Sommerkröten — Juli 1969
Im Nordwesten von England, weit weg von London, brannte die Sonne unbarmherzig auf die dreckigen Straßen nieder und erzeugte so den unverwechselbaren Geruch von Sommer und Ferien. Die Luft war gewittrig und ein kleiner Junge, höchstens neun Jahre alt, mit schwarzen, viel zu langen Haaren, in schäbiger Kleidung, wanderte scheinbar zielstrebig durch die Häuserschluchten.
Er hatte einen Penny gefunden, den er nicht mehr loslassen würde, bis er zu Hause wäre. Ein glänzendes Stück Metall.
In der anderen Hand trug er eine tote Kröte, die er ebenfalls gefunden hatte und der er noch eine besondere Rolle in seiner Privatfehde mit Susan, der verwöhnten Nachbarsgöre, zugedacht hatte.
Susans Eltern besaßen einen Fernseher und Susan bekam alles, was sie wollte. Nun ja, vielleicht nicht ganz alles, aber mehr als Severus bekam. Severus bekam immer nichts.
Die tote Kröte würde sich gut auf Susans Fensterbank machen und wenn Susan sie nicht sofort entdeckte, wovon auszugehen war, dann würde sie in ein paar Tagen einen ganz aparten Duft entwickeln.
Severus feixte.
Er durfte sich nur nicht erwischen lassen. Susan war die Tochter von Niall und dieser wiederum war der allerbeste Kumpel von Severus' Vater. Bei der gesamten Familie handelte es sich um Iren. Das wurde hinter vorgehaltener Hand erzählt als wäre es eine ansteckende Krankheit.
Der Junge wanderte die gepflasterte Straße entlang. Ein alter Gitterzaun trennte die Straße von einem stinkenden, schwarzen Fluss. An der anderen Seite verfielen langsam aber sicher rote Backsteinhäuser. Zugenagelte Fenster und Müll. Gewaltige Fabrikschornsteine ragten auf wie mahnende Finger.
Es war ein vergessener Ort. Selbst die Krauts hatten die alte Arbeitersiedlung bei der Bombardierung von Manchester einfach ausgelassen, dabei war die Flugzeugfabrik ganz in der Nähe.
Das Dröhnen eines LKW-Motors ließ Severus sich ganz an den Rand der Gasse drücken. Scheu sah er sich um. Ein uralter, klappriger Fordson Pritschenwagen hustete sich näher.
Mit einer Fehlzündung kam das Ungetüm neben Severus zum Stehen und die Fahrertür öffnete sich.
Ausgerechnet Niall! Severus' Vater auf dem Beifahrersitz.
„Hey", brüllte Niall, dass der rote Vollbart zitterte. „Steig ein, du halbe Portion! Besser schlecht gefahren als gut gelaufen!"
Severus packte die Kröte und den Penny fester und fügte sich seinem Schicksal, kletterte über Niall, der nach Mottenkugeln und billigem Alkohol roch und wurde von seinem Vater auf den Schoß gezogen.
„Was hast'n da?", fragte sein Vater gleich.
Wortlos zeigte Severus ihm den Penny.
„Neee, die andere Hand ..."
Mit ausdrucksloser Miene hielt Severus ihm die tote Kröte vors Gesicht.
„Brat mir einer'n Storch", röhrte Niall. „Wenn ich die morgen auf meiner Fensterbank finde, dann setzt das was!"
Ruckelnd keuchte sich der LKW weiter am Fluss entlang.
„Wofür brauchst'n die?"
Niall konnte ziemlich penetrant sein. Severus zog es vor, zu schweigen.
Niall bedeutet wolkig, aber auch feurig. Ein Gewittersturm auf zwei Beinen. Das wusste Severus von seiner Mutter.
„Willste Naturforscher werden?"
Der dicke, rothaarige Mann ließ nicht locker und zündete sich eine stinkende Zigarette der Marke Double Happiness an.
Tobias schmunzelte. Er ahnte, was nun kam und er behielt Recht.
„Ich werde Quidditch-Spieler", beteuerte Severus mit todernstem Gesichtsausdruck.
Niall hustete, dass Spucketröpfchen an die Windschutzscheibe sprühten.
„Ey Toby, dein Kleiner ist nicht nur ne halbe Portion, der hat auch ne Meise. Quidditch-Spieler? Was soll das sein? Vielleicht eher Quatsch-Macher ... verkauf den doch an nen Zirkus ..."
Severus drückte sich enger an seinen Vater. Niall würde ihn verkaufen ohne mit der Wimper zu zucken, da war Severus sich ganz sicher. Das war auch gar nicht schlecht. Er würde die nervtötende Susan irgendwann nämlich auch verkaufen. So wie er alles verkaufte und wieder kaufte und alles gebrauchen konnte und in Kellern, Schuppen und Scheunen und in Haufen auf einem brachliegendem Grundstück, lagerte, bevor er es wieder auf den LKW schaffte und irgendwohin fuhr.
Kein Mensch wusste, wozu. Aber er bekam Geld dafür, das er dann beim Wetten auf Hunde oder im nächsten Pub, beim Dart spielen und Saufen verlor.
„Verrat nicht immer alles", flüsterte ihm sein Vater ins Ohr und Severus umklammerte die Kröte so fest, dass er spürte, wie ihr eine Rippe brach. Er würde nichts mehr sagen.
Endlich bogen sie nach Spinner's End ein. Severus rannen Schweißtropfen den Bauch herab. Kitzelnd.
Severus wohnte ganz am Ende der Straße. Das Haus war auch alt und heruntergekommen, aber immerhin hatte es noch richtige Fenster aus Glas. Der kleine Garten jedoch war Geschichte, seit Niall auch hier seinen Kram lagerte. Severus fand das nicht schlimm. Er hatte sich häuslich in einem alten Kleiderschrank, dessen eine Tür schief in den Angeln hing, eingerichtet. Dorthin brachte er jetzt auch erstmal seine Kröte.
„Kommt ihr später auch gucken?", blökte Niall und zündete sich eine Zigarette an der vorigen an. Kein Mensch wusste, warum Niall immer so laut war.
„Ich mag kein Cricket", sagte Tobias leise. Die Halbfinale der Saison standen an und Tobias hielt nichts von Sport, der nicht Fußball hieß.
„Wer spricht denn von Cricket? Die Yankees landen auf dem Mond. Ich will dabei sein, wenn sie auf die Schnauze fallen!"
Niall lachte brüllend und Tobias zuckte mit den Schultern.
Auf dem Mond? Unwillkürlich schaute Severus in den Himmel, von dem aber nur weiterhin unbarmherzig die Sonne brannte.
Als Vater und Sohn das Haus betraten mussten ihrer beider Augen sich erst an das schummrige Halbdunkel gewöhnen. In der Küche saß eine kleine, schwarzhaarige Frau mit groben Gesichtszügen am Tisch, vor sich ein paar kleine Münzen und Scheine. Mit einem Lächeln legte Tobias einen flachen Umschlag dazu und küsste seine Frau auf die Stirn.
„Weißt du, was dein Sohn werden will?"
Abwesend sah Eileen zu, wie Severus seinen Penny auf die Tischkante legte. Sie strich ihm über den Kopf, was Severus hasste und wischte den Penny zu den wenigen anderen Münzen.
„Quidditch-Spieler", spuckte Tobias aus als würde es übel schmecken.
„Aha", sagte Eileen. „Wenn er so klein bleibt, wäre Sucher nicht schlecht."
Severus warf sich in die Brust. Er war nicht kleiner als die anderen Jungs in seinem Alter. Aber Sucher wäre wirklich nicht schlecht.
Der folgende Wutausbruch von Tobias kam wie immer völlig unvermittelt. Mit einem langen Schritt war er bei Severus, packte in bei den Schultern und schüttelte ihn, dass dem Jungen das schwarze Haar um den Kopf flog.
„DU WIRST VERDAMMT NOCHMAL WAS ANSTäNDIGES LERNEN!", brüllte er.
Quidditch ist anständig, dachte Severus und schwieg.
„SCHAU DICH UM UND HöR DIE VERDAMMTE TRäUMEREI AUF!"
Seveus Miene war völlig ausdruckslos. Im Stillen zählte er mit, wie oft das Wort Verdammtin der folgenden Schimpftirade fiel. Als er bei elf angekommen war (das war der dritte Ausbruch in dieser Woche mit mehr als zehnmal Verdammt), krachte Tobias Faust donnernd auf dem Tisch nieder. Severus zuckte. Eileen nicht. Sie zählte mit stoischer Ruhe weiter ihr Geld.
„SCHAU DIR DEINE MUTTER AN! WILLST DU VERDAMMT NOCHMAL SO ENDEN?", und wieder schüttelte er Severus die Knochen durch.
„Er wird einen Besen brauchen", sagte Eileen leise. „Ein Besen ist teuer."
Tobias erstarrte. Er wurde erst blass, dann knallrot im Gesicht. Er ließ Severus los, wie man eine heiße Kartoffel fallen lässt.
Noch einmal schlug er auf den Tisch, dann rannte er mit einem letzten „VERDAMMT!", aus der Küche und dem Haus.
Severus fragte sich einmal mehr, warum seine Eltern ein Kind hatten, wenn sie sich immer nur stritten, wegen ihm.
Eileen sah ihn nicht an und sagte nichts und Severus verzog sich nach draußen in seinen Schrank.
Die Kröte hatte er erst mal ein Stück weit weg, unter ein anderes, zerbrochenes Möbelstück gelegt und nun saß er in der Ecke, die Arme um die Knie geschlungen und stellte sich vor wie er Sucher wäre. Bei den Ballycastle Bats. Die waren toll! Auch wenn sie aus Nordirland kamen. Sie trugen schwarze Umhänge mit einer scharlachroten Fledermaus quer über der Brust. Ihr berühmtes Maskottchen, Barny der Flederhund, machte Werbung für Butterbier.
Als Severus eben ein weiteres Mal den Goldenen Schnatz aus der Luft holte und die jubelnde Menge ihn feierte, trat jemand gegen den Schrank und Severus wurde jäh in die Wirklichkeit zurückgeholt.
Susan stand vor ihm, die rotblonden Haare zu Zöpfen geflochten.
„Was machst'n, du Freak?"
Severus zog eine Augenbraue hoch. Er ging in dieselbe Klasse wie Susan und wenn Ferien waren, wollte er die Kinder aus seiner Klasse nicht sehen. In der Schule wollte er sie auch nicht sehen, aber da kam er nicht drumherum.
„Mein Vater sagt, du hast 'ne Meise", sagte sie altklug.
Na, der musste gerade den Mund auftun, dachte Severus.
„Suuuusan, Abendessen!"
Das war Susans Mutter.
„Tschüss", sagte Susan, drehte sich um und rannte davon. Severus wurde nie zum Abendessen gerufen.
Vielleicht könnte man auch mit einem Besen zum Mond fliegen. Dann wäre Severus auch im Fernsehen oder noch besser, auf der Titelseite des Tagespropheten. Für seinen Vater würde das Fernsehen aber mehr zählen, also wollte Severus doch lieber ins Fernsehen.
Wie dem auch sei – er, Severus Snape – der erste Engländer auf dem Mond. Der berühmte Sucher der Ballycastle Bats auf dem Mond ... der plötzlich ganz aus Käse war ...
Severus erwachte auf dem Arm seines Vaters, der ihn ins Haus trug. Es war Nacht. Severus stellte sich weiter schlafend. Vorsichtig legte Tobias den Jungen ins Bett, zog ihm die Schuhe aus und deckte ihn zu. Er warf ihm einen langen, traurigen Blick zu, bevor er das Zimmer verließ.
Severus drehte sich träge auf die Seite und seine Hand fuhr unter das Kopfkissen.
Etwas hartes, kantiges lag dort. Severus hielt die Luft an und zog das Etwas unter dem Kopfkissen hervor. Es war ein Buch.
Mit einem Ruck setzte er sich auf. Das Licht des Vollmondes tauchte die kleine Kammer in gespenstisches Licht. Es war ein sehr altes, zerlesenes Buch mit einem dunklen Ledereinband.
Quidditch im Wandel der Zeiten
Darunter blitzte ebenso golden wie der Titel, ein einziges Mal nur die spitze Handschrift seiner Mutter auf.
Lass es Deinen Vater nicht sehen!
Severus drückte das Buch an seine Brust wie einen Schatz. Natürlich würde er es niemandem zeigen. Verrat nicht immer alles, hallten die Worte seines Vaters in Severus' Geist nach. Er würde nie mehr etwas verraten, schwor Severus sich so feierlich wie es nur ein Neunjähriger vermag.
Das Buch umklammert unter dem Kissen, so schlief er bald wieder ein.
