Was war passiert? Wo war sie hier? Irgendetwas musste schief gegangen sein. Dieser Raum sah ganz anders aus als der, in dem sie eben noch war. Sie hätte in einem ungenutzten und voll gestellten Klassenzimmer sein sollen. An den Wänden sollten sich Tische und Stühle stapeln. Alte und kaputte Pulte sollten einem den Weg in den Raum versperren. Das Zimmer sollte so voll sein, dass man die gegenüberliegende Wand nicht mehr sehen konnte. Aber hier drin war es viel leerer. Es standen Tische und Stühle sauber in Reihen, wie mit dem Lineal gezogen. An der einen Wand war eine große Tafel mit einem wuchtigen Schreibtisch davor. Es war immer noch ein Klassenzimmer. Aber es wirkte, als würde es genutzt werden. Die Tische sahen nicht sonderlich alt aus. Es lag kein Staub darauf. Es roch nicht muffig.

Was bei Merlins Eiern war passiert? Sie hatte keinen Fehler gemacht. Sie schaute auf den Zeitumkehrer in ihrer Hand. Sie hatte das Stundenglas einundzwanzig Stunden zurückdrehen wollen. Und sie hatte sich weder verzählt, noch war ihr das kleine Stellrädchen aus der Hand gerutscht. Sie hatte keinen Fehler gemacht. Aber sie glaubte auch nicht, dass innerhalb der einundzwanzig Stunden aus einem intakten Klassenzimmer eine Rumpelkammer geworden war. Irgendetwas war schief gegangen. Gewaltig schief gegangen.

Sie schlich sich zum Fenster, das nicht wie vor kurzem noch verhangen war, sondern Licht hereinließ. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel und schien erbarmungslos auf die Schlossgründe hinab. Sie stand nicht viel anders als vorher. Dabei müsste es dämmern, wenn sie einundzwanzig Stunden zurückgereist wäre. Es sollte jetzt etwa neun Uhr am Abend sein. Aber die Sonne stand am Himmel, als wäre es später Nachmittag.

Sie verstand es nicht. Irgendetwas war schief gegangen. Dessen war sie sich jetzt mehr als sicher. Aber was war passiert? Sie musste viel weiter in die Vergangenheit gereist sein, als sie gewollte hatte. Sie versuchte sich daran zu erinnern, ob dieses Zimmer jemals ein genutztes Klassenzimmer gewesen war. Panik stieg in ihr hoch, als sie keine Erinnerung an diesen Raum fand. Es war schon immer eine Rumpelkammer gewesen.

Niemand durfte sie sehen, wie also sollte sie herausfinden, wo sie war? Oder vielmehr, wann sie war? Denn darin war sie sich sicher, sie war nicht da, wo sie hin gewollt hatte. Ratlos sah sie sich in dem Klassenzimmer um, auf der Suche nach irgendeinem Hinweis. Egal wie groß oder klein er sein mochte. Irgendetwas, das ihr half, zu verstehen. Aber es lagen weder Bücher noch Pergamente auf den Tischen. Nichts, dem sie vielleicht einen bekannten Namen hätte zuordnen können. Nichts, an dem sie ein Datum hätte ablesen können.

Sie hielt in der Bewegung inne. Ein Datum! Sie erinnerte sich, dass manche ihrer Lehrer einen kleinen Kalender auf ihrem Pult hatten. Wenn sie Glück hatte, lag auf diesem Lehrerpult auch einer. Wenn sie mit ihrer Einschätzung der Uhrzeit recht behielt, war es kurz vor dem Abendessen und dann würde sie hier erst mal niemand stören.

Aber auch diese Tischplatte war leer. Nicht einmal eine Feder oder ein Tintenfässchen standen darauf. Die Schubladen waren leer. Entmutigt ließ sie sich auf den Stuhl dahinter fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Was sollte sie denn jetzt tun?

Sie durfte nicht gesehen werden. Sie durfte mit niemanden reden. Das hatte man ihr erst vor kurzem wieder eingetrichtert, als man ihr den Zeitumkehrer ausgehändigt hatte. Wie sollte sie etwas herausfinden, wenn sie nicht auf den Gängen gesehen werden durfte? Und weil sie keine Ahnung hatte, welcher Tag es war, musste sie irgendwann aus diesem Klassenzimmer raus. Spätestens morgen früh, aber besser noch so schnell wie möglich. Sie wusste, dass manche Lehrer nach dem Abendessen noch Aufsätze in ihren Unterrichtsräumen oder Büros korrigierten. Und sie wusste nicht, wer in diesem Raum unterrichtete. Vielleicht würde nach dem Essen auch noch eine Strafarbeit in diesem Zimmer stattfinden. Alles war möglich, das bedeutete, sie musste hier raus, schließlich wusste sie nicht, welcher Tag es war und das Risiko, an diesem Ort gesehen zu werden, war viel zu groß. Aber wo sollte sie hin?

Sie strich sich mit den Händen über das Gesicht und durch die Haare. Ihre Finger verhakten sich in ihren buschigen Locken. Sie fühlte den Drang, ihre Hand um die Haarsträhnen zu legen und kräftig daran zu ziehen, um aus diesem Albtraum aufzuwachen. Eine einzelne Träne lief ihre Wange hinab und sie wischte sie energisch weg, schniefte einmal und atmete dann mehrmals tief durch, um nicht den Verstand zu verlieren.

Sie konnte hier nicht bleiben, das stand fest. Daher wäre es vielleicht am besten, wenn sie erst mal an ihrem ursprünglich gefassten Plan, in den Raum der Wünsche zu gehen, festhalten würde. Sie hatte überprüfen wollen, ob das Dämonsfeuer den Raum tatsächlich vollständig zerstört hatte. Wenn das nicht der Fall wäre, hatte sie dort ihre einundzwanzig Stunden verbringen wollen. Und jetzt brauchte sie einen Raum, in dem sie unterkommen konnte, bis sie wusste, wie sie weiter vorgehen würde. Etwas Besseres fiel ihr momentan eh nicht ein. Sie war viel zu aufgewühlt, um auch nur annähernd konzentriert nachdenken zu können.

Sie stand auf, versuchte sich einzureden, dass schon alles gut werden würde. Mit Sicherheit war es nur halb so schlimm und schon morgen würde sie darüber mit Harry und Ron im Gemeinschaftsraum lachen und Ron würde sagen: 'Siehst du, Hermine, wenn du nicht so viel lernen würdest, wäre dir so was nie passiert, weil du das blöde Ding nicht bräuchtest!' Sie konnte ihn schon jetzt hören, sah sein Gesicht, das ihr lachend und fröhlich entgegen schaute. Er würde Harry ansehen und dieser würde ihm grinsend beipflichten. Dann würden sie sie in den Arm nehmen und sagen: 'Sieh es als Zeichen, Mine. Wähl ein paar Fächer ab, dann hast du genug Zeit!'

Sie seufzte, als sie sich die Szene vorstellte und ein kleines Lächeln huschte über ihre Lippen. Sie liebte diese beiden Chaoten. Und sie hätten damit recht. Das Schuljahr würde morgen erst richtig beginnen, vielleicht sollte sie vor Unterrichtsbeginn zu Professor McGonagall gehen und ihr den Zeitumkehrer zurückgeben. Sie könnte an der Universität eh nur ein Haupt- und vielleicht zwei Nebenfächer belegen. Den Rest würde sie nicht mehr brauchen.

Sie ging zur Tür und versuchte zu lauschen, ob sie Geräusche vom Gang hören konnte. Aber es war alles still. War die Tür dick genug, um alle Geräusche zu filtern, oder war einfach nur niemand auf dem Flur? Sie schob die Tür leise einen Spalt auf und lugte hinaus. Es war niemand zu sehen, weder rechts noch links. Sie trat vorsichtig aus dem Raum, schloss die Tür, wandte sich nach links und schlich zu der Wand, hinter der der Raum der Wünsche lag. Als sie davor stand, überlegte sie, ob sie sich einen Kalender im Raum wünschen konnte. Sie beschloss, dass ein Versuch nicht schaden konnte. Sie ging dreimal an der Wand auf und ab und wünschte sich mit aller Verzweiflung, die sie aufbringen konnte – und in ihrer Situation war es viel – ein Versteck in dem sie ein paar Tage würde unterkommen können und in dem ein Kalender hing.

Als sie die Augen wieder öffnete, war eine Tür in der Wand erschienen. Sie atmete noch einmal tief durch, bevor sie die Klinke herunter drückte und den Raum betrat. Wohlige Wärme schlug ihr entgegen. Sie hörte ein leises Knistern und das Licht flackerte an den Wänden. Sie schloss die Tür hinter sich und sah sich dann genauer um. An der rechten Wand war ein großer Kamin, in dem ein Feuer prasselte. Davor stand auf einem flauschigen, dunkelbraunen Teppich ein kleiner Tisch mit einem Sofa und zwei Sesseln. An der Wand geradeaus stand ein großes Himmelbett aus dunklem Holz, mit hellen, gelben Laken bezogen. Links war ein kleiner, abgetrennter Bereich, an dessen Wand ein großer Schrank aus demselben Holz wie das Bett stand. Die Wände waren hell und kahl. Hinter dem abgetrennten Bereich fand sie eine Dusche, ein Waschbecken und eine Toilette. Der Raum der Wünsche hatte ihr ein wirklich gemütliches Versteck geschaffen und sie musste ihn noch nicht mal verlassen, um sich zu waschen oder ihre Notdurft zu verrichten. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Aber sie sah keinen Kalender. Es hätte ja auch zu schön sein können, wenn sie jetzt wüsste, welcher Tag es war. Seufzend ging sie weiter in den Raum hinein und drehte sich langsam um sich selbst, alles erneut betrachtend.

Da! Sie stoppte abrupt. Neben der Tür hing etwas an der Wand! Sie hoffte so sehr, dass es ein Kalender war und ging darauf zu. Ihr Herz machte einen Satz, als sie erkannte, dass es tatsächlich einer war. Der erste September war rot eingekreist.

Aber das konnte doch gar nicht sein! Das würde ja bedeuten, dass sie gar nicht durch die Zeit gereist war. Denn heute war der erste September! Sie legte den Kopf schief. Das… nein! Heute war ein Dienstag. Laut dem Kalender war es ein Donnerstag. 'Oh nein, oh, nein!', dachte sie panisch. Sie sah auf das Jahr und ihre Augen wurden immer größer. Das durfte nicht wahr sein! Das konnte nicht wahr sein! Das war unmöglich! Wenn das stimmte, dann hatte sie nicht nur ein gewaltiges Problem, dann war sie am Arsch!

Es war der erste September.

Im Jahr 1977!

——————————————————

Nächstes Kapitel:

Sie kennen das Prozedere