Wintersturm

Draußen heulte der Wind gegen die Bretter ihrer Hütte. Besorgt drückte Primm ihr Gesicht gegen die Fensterschreibe und versuchte angestrengt in der Dunkelheit durch den Schneesturm Hildas Umrisse wahrzunehmen. Die Scheibe beschlug unter ihrem warmen Atem. Obwohl das Feuer bereits seit einige Zeit ihr Zuhause mit wohliger Wärme erfüllte, fröstelte Primm beim Gedanken an das ungezähmte Wetter draußen und schlang die Strickjacke enger um ihren Körper. Gerade als sie sich fragte, ob sie nach ihrer Schwester suchen sollte, erkannte sie plötzlich schemenhaft Hildas Gestalt im dichten Schneefall.

Primm eilte zur Tür und öffnete ihr. Sofort empfind sie peitschender Wind, der einzelne Schneeflocken in ihre Hütte wirbelte. Mit schweren Schritten stampfte Hilda fluchend an ihr vorbei und klopfte sich den Schnee von Schuhen und Kleidung.

„Was für ein Sauwetter", beschwerte sie sich. Hilda wischte sich zitternd die nassen Strähnen aus dem vor Kälte gerötetem Gesicht. „Ich dachte schon, ich finde gar nicht mehr nach Hause."

Durch ihre Abgeschiedenheit zur nächsten Stadt war das angesichts des Schneesturms eine berechtigte Sorge gewesen. Als sie sich ihr neues Zuhause ausgesucht hatten, waren sie einem romantischen Gedanken gefolgt, aber wenn man ehrlich war und so sehr sie ihn auch liebte, war dieser Ort nicht ganz praktikabel. Primm hoffte, dass sich die Lage bis Morgen beruhigt hatte und sie problemlos durch den vielen Schnee zur Klinik in die Stadt kam, in der sie gemeinsam mit Hilda arbeitete.

„Zum Glück hast du es geschafft!", sagte Primm. „Zieh dir am besten gleich warme Sachen an. Das Essen ist auch schon fertig. Das wird dich wärmen."

Hilda verschwand in das angrenzende Schlafzimmer, das sie sich gemeinsam mit Primm teilte, während diese zwei große Schalen mit dampfendem Eintopf an der Feuerstelle füllte. Primm stellte gerade das Essen auf den Tisch, als ein lautes Hämmern an der Tür das friedliche Knistern des Feuers übertönte und sie zusammenzucken ließ. Mit alarmierter Miene stürzte Hilda aus dem Schlafzimmer. Die beiden tauschten besorgte Blicke. Ein Klopfen bei diesem Schneesturm und um diese Zeit konnte nichts Gutes bedeuten.

Wieder hämmerte es.

Hilda suchte fieberhaft den Raum ab. „Wo hast du schon wieder meinen Speer hin geräumt?", fragte sie verärgert.

Schuldbewusst sah Primm hinter sich zur Feuerstelle. Sie nutze Hildas Speer immer heimlich um die Glut zu verteilen. Hilda folgte ihrem Blick und atmete zähneknirschend tief durch. Ihrer Anspannung war es zu verdanken, dass sie sich jeden weiteren Kommentar sparte.

„Warte hier", befahl Hilda. Sie schnappte sich ihren Speer und ging vorsichtig auf die Tür zu.

Primm war zu neugierig um ihr nicht zu folgen. Mit rasendem Herzen hielt sie sich hinter Hilda, behielt aber wachsam die Tür im Auge. Die Luft war zum Zerreißen gespannt, als Hilda langsam öffnete. Das Erste was Primm in der Dunkelheit vor ihnen sah war ein wilder Schwall aus langem blondem Haar. Ihr Gegenüber sah sie nicht an, sondern starrte zu Boden, doch Primm musste nicht sein Gesicht sehen um zu wissen wer vor ihnen stand.

„Aramis", rief sie fast atemlos.

Im nächsten Moment realisierte Primm, dass er merkwürdig gegen die Wand lehnte und etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Sie stürmte an Hilda vorbei. Ehe er nach vorne kippen konnte und auf dem Boden aufschlug, fiel er in ihre Arme.

Primm spürte sofort die eisige Kälte, die von ihm ausging. Seine Kleidung war vollständig durchnässt. „Er muss da raus, sonst erfriert er uns."

Zusammen mit Hilda hievte sie ihn in ihr Schlafzimmer, legte ihn auf ihr Bett und begann ihn seiner Kleidung zu entledigen. Nachdem sie ihm den Mantel ausgezogen hatten, fiel Primms Blick auf sein zerfetztes weißes Hemd, auf dem sich über seinem Bauch ein großer roter Fleck ausgebreitet hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben überkam sie beim Anblick von Blut blanke Panik. Mit zitternden Fingern öffnete sie die Knöpfe seines Hemds, doch Hilda riss achtlos an dem noch verbliebenen Stück Stoff und offenbarte eine hässliche Schnittwunde darunter.

„Wir müssen ihn nähen", sagte sie bestimmt, der anscheinend ihre aufgewühlten Gefühle nicht entgangen waren. „Du wirkst Magie und hältst ihn fest. Ich nähe."

Primm nickte, dankbar dafür, dass Hilda mittlerweile ebenfalls eine Ausbildung zur Heilerin begonnen hatte und nun das Ruder über die Situation in die Hand nahm. Hilda eilte davon um ihre Nähutensilien zu holen, während Primm sich hinter Aramis auf ihr Bett setzte und ihn gegen ihren Oberkörper lehnte. Seine Augen flatterten hektisch unter seinen geschlossenen Lidern. Primm strich ihm sanft das Haar aus dem nassen Gesicht und lehnte ihren Kopf an den seinen. Ein vergeblicher Versuch seine Schmerzen zu lindern.

Hilda kam mit einem Waschzuber, Alkohol, Nadel und Faden zurück und machte sich ohne zu zögern daran seine Wunde zu reinigen. Aramis stöhnte bei ihrer Berührung sofort schmerzerfüllt auf. Primm umklammerte seine Arme und legte die Hände von hinten auf seine Brust. Sie zwang sich zur Konzentration, um ihre Magie zu wirken und ihm den Schmerz etwas erträglicher zu machen. Sie bewunderte ihre Schwester für ihren klaren Fokus, obwohl ihr eigentlich die Routine fehlte. Als Hilda den ersten Stich durch sein Fleisch tat, musste Primm den Blick abwenden. Aramis schrie, riss die Augen auf und versuchte sich aufzubäumen. Primm verstärkte ihren Griff um ihn und presste ihr Gesicht an das seine, um ihn besser festhalten zu können. Die fiebrige Hitze, die von ihm ausging, brannte in ihre Haut.

„Alles wird gut", murmelte sie in sein Ohr, während ihr stumm eine Träne über die Wange rannte. „Es ist bald vorbei."

Mit verklärtem Blick drehte er den Kopf zu ihr. „Primm?", krächzte er kraftlos.

Hilda stach erneut zu und Aramis schrie. Nur mit Mühe konnte ihm Primm Einhalt gebieten. Sie versuchte das Maximale aus ihrer Magie zu holen und ihn in einen Gedankenkokon aus Licht und Wärme zu tauchen, der ihn immerhin wieder bewusstlos werden ließ. Immer mehr spürte Primm was er fühlte. Sie war kaum fähig seine Qualen zu bewältigen. Gerade rechtzeitig war der letzte Stich getan, als die Welt um sie herum begann dunkel zu werden und ihr Oberkörper über ihm zusammensackte. Hilda war sofort an ihrer Seite und half ihr sich zurückzulehnen.

„Du kannst ihn loslassen", sagte sie beschwichtigend.

Mit Loslassen meinte Hilda ihre Magie zurückziehen, aber Primm fiel es schwer ihn wieder komplett seinen Schmerzen zu überlassen, obwohl sie körperlich kaum mehr in der Lage war noch mehr zu geben.

Hilda spürte ihren Widerstand und verstärkte eindringlich den Griff um ihre Schulter. „Lass los. Du kannst nicht mehr."

So gut es ging versuchte Primm gegen die Ohnmacht zu kämpfen, musste sich aber dann geschlagen geben und zog ihr Licht zurück. Sofort stöhnte Aramis gequält auf und sie packte das schlechte Gewissen.

„Er muss da jetzt durch", sagte Hilda unnachgiebig. „Komm, ich helfe dir hoch."

Schwankend und unter Hildas Umklammerung krabbelte Primm aus ihrem Bett. Ihre Beine schafften kaum ihr Gewicht zu tragen. Sie brauchte einige Minuten um wieder klare Sicht und die Gewissheit zu haben, dass sie nicht sofort den Boden unter den Füßen verlieren würde, ehe sie Hildas Griff abschüttelte und sich wieder auf Aramis konzentrierte.

„Er muss aus der Kleidung raus. Er ist komplett durchnässt. Kannst du nochmal Feuerholz nachlegen?"

Hilda nickte, eilte aus dem Schlafzimmer und kam ein paar Sekunden später mit einem vollen Korb zurück. Primm kümmerte sich währenddessen darum mit zitternden Fingern Aramis Wunde zu verbinden, ehe sie ihm die Hose öffnete und begann ihm diese und seine Unterhose über Hintern und Beine zu schieben. Der Anblick eines nackten Mannes war aufgrund ihres Berufes nichts Besonderes für sie und da sie in erster Linie voller Sorge um sein Leben war, hatte sie auch keinen Platz für unbehagliche Gefühle. Mit einem Tuch rubbelte sie seine Haut trocken und breitete anschließend die warme Decke über ihm aus.

Kalter Schweiß stand ihm auf seinem fiebrigen Gesicht und sein langes Haar klebte ihm in Stirn und Nacken. Primm durchnässte ein neues Tuch und wischte ihm die Schweißperlen fort.

„Du hast zu viel Magie gegeben." Hilda trat von hinten an sie heran. „Du solltest dir auch etwas Ruhe gönnen. Iss etwas und dann gehen wir schlafen."

„Er sollte nicht alleine sein, wenn er aufwacht", erwiderte Primm. Sie wusste, dass es nach diesen Strapazen unwahrscheinlich war, dass er aufwachte, solange das Fieber in seinem Körper tobte, aber aktuell klammerte sie sich so gut es ging an die Hoffnung, dass es ihm half, wenn er ihre Anwesenheit spürte. Er war noch lange nicht über dem Berg. „Wir sollten die Betten zusammenschieben."

Hilda leistete keinen Widerspruch und begann sofort ihr Bett durch das Zimmer neben das von Primm zu schieben, indem nun Aramis lag. Primm legte sich darauf und hielt seine Hand fest umklammert. Kaum hatte ihr Kopf das Kissen berührt, suchte die Erschöpfung sie heim und ihre Augenlider wurden schwer. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns nach einem Jahr so wiedersehen", murmelte sie, eher zu sich selbst als ihrer Schwester.

„Du mochtest ihn, nicht wahr?", hörte sie noch Hildas Stimme sagen.

Primm wollte ihr antworten, doch ihr Geist glitt bereits davon.


Als Primm am nächsten Morgen die Augen aufschlug, war sie körperlich am Ende, aber ihr Verstand war sofort hellwach. Glasklar waren die Erinnerungen an den verletzten Aramis. Sie entdeckte ihn im Bett neben sich. Im Gegensatz zu gestern Abend lag er nun fast regnungslos da. Panik überkam Primm. Sie legte prüfend die Hand auf sein Gesicht und stellte erleichtert fest, dass er noch atmete. Allerdings hatte ihn nach wie vor das Fieber fest im Griff.

Vorsichtig wurde die Tür geöffnet und Hildas roter Haarschopf lugte herein. „Du bist wach", stellte sie fest und ein erleichtertes Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Ich hatte schon gehofft, dass der ganze Eintopf jetzt für mich alleine ist."

Passend dazu knurrte Primms Magen und sie erinnerte sich wieder daran, dass ihr das Essen gestern Abend verwehrt geblieben war. Langsam setzte sie sich aufrecht ins Bett und schenkte Hilda ein schwaches Lächeln. „Wag es ja nicht", sagte sie so bedrohlich wie möglich.

„Ich hole dir gleich etwas zu Essen", zeigte sich Hilda scherzhaft gnädig, dann wurde ihr Blick wieder besorgter. „Wie fühlst du dich?"

„Wie nach einer dicken Grippe."

„Ich werde dich in der Klinik entschuldigen. Du wirst ihn ohnehin nicht alleine lassen wollen. Außerdem werde ich in der Stadt Kleidung für ihn besorgen. Es behagt mir nicht, dass ich dich mit einem nackten Mann alleine lasse."

„Glaubst du Kleidung wäre ein Hindernis?", erwiderte Primm unschuldig.

Hildas Lippen wurden schmal und ihr Blick warnend. „Wehe hier passiert etwas, wenn ich nicht da bin."

Traurig flog Primms Blick wieder zum schlafenden Aramis. „Ich denke, dass du dir darum in seinem Zustand keine Sorgen machen brauchst. Er scheint zumindest aber nun stabil zu sein."

„Zum Glück wusste er, wo er uns findet."

Primm wurde hellhörig. Verwirrt sah sie Hilda an. Bisher hatte sie noch keine Gelegenheit gehabt darüber nachzudenken, ob sein Erscheinen vor ihrer Türschwelle Zufall und unverschämtes Glück gewesen war oder er wusste wo er sie finden würde. Natürlich war es alles andere als eine glückliche Fügung gewesen. Unwillkürlich schmerzte dieser Gedanke. Er kam in seiner größten Not zu ihr, wäre aber nie gekommen, wenn er sie nicht gebraucht hätte.


Träume suchten Aramis im Fieber heim. Immer wieder wurden Primm und Hilda von unverständlichem Gemurmel geweckt. Nach zwei Tagen begann seine Temperatur endlich zu sinken und als Primm am Morgen des dritten Tages das Schlafzimmer mit einem Waschzuber betrat, saß er gekrümmt und mit schmerzverzerrtem Blick in ihrem Bett. Vor Schreck und Erleichterung hätte sie beinahe die Schüssel fallen gelassen. Hastig stellte sie diese auf dem Nachttisch neben ihm ab und setzte sich an seine Bettkante.

Als er ihre Anwesenheit bemerkte wurden seine blauen Augen groß. „P-rimm?", sagte er verwirrt mit heiserer Stimme. Ihr Name blieb ihm fast im Halse stecken.

Primm fiel ein, dass er seit mehreren Tagen seine Kehle nicht mehr richtig befeuchtet hatte und ganz ausgetrocknet sein musste. Sie hatte ihm zwar immer wieder versucht Flüssigkeit zu verabreichen, aber er hatte kaum reagiert, geschweige denn geschluckt. „Ich hole dir sofort etwas zu trinken."

Sie eilte wieder in die Küche, ehe sie mit einem Krug frischem Wasser wiederkam und Aramis ein volles Glas reichte. Hastig kippte er die Flüssigkeit hinunter.

„Du hast fast drei Tage geschlafen", erklärte sie ihm anschließend. „Ich bin so froh, dass du wach bist."

Aramis runzelte nachdenklich die Stirn. Er sah noch immer so aus als würde er analysieren wie er in diese Situation geraten war und seine Erinnerungen durchforsten. „Richtig", murmelte er irgendwann. „Ich wollte zu dir."

„Was ist passiert?", fragte Primm.

„Ein Kampf mit einem Verbrecher", erinnerte sich Aramis. Sein Gesichtsausdruck wurde düster. „Er ist mir entkommen."

Primm spürte sofort was das für ihn bedeutet und ihr wurde flau im Magen. „Das heißt, dass du ihn weiter jagen wirst?", fragte sie vorsichtig, fürchtete sich aber vor der Antwort, die sie eigentlich schon kannte.

„Ich muss."

Als sie realisierte wie ernst es ihm war, brach plötzlich all die Verzweiflung und Sorge der vergangenen Tage aus ihr heraus. Unglaubliche Angst überkam sie bei dem Gedanken, dass er wieder dem Mann begegnen würde, der für seine Verletzung verantwortlich war und es dieses Mal wahrscheinlich nicht mehr so glimpflich ausgehen würde. Wut begann in ihr zu kochen.

„Ich verstehe das nicht", erwiderte sie. „Du wärst fast gestorben! Wie weit soll es denn beim nächsten Mal gehen?"

„Es ist meine Pflicht."

„Ist es nicht!", rief Primm. Aramis blieb ruhig, aber es war ihm deutlich anzusehen, dass er keine Kraft für diese Diskussion hatte, nachdem er drei Tage bewusstlos im Fieber gelegen hatte, doch Primm war zu aufgebracht um sich zurückzuhalten. „Warum sollte es ausgerechnet deine Pflicht sein? Welche Schuld versuchst du zu begleichen?"

„Du verstehst das nicht", erwiderte er knapp.

„Nein, das tue ich wirklich nicht. Wir haben gemeinsam in einem Krieg gekämpft und könnten endlich unseren Frieden finden, doch du bist lebensmüde!"

„Primm-"

„Lass es", unterbrach sie ihn. „Ich will diesen Unsinn nicht mehr hören. Du machst sowieso was du möchtest. Ich brauche Luft."

Primm stürzte dramatischer als beabsichtigt aus dem Schlafzimmer. Ihr Herz raste, sie zitterte. Tränen brannten ihr in den Augen. Sie hasste es, dass er diese Wirkung auf sie hatte und sie sein Schicksal so mitnahm, obwohl es ihm offensichtlich gleichgültig zu sein schien, wie es ihr damit ging.

Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, wusste sie, dass ihre Enttäuschung über sein Verhalten viel tiefer ging, als sie es ihm gegenüber je zugeben würde. Nachdem der Krieg geendet hatte, hatte sie die Hoffnung gehabt, dass sie Hand in Hand Drakenheim wieder aufbauen würden und sich mehr zwischen ihnen entwickeln könnte, aber er war ohne ein Wort des Abschieds verschwunden. Manchmal war es leichter gewesen sich einzureden ihm wäre etwas passiert, als, dass er sie einfach verlassen hatte, weil er nicht dasselbe für sie empfand. Zwar ein schrecklicher Gedanke, aber Primm beruhigte sich damit, dass es nur menschlich war.

Hinter Primm knarrte es. Plötzlich umschlangen sie zwei kräftige Arme und zwangen sie augenblicklich dazu die Luft anzuhalten. Sie spürte, wie er seine Stirn gegen ihren Hinterkopf lehnte und die Wärme, die von ihm ausging. Würde der Schmerz nicht so tief sitzen, hätte ihr Körper wohl auf ihn reagiert. Noch nie waren sie sich so nahe gewesen.

„Es tut mir leid", flüsterte er. „Weine bitte nicht meinetwegen."

„D-u bist gegangen", stieß Primm hervor, wobei ihre Worte größtenteils von ihren Tränen verschluckt wurden. „D-u hast mich einfach verlassen."

„Ich war immer da."

Das zu hören empfand Primm nicht als Trost. Es klang, als hätte er eine Barriere zwischen ihnen errichtet. Sie brauchte niemanden, der über sie wachte. Er hätte als Freund und Gefährte an ihrer Seite sein sollen. Plötzlich tat ihr seine Nähe fast schon körperlich weh. Primm bemühte sich um Fassung und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, ehe sie sich umdrehte und Aramis von sich drückte. Sie ging an ihm vorbei und wollte zurück ins Schlafzimmer.

„Komm mit", presste sie mit beherrschter Stimme hervor. „Ich muss deine Wunde wieder waschen."

Aramis folgte ihr wortlos. Sein Blick suchte den ihren, als er sich unter großer Anstrengung wieder auf das Bett setze, doch dann lenkten ihn seine Schmerzen von ihr ab.

„Wenn du dich hinlegst, ist es erträglicher."

Er kam ihrer Empfehlung nach und lehnte sich stöhnend zurück in ihr Bett. Primm bemerkte wie ihre Finger zitterten, als sie die Knöpfe seines Hemdes öffnete. Anders als noch vor ein paar Tagen machte sie nun der Gedanke an einen halbnackten Aramis nervös und die Tatsache, dass er nun bei Bewusstsein war, half nicht gerade dabei ruhiger zu sein.

„Wo ist meine Kleidung?", fragte Aramis und besah sich das Hemd das er trug genauer. „Die Sachen gehören mir nicht."

„Das was davon noch übrig ist habe ich gewaschen", erwiderte Primm. „Hilda hat dir neue Sachen besorgt."

Sie befeuchtete das Tuch in der Schüssel, die sie zuvor mitgebracht hatte und presste das Wasser wieder daraus heraus. Mittlerweile war die Flüssigkeit fast schon etwas zu kalt. Mit klopfendem Herzen begann sie sanft über seinen Oberkörper zu streichen, ehe er plötzlich ihr Handgelenk umfasste und sie zum Innehalten bewegte.

„Du musst das nicht machen", murmelte er.

Sie schob seine Hand zur Seite. „Willst du etwa?", fragte sie und fuhr unbeirrt weiter damit fort ihn zu Waschen, während das Blut in ihren Ohren pulsierte. „Du kannst kaum sitzen."

Aramis fühlte sich sichtlich unwohl und schloss die Augen. Primm spürte, wie er versuchte sich zu entspannen und hatte Mühe damit ihn nicht unverhohlen anzustarren. Sein Oberkörper war übersäht von kleinen Narben, die er sich in all den Schlachten zugezogen hatte, doch jede einzelne machte ihn nur noch schöner und anziehender.

Es wurde still, doch die Luft war zum Zerreißen gespannt, während Primm sanft seine Haut reinigte. Sie waren sich so nah und dennoch spürte sie nur die Kälte der dicken Mauer zwischen ihnen.

Nachdem sie damit fertig war ihn zu säubern, half sie ihm wieder beim Anziehen.

„Danke", murmelte Aramis. „Vor allem dafür, dass du mich gerettet hast."

Seine Augen suchten wieder die ihren. Primm spürte es, aber sie war noch nicht bereit ihn wieder anzusehen. Zu groß war ihre Sorge erneut in Tränen auszubrechen und sie wollte sich ihm gegenüber nicht wieder verletzlich zeigen.

„Ich fange gleich mit dem Kochen an. Du bist sicher ganz entkräftet. Ich kann dir später auch das Haar waschen. Ein Bad muss leider durch deine Wunde noch ein paar Tage warten", sagte sie und ratterte pflichtbewusst die Liste ab, die ihr in diesem unangenehmen Moment durch den Kopf schoss.

„Zu Essen würde ich nicht Nein sagen", sagte Aramis.

„Gut, dann versuch wieder etwas zu schlafen. Ich weck dich dann."

Als Primm das Schlafzimmer verließ fühlte sie sich leichter damit, wieder etwas Distanz zwischen sie gebracht zu haben, doch gleichzeitig schwer, weil alles so verfahren schien. Ihr wurde wieder deutlich bewusst, dass ihre Erwartungen an sie beide ganz andere gewesen waren, als die seinen und das brach ihr aktuell ein weiteres Mal das Herz.


Primm hatte sich Sorgen darüber gemacht wie die Tage in Aramis Anwesenheit wohl sein würde, doch ihre Bedenken waren umsonst gewesen. Tatsächlich war er nach wie vor so entkräftet, dass er die meiste Zeit schlief und lediglich zur Nahrungsaufnahme zu sich kam. Mit Aramis Fieber war auch der Schnee geschmolzen und ein paar Tage später wurde Primm durch ein Knarren am frühen Morgen, noch ehe die ersten Sonnenstrahlen aufgegangen waren, geweckt.

Hilda schlief nach wie vor seelenruhig neben ihr, doch das Bett von Aramis, das mittlerweile wieder in einem sittsamen Abstand zu ihnen stand, war leer. Verwirrt stieg Primm ebenfalls aus ihrem Bett, schlüpfte in ihre Hausschuhe und schlang sich eine Decke um den fröstelnden Körper, der lediglich mit ihrem dünnen Nachthemd bedeckt war. So leise wie möglich verließ sie das Schlafzimmer und entdeckte Aramis, wie er angekleidet im Wohnraum stand und sich gerade die Schuhe angezogen hatte. In Primm fror alles ein, als sie die Situation realisierte. Die Enttäuschung saß tief. Schuldbewusst sah er sie an.

„Du liebst Morgenspaziergänge?", fragte Primm bitter.

„Es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe", sagte er lediglich ohne ein Wort der Rechtfertigung.

„Ich wusste, dass du wieder gehen würdest", erwiderte sie. „Ich hätte aber nicht gedacht, dass du dich wieder nicht verabschieden würdest."

„Vergiss mich."

Ein Stich durchzuckte Primms Brust. Ein Sturm begann in ihr zu toben und Hitze schoss ihr in die Wangen. Er bat nicht, er forderte sie auf.

„Du hältst zu viel von dir", sagte Primm kalt.

Plötzlich durchquerte Aramis mit schnellen Schritten den Raum und kam auf sie zu. Fast schon unsanft packte er ihr Handgelenk und zog sie zu sich. Im nächsten Moment hatte er bereits seine Lippen auf ihre gepresst. Trotz ihrer Wut auf ihn, schmolz sie bei seinem Kuss wie Butter, nachdem sie ihre Überraschung überwunden hatte. Ihr rauschte das Blut in den Ohren. Sie krallte ihre Finger in sein Hemd und ihre Decke glitt von ihren Schultern zu Boden. Sie spürte, wie seine Hände über ihren halbnackten Körper glitten. Primm stöhnte und lehnte den Kopf zurück, als seine Lippen über ihren Hals wanderten und plötzlich, so schnell wie alles gekommen war, war es auch vorbei.

Atemlos drückte Aramis sie von sich. Verwirrt blinzelte Primm ihn an. Er wirkte geschockt und wütend. Der Sturm, der gerade noch in ihr getobt hatte, war nun auch in seinen Augen zu sehen.

„Vergiss mich", sagte er wieder mit härte in der Stimme und fügte dann hinzu: „Ich spüre nichts."

Primm war so verdattert, dass ihr kein Wort der Erwiderung einfiel. Er ließ sie stehen und verließ ihre Hütte, ohne sich noch ein weiteres Mal nach ihr umzusehen.

Der Schock saß tief. Seine Worte hallten wider und wider in ihrem Kopf. Primm fehlte die Erfahrung, aber küsste wirklich so jemand, der nichts spürte?

Hinter ihr wurde die Schlafzimmertür geöffnet. „Ist alles in Ordnung?", fragte Hildas Stimme verwirrt. Sie sah sich um. „Wo ist Aramis?"

„Gegangen", erwiderte Primm knapp. Sie hatte keine Kraft für Tränen, fühlte sich einfach nur leer.

„Was? Einfach so? Dem werde ich was erzählen!"

Hilda wollte wütend an ihr vorbeistürzen, doch Primm schnappte nach ihrer Hand und hielt sie auf. „Lass es. Er kommt wieder."

„Bist du dir sicher?"

„Nein."


Fortsetzung folgt …