Sie kann sich nicht vorstellen, dass die Volturi Ariana wirklich zu einer der ihren machen. Soweit sie weiß wurde diese Ehre bisher noch keiner Sekretärin zuteil.
Martha scheint im Allgemeinen eine der wenigen Vampire zu sein, die ihre Rasse als Geschenk empfinden. Viele sehen die Unsterblichkeit als Buße, als Strafe dafür, dass sie sich am Lebenssaft der Menschen laben. Das empfindet sie als äußerst albernen Gedankengang, sie sieht die Möglichkeit die sich ihr bietet. Den Wandel der Welt mitanzusehen, Wissen und Eindrücke zu erlangen und Erfahrungen zu machen und zu teilen. Und plötzlich trifft sie wieder dieser wehmütige dumpfe Schmerz in ihrem Inneren. Ihr Leben hier hat absolut nichts damit zu tun. Sie fühlt sich wie ein wildes Tier, das in einem Käfig gehalten wird. Sie vermisst die Leichtigkeit in ihrem Leben. Selbst jene, die sie damals nach Corins Besuch gefühlt hat. Erleichterung für ihre unsterbliche Seele.
Ein kurzer Blick gleitet zu einem der Fenster und sie sieht, dass die Sonne bereits hinterm Horizont versinkt. Einige Wolken bedecken den Himmel und verdunkeln die Erde und damit schießt ihr ein Gedanke in den Kopf, der ihr in diesem Augenblick so klar und selbstverständlich vorkommt, als hätte sie ihn schon tausende Male durchdacht. Ihr Herz zieht sich kurz schmerzhaft zusammen, doch sie weiß das es ohnehin nur von kurzer Dauer sein würde. Mit entschlossenem Blick dreht sie sich zu der Wache um. „Es tut mir leid", haucht sie nahezu und sieht ihn mit einem Anflug von Mitgefühl an. Sie kann nur erahnen, was ihn erwarten wird. Als der Angesprochene die Stirn verwirrt in Falten legt, dreht sich Martha schon um und ist im Bruchteil einer Sekunde durch die Tore verschwunden.
Die Wache steht für einen Moment wie angewurzelt an Ort und Stelle, kurz darauf rennt er hinterher, doch er kann sie nicht ausmachen. Vor den Toren des Schlosses sucht sein Blick vergebens nach der Vampirin, die er eigentlich beschützen sollte. Panik legt sich über ihn, als ihm bewusst wird was das nun für ihn bedeuten könnte. Unbewusst beginnt er stoßweise zu atmen, während er sich mit einer Hand durch sein braunes Haar fährt. Langsam geht er wieder zurück in die Eingangshalle und schließt das Tor. Er schluckt einen dicken Klos im Hals hinunter und versucht sich einzureden, dass ihn Ehrlichkeit weiterbringen wird. Nach einigen Minuten hat er sich wieder etwas gefasst und geht in Richtung Thronsaal, auch wenn es sich für ihn diesem Augenblick eher wie ein Gang zum Schafott anfühlt. Mit langsamen Schritten nähert er sich seinem Ziel und als er vor den Türen steht, hat er es schon fast geschafft sich selbst von seinen Gedanken zu überzeugen.

Er öffnet die Türen zaghaft und sieht zu seinen Meistern, die sich auf der rechten Seite an einem großen Tisch mit allerlei Büchern versammelt haben.
Aro sitzt am Kopfende, der Stuhl steht leicht schräg sodass er die Beine überschlagen kann. Die Hand die zuvor nachdenklich sein Kinn gestützt hatte lässt er auf die Lehne sinken. Marcus sitzt an einer der Seiten des Tisches, vor ihm ein eine Notiz, die er augenscheinlich mit Aro besprechen will. Caius unterdessen steht auf der anderen Seite des Tisches, ein Buch in den Händen, dass er zu studieren scheint.
Die drei Augenpaare der Meister richten sich augenblicklich auf den Neuankömmling und sowohl Aro als auch Caius blicken den Vampir mit Argwohn an. Sie wissen schließlich beide, welche Funktion er derzeit ausübt. Ungeduldig sehen die drei den Vampir an, ehe dieser sich kurz räuspert.
„Meister Caius, es geht um Lady Martha." Damit hat er nun die Aufmerksamkeit aller im Raum befindlichen Vampire auf sich gezogen. Caius Miene verfinstert sich zunehmend und er schlägt das Buch in seinen Händen mehr als geräuschvoll zu, woraufhin sein Gegenüber unwillkürlich zusammenzuckt und den Kopf senkt. Mit einem Mal ist er sich seiner Argumentation nicht mehr sicher.
„Was ist mit ihr?" Seine Worte sind nicht mehr als ein dunkles Grollen und man könnte annehmen, dass seine Aura mit jeder vergehenden Sekunde noch ein wenig dunkler wird. Aro und Marcus blicken aufmerksam auf den jungen Vampir.
„Sie", beginnt er schließlich und die Panik ist ihm mehr als deutlich anzusehen. Seine Finger bearbeiten nervös den Stoff seiner Robe, während er versucht den Blicken des blonden Meisters auszuweichen. „Sie ist fort Meister. Sie hat das Schloss verlassen, als sie …" Bevor auch nur irgendeiner der Anwesenden reagieren kann, erscheint Caius neben der Wache und reißt ihm in einer fließenden Bewegung den Kopf von den Schultern. Diesen lässt er unachtsam zu Boden fallen und in seinen Augen lodert eine Wut, die alle im Raum erschüttert. Ein tiefes Grollen entrinnt seiner Kehle und sein ganzer Körper scheint auf Angriff geschaltet zu sein.
„Jane, Alec!" Mit diesen Worten erscheinen die beiden Zwillinge neben Caius. Sie fragen nicht um was es geht, das Bild vor ihnen ist deutlich. Demetri geht schließlich einige Schritte auf seinen Meister zu, die Arme dabei hinter seinem Rücken verschränkt. Er wirft nur einen kurzen Blick auf die am Boden liegende Wache. Er kann sich ohnehin denken um was es geht und als er seinen Meister ansieht reichen bereits wenige Worte. „Finde sie!" Ohne weitere Umschweife verschwinden die vier Vampire aus dem Saal und lassen Aro und Marcus zurück, die sich mit besorgter Miene ansehen.
Aro begibt sich schließlich zu der enthaupteten Wache und macht sich daran den Kopf wieder mit dem Körper zu verbinden. Er muss wissen, was passiert ist. Einige Minuten vergehen bis sich dieser wieder selbst regeneriert hat, mit schockgeweiteten Augen sieht er zu den beiden Meistern. „Ruhig, mein lieber Raphael." Aros Worte sind vollkommen monoton während er die Hand des Angesprochenen fester als nötig hält. Ihm reichen wenige Sekunden um die für ihn interessanten Geschehnisse zu durchforsten. Kommentarlos lässt er die Hand los, blickt kurz zu Marcus ehe er ein kaum sichtbares Nicken an Felix richtet. Dieser ist sofort zur Stelle und bringt Raphael in die Kerker.
„Was meinst du dazu Marcus?", fragt Aro schließlich gedankenversunken. „Du weißt was du tun wirst, Aro. Ich habe mit Caius bereits darüber gesprochen." Marcus hält Aro seine Hand entgegen, er ist kein Mann der vielen Worte. Früher oder später würde Aro davon erfahren und jetzt gibt es ohnehin keine Alternative mehr.
Die beiden Brüder sitzen minutenlang stillschweigend an dem Tisch. Aro weiß, dass sobald sein Bruder mit seiner Gefährtin zurück ist, Chelsea sich um beide kümmern muss. Er kann es nicht verantworten seinen Bruder zu verlieren. Sein gesamter Clan würde auseinanderbrechen. Er braucht ihn für seine Art und sein Handeln, auch wenn Caius keine Gabe besitzt ist er ein äußerst wichtiges Instrument in Aros Reihen. Den Großteil ihrer Reputation hat er seinem Bruder zu verdanken. Was auch immer Caius vor hat, Martha wird sich ihrem Schicksal beugen, dafür werden Chelsea, Corin und er Sorge tragen.

Martha rennt so schnell sie ihre Beine tragen. Sie spürt den Wind in den Haaren und die Nässe des leichten Regenschauers auf ihrer Haut. Ein leichtes, fast schon erleichtertes, Lächeln legt sich auf ihre Lippen, wenngleich sie auch die möglichen Konsequenzen fürchtet. Natürlich weiß sie, dass er sie finden wird und dies wird ganz sicher nicht allzu lange dauern. Nur zu gerne würde sie wieder zurück gehen um bei ihm zu sein, doch das Umfeld droht sie zu zerbersten. Sie kann nicht verstehen wie Sulpicia und auch Athenodora das so viele Jahre aushalten. Sie kann nur hoffen ihr Ziel schnell zu erreichen.
Es dauert nicht allzu lange bis Martha die Grenze zu Deutschland erreicht, sie kennt die Gewohnheiten ihrer Schwestern und hofft sie schnell zu finden. Ihr erster Versuch im bayerischen Wald bleibt erfolglos, doch dann erinnert sie sich daran, dass Eva mal wieder in ihre Heimat an der Nordsee wollte. So schnell sie ihre Füße tragen macht sie sich auf in besagte Richtung. Kurz bevor sie die Gewässer erreicht ereilt sie ein zarter Duft, der sie abrupt die Richtung ändern lässt. Nach wenigen Augenblicken hält sie schließlich in einem Waldstück an und blickt nach unten auf eine Lichtung mit ihr drei nur allzu bekannten Personen.
Würde ihr Herz noch schlagen, hätte es in diesem Augenblick vermutlich einen Satz gemacht. Ein erleichtertes Lächeln bildet sich auf ihren Lippen und sie blickt erwartungsvoll auf die drei Vampire, die sie zunächst geschockt anstarren. Eva ist die erste die sich rührt, vorsichtig geht sie einen Schritt nach vorne. „Martha?", haucht sie ungläubig, als hätte sie einen Geist gesehen. Der Wind frischt auf und der Regen lässt schließlich komplett nach.
Ohne ein Wort zu sagen rennt Martha zu ihren Schwestern und fällt Eva in die Arme. „Endlich, ich habe euch so vermisst", kommt es von ihr leise schluchzend und endlich realisieren alle vier, was gerade passiert. Eva schließt die Arme um ihre verloren geglaubte Schwester und auch Sofie und Amelie schließen sich an.
Einige Minuten vergehen in denen sich die Schwestern leise beruhigend zuflüstern und in den Armen liegen. Eva drückt Martha schließlich ein wenig von sich, behutsam nimmt legt sie ihre Hände an Marthas Schläfen. „Erzähl uns, was ist passiert? Wir dachten du seist tot." Ihre Worte sind sanft und voller Sorge. „Setz dich", schlägt Sofie vor und Amelie lässt Marthas Hand nicht eine Sekunde los. Die Schwestern nehmen schließlich auf zwei gefällten Baumstämmen Platz.
Marthas Blick gleitet von einer zu anderen, woraufhin Amelie ihre Hand drückt und ihr aufmunternd zulächelt. „Ich sollte hingerichtet werden, das ist richtig", beginnt sie schließlich und seufzt auf. „Aber wie es scheint, habe ich bei den Volturi meinen Gefährten gefunden, das hat mich vor meinem Schicksal bewahrt." Ihre Schwestern bleiben still, sie wollen sie nicht unterbrechen und ihr die Möglichkeit geben, alles in Ruhe zu erklären.
„Es war mir nicht mehr gestattet euch zu sehen, egal wie oft ich auch nachgefragt habe. Und es war mir seitdem auch nicht mehr erlaubt das Schloss zu verlassen." Marthas Stimme beginnt zu beben und sie sieht ihre Schwestern mit einem entschuldigenden Blick an. „Als ich erfahren habe, dass ihr dachtet ich sei tot, wusste ich das ich euch noch einmal sehen muss. Es tut mir so leid."
Eva setzt sich schließlich neben Martha und streicht ihr beruhigend über den Rücken. „Du musst dich nicht entschuldigen. Es war doch nicht deine Schuld." Die beiden lächeln sich an. „Du musst wieder gehen, oder?", fragt Amelie zaghaft mit einem leicht flehenden Ausdruck, woraufhin Martha nickt. „Ja Amelie, ich muss wieder gehen." Sie seufzt tief, als an ihren kurzen Ausflug vor den Toren mit Caius zurückdenkt. „Ich glaube nicht, dass Aro ihn ziehen lassen würde."
Auch wenn es Eva und ihren Schwestern schwerfällt, so können sie doch verstehen, dass Martha wieder gehen muss. Der Gefährtenbund ist ein seltenes Geschenk, das man nicht ignorieren kann. Und doch wollte Martha mit ihrer Aussage nur erreichen, dass ihren Schwestern der erneute Abschied leichter fällt. Denn um ehrlich zu sein, will sie nicht mehr zurück ins Schloss, wo sie in hohen Mauern eingepfercht ihr Dasein fristen wird. Sie wünscht sich nichts sehnlicher als gemeinsam mit Caius in Freiheit zu leben. Martha seufzt innerlich und beobachtet einen Wassertropfen, der sich langsam seinen Weg zur Spitze eines Blattes eines jungen Baumes macht, ehe er in eine kleine Pfütze verschwindet. Vieles wäre so viel einfacher gewesen, wenn ihr Gefährte kein Volturi wäre.
Um die Stimmung ein wenig zu heben steht Sofie mit einem schelmischen Grinsen auf. „Das ist schon eine enorme Typveränderung." Sie beäugt das Kleid mit einer Mischung aus Argwohn und Faszination. Martha zieht eine Augenbraue nach oben und blickt an sich hinunter.
Das grüne samtene Kleid ist fast vollkommen durchnässt und das untere Ende ist durchzogen von Matsch und Laub. Auch die Stiefel sehen nicht besser aus. Lediglich von der Hüfte aufwärts bis zu den langen Ärmeln erinnert es noch wage an die einstige Eleganz. „Nicht mein Stil, aber wenigstens gefällt mir die Farbe", antwortet Martha mit einem Zwinkern. „Sag mal Martha,", beginnt Eva erneut, „wer ist eigentlich dein Gefährte?" Doch bevor Martha etwas sagen kann hören die Schwestern schnelle Schritte die sich nähern, Vögel krächzen und Äste rascheln. Nervös blicken sie sich an. „Dein Kommen war nicht abgestimmt. Du bist geflohen, oder?", flüstert Eva, und Martha bringt nur ein Nicken zustande. Unruhig blicken die Schwestern in die Richtung aus der die Schritte kommen und wenige Augenblicke später stehen sie dem Grund für ihre Nervosität gegenüber.