Hermine ließ sich entkräftet zu Boden sinken und schlug die Hände vors Gesicht. Verzweifelt fragte sie sich, wie das hatte passieren können. Dass das Schloss ihr einen Streich spielte, schloss sie kategorisch aus. Wenn auf dem Kalender stand, dass es das Jahr 1977 war, dann war dem auch so. Sie schluchzte laut auf. Die ersten Tränen rannen durch ihre Finger. Wie konnte das passieren? Wie waren aus einundzwanzig Stunden einundzwanzig Jahre geworden? Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Das konnte nicht wahr sein! Sie konnte ja auch nicht einfach den Zeitumkehrer in die andere Richtung drehen, um wieder in ihre Zeit zu kommen. Die Dinger funktionierten nur in eine Richtung, nämlich zurück! Was sollte sie bloß tun? Sie konnte ja schlecht einundzwanzig Jahre im Raum der Wünsche verbringen! Und vor allem, was sollte sie dann tun? Sie konnte nicht einfach in einundzwanzig Jahren hier raus kommen und zu Harry und Ron gehen und fragen, wie die Willkommensfeier war! Sie würde dann neununddreißig sein! Sie war ja jetzt noch nicht mal geboren! Das würde sie erst in zwei Jahren! Verzweifelt schlug sie mit den Fäusten auf den Boden, bis sie kraftlos zusammen sackte und die Beine an den Körper zog. Weinend lag sie auf dem Fußboden, nicht wissend, wie es weitergehen sollte.

Die ganze Nacht blieb sie zitternd dort liegen. Nach mehreren Stunden stand sie wackelig auf und schlich in die Nische, ihre Blase drückte und sie musste etwas trinken. Irgendwann in der Nacht waren ihre Tränen versiegt, aber dennoch war sie liegen geblieben. Sie sah keinen Sinn darin, sich ins Bett oder auf das Sofa zu legen. Sie fragte sich die ganze Zeit, womit sie das verdient hatte. Warum war sie hier? War der Zeitumkehrer kaputt? War sie deswegen Jahre anstatt Stunden in die Vergangenheit gereist? Sie hatte doch nur noch etwas Ruhe haben wollen, bevor das letzte Schuljahr losgehen würde.

Sie wusch sich die Hände, nachdem sie auf der Toilette war. Dann trank sie ein paar Schlucke aus dem Hahn und setzte sich in einen Sessel. Der Kamin hatte die ganze Nacht über gebrannt und auch jetzt sah es nicht danach aus, als würde das Feuer schwächer werden. Sie starrte in die Flammen, als sie versuchte, logisch über ihre Situation nachzudenken. Wie war sie hier gelandet?

Sie hatte Ruhe gewollt. Sie hatte von neun Uhr am Vorabend, bis die Schüler am nächsten Tag im Schloss eintreffen würden, alleine sein wollen. Einundzwanzig ruhige Stunden im nahezu leeren Schloss, bevor der Schulalltag losgehen würde.

Sie hatte seit der letzten Schlacht keine wirkliche Ruhe mehr gehabt. Nachdem Voldemort gefallen war und man sich daran machte, die nicht direkt geflohenen Todesser gefangen zu nehmen, hatte sie begonnen, sich mit anderen zusammen um die Gefallenen auf der Seite des Ordens zu kümmern. Sie zog leblose Körper unter Trümmern hervor und ließ sie in die Große Halle schweben, damit sie aufgebahrt werden konnten. Mit jedem Toten mehr verdrängte sie ihre eigene Trauer um die Gefallenen weiter nach hinten, bis sie den Schmerz nicht mehr spürte. Sie lief sogar zusammen mit Harry und Ron in die Heulende Hütte zurück, um den Leichnam Severus Snapes ebenfalls in die Große Halle zu bringen. Hätte Harry nicht an ihren ehemaligen Lehrer gedacht, dann hätte man ihn vielleicht dort vergessen und erst sehr viel später geborgen. Hermine zumindest hatte keinen Gedanken an den Mann verschwendet. Harry hatte ihr und Ron dann von den Erinnerungen des Toten erzählt. Er ratterte alles herunter, das ihm im Gedächtnis geblieben war. Als Hermine mit ihm darüber hatte sprechen wollen, nachdem er geendet hatte, hatte der Schwarzhaarige gesagt, dass er es ihnen erzählt hatte, damit sie die ganze Wahrheit kannten, aber er wolle jetzt am liebsten nur noch vergessen.

Als sie mit Snape wieder im Schloss waren, machte Hermine sich daran, Madam Pomfrey zur Hand zu gehen. Sie kümmerte sich zusammen mit Luna und Professor Sinistra darum, kleinere Verletzungen zu behandeln. Sie heilte Schnitte, trug Diptam auf nur oberflächliche Wunden auf und half schwerer Verletzte nach Dringlichkeit zu sortieren, damit man sich bestmöglich um sie kümmern konnte. In den nächsten zwei Tagen tat sie nichts anderes, genauso wie die meisten der Überlebenden. In dieser Zeit schlief sie auch nicht viel. Sie konnte einfach nicht. Sie hatte Angst vor den Träumen.

Als es ruhiger wurde, die Verletzten versorgt, die Toten geborgen waren und man begann die Trümmer zu räumen, ging sie mit zu den Weasleys. Nach Hause konnte sie nicht, sie hatte keins mehr, seit sie ihren Eltern die Erinnerung genommen hatte. Sie hatte eigentlich gehofft, jetzt mehr Zeit mit Ron und Harry zu verbringen und vielleicht mit beiden über das letzte Jahr sprechen zu können, aber Harry wollte nicht und zog sich ständig in Rons Zimmer zurück und Ron machte den Eindruck, als ob er nicht wusste, wie er mit ihr umgehen sollte. Er schlich um sie herum, aber traute sich nicht, sie zu berühren, als hätte es den Kuss nie gegeben. Und wenn sie mit ihm über das Erlebte sprechen wollte, sagte er nur immer, dass sie froh sein sollte, dass es endlich vorbei sei.

Nach ein paar Tagen versuchte sie nicht mehr anzusprechen, was ihr auf dem Herzen lag, stattdessen schob sie es weit nach hinten und half den Weasleys, die in tiefer Trauer um den gefallenen Sohn und Bruder waren. Freds Tod war ein tragischer, einer, der nicht hätte sein müssen. Sie brachte ihnen Tee und Decken und bot ihnen eine Schulter zum Ausweinen und Anlehnen. Obwohl es im Haus stiller war als sonst, empfand Hermine es nicht als ruhig.

Molly hatte der Tod ihres Sohnes am schwersten getroffen. Meistens saß sie mit einem Tee in eine Decke gewickelt auf einem der beiden Sofas im Wohnzimmer. Ginny war viel bei Harry und ließ sich von ihm trösten. Bill und Arthur kümmerten sich um Freds Beerdigung. Charlie kümmerte sich um George und Percy war die meiste Zeit im Ministerium, um dort dabei zu helfen, das Chaos zu beseitigen, das die Todesser hinterlassen hatten. Also sorgte Hermine zusammen mit Fleur für alles andere. Sie machten Essen, kochten Tee, sortierten die Post – es war erstaunlich… Jeden Tag trudelten mehr und mehr Eulen ein. Harry, Ron und Hermine bekamen dutzende Interview Anfragen, Harry erhielt, wie sollte sie es nennen? Fanpost war wohl der beste Ausdruck, wenn auch nicht ganz stimmig. Sie selbst bekam sogar Heiratsanträge! Manche erdreisteten sich auch, Heuler zu schicken. Jeder von ihnen hatte schon welche bekommen. Manche waren sogar Liebesgedichte, die in einem schiefen Singsang schreiend vorgetragen wurden. Irgendwann warfen sie die Briefe, deren Absender sie nicht kannten oder solche, die gleich ohne Absender kamen, direkt ungeöffnet ins Feuer im Kamin. Die Heuler explodierten dabei regelmäßig, dass die Funken bis auf den Teppich stoben. Aber wenigstens behielten sie ihren Inhalt für sich. Hermine nickte jedes Mal befriedigt, wenn wieder einer dieser Dinger in die Luft ging. Harry hatte dafür nur einen müden Blick über.

Einmal hatten sie zusammen vorm Kamin gestanden, während Hermine genüsslich die Briefe einen nach dem anderen ins Feuer warf, und er hatte zu ihr gesagt: »Ich hasse diesen Rummel. Können die uns nicht einfach in Ruhe lassen? Wenn sie mal selber ihren Hintern hoch bekommen hätten, wäre vielleicht nicht alles an uns hängen geblieben. Ich will kein Held sein. Ich will nicht der Junge, der lebt sein. Ich will einfach nur Harry sein.«

Und sie hatte ihn verstanden. Sie hatte ihn umarmt und geflüstert: »Irgendwann wird es besser werden.« Danach hatte sie die restlichen Briefe ins Feuer geworfen und war wieder in die Küche gegangen.

Wenn dann nichts mehr zu tun war, tröstete sie, wo Trost gebraucht wurde. Abends saßen sie meist still im Wohnzimmer. Fleur lehnte an Bills Schulter, Harry und Ginny hielten sich im Arm, Arthur saß bei Molly. Charlie und George hatten auf einem Sofa Platz genommen und starrten die Wand an. Hermine setzte sich dann meistens vor Rons Sessel auf den Boden und versank in ihren Gedanken. Nur um kurz darauf wieder aufzuspringen, um mehr Tee zu kochen und in die Küche flüchten zu können. Sie hielt es nicht aus. Und gleichzeitig erlaubte sie sich ihre eigene Trauer nicht, denn irgendjemand musste sich ja kümmern, wenn es sonst keiner tat.

Auf Freds Beerdigung kam Ron endlich auf Hermine zu. Als sie vor dem Grab standen, griff er nach ihrer Hand und hielt sie fest. Hermine lächelte ihn leicht an, woraufhin Ron ihre Hand kurz drückte und dann nicht mehr losließ. So etwas wie Erleichterung machte sich in ihr breit und sie hoffte, dass jetzt alles besser werden würde.

Nach der Beerdigung wurde es etwas einfacher im Hause der Weasleys. Es kam wieder mehr Leben in die Familie. Nach einer Woche kehrten Bill und Fleur nach Hause zurück. Charlie ging wieder nach Rumänien ins Drachenreservat. Und Hermine und Ron näherten sich immer weiter an. Häufig saßen sie abends zusammen und er hatte seinen Arm um sie gelegt. Wenn sie alleine waren, küsste er sie ab und zu.

Da jetzt wieder mehr Platz im Haus war, bekam Hermine das alte Zimmer von Bill und Harry zog in Charlies altes Zimmer. Trotzdem waren sie meist zu viert in Rons Zimmer. Ginny und Harry saßen auf dem Boden und Ron und Hermine auf dessen Bett. Sie redeten viel, aber nie über die Schlacht oder die Zeit davor. Sie tauschten sich darüber aus, was im Ministerium passierte, oder über ihre Vorstellungen, wie es nach der Schule weiter gehen sollte. Harry und Ron wollten immer noch Auroren werden. Ginny hoffte, irgendwann professionell Quidditch zu spielen und Hermine wollte studieren. Sie würde später gerne im magischen Recht arbeiten wollen, ob für das Ministerium oder in einer privaten Kanzlei wusste sie noch nicht.

Sie redeten darüber, wie das Schloss wohl aussehen würde, wenn die Schule losging. Würde es wieder aussehen wie früher? Oder würde man sehen, an welchen Stellen es zerstört worden war? Welche Lehrer würden zurückkehren? Wie würden die neuen Lehrer sein? Aber sie waren sich alle vier darin einig, dass sie es zum besten Jahr ihrer Schulzeit machen würden. Es gab keinen Voldemort mehr, keine direkte Bedrohung von außen und nichts, das ihnen das Schuljahr schwer machen konnte. Kein Stein der Weisen, keine Kammer des Schreckens, keine Dementoren, kein Trimagisches Turnier, keine Horkruxe mehr und vor allem keine Dolores Umbridge. Ein Schuljahr, das so normal wie möglich sein konnte. Sie könnten hoffentlich einfach nur Schüler sein, wie jeder andere auch, und ihren Abschluss machen.


Die Zeit floss träge dahin, ab und zu kam Besuch und eines Tages erschien sogar der kommissarische Zaubereiminister Kingsley Shacklebolt. Er sprach allen sein Beileid aus und bat darum, mit Harry, Ron und Hermine alleine reden zu dürfen. Es war kein langes Gespräch. Shacklebolt war sich darüber im Klaren, dass sie alle ihren Frieden wollten, aber er sagte ihnen, dass sie im Rahmen einer Feier mit dem Orden des Merlin erster Klasse ausgezeichnet werden würden. Und er legte ihnen nahe, der Presse wenigstens ein Interview zu geben, damit die Geier sie danach hoffentlich in Ruhe lassen würden. Die drei Jugendlichen versprachen darüber nachzudenken, woraufhin der Minister sich verabschiedete.

Einen Monat nach der Schlacht entschied George, dass er den Laden wieder öffnen würde. Ron war davon sehr begeistert und bot seine Hilfe an, solange die Schule noch nicht begann. Harry, Hermine und Ginny blieben im Fuchsbau, wenn Ron George in die Winkelgasse begleitete.

Während dieser Zeit fand auch die Feier zum Sieg über Voldemort statt. Orden des Merlin wurden verteilt und in Empfang genommen und Harry, Ron und Hermine gaben gemeinsam ein einziges Interview. Sie hatten sich den Klitterer ausgesucht, da zum einen Lunas Vater die Zeitung herausgab und dies zum anderen das einzige Blatt war, das niemals Lügen über Harry und die Geschehnisse der letzten Jahre verbreitet hatte. Außerdem hatten sie vom Klitterer nie auch nur eine Anfrage bekommen. Am Ende des Interviews baten sie darum, dass von weiteren Anfragen abzusehen sei und die Menschen sich bitte mit ungebetener Post zurückhielten.

Es dauerte noch einige Zeit, aber dann wurden die Eulen tatsächlich weniger. Die Menschen begannen anscheinend, sich wieder anderen Dingen zuzuwenden.

Die Beziehung zwischen Ron und Hermine wurde immer inniger. Sie lagen abends meistens noch eine Zeit lang gemeinsam in Rons Bett und kuschelten, bis Hermine irgendwann doch aufstand und in ihr Zimmer ging. Sie wollten es vermeiden, dass man sie zusammen in einem Bett erwischte.

Mitte August hatten die vier das Haus für zwei Tage für sich. George war wieder in die Wohnung über dem Laden gezogen und Mister und Misses Weasley wollten das Wochenende bei Bill und Fleur in Shell Cottage verbringen.

Die vier kochten und aßen gemeinsam. Sie gingen spazieren, saßen abends lange im Garten und genossen das schöne Wetter. An diesem Wochenende schliefen Ron und Hermine miteinander. Sie empfand es als schön, wusste aber gleichzeitig nicht, warum immer so ein Aufheben um Sex gemacht wurde. Aber vielleicht würde es noch besser werden. Schließlich war es für sie beide das erste Mal gewesen.


Als der erste September näher rückte, trafen auch die Briefe aus Hogwarts ein. Hermine hatte zwei Fächer mehr belegt als die anderen drei, wodurch ihre Bücherliste etwas länger war als die ihrer Freunde. Neben Verwandlung, Zauberkunst, Zaubertränke, Kräuterkunde, Geschichte der Zauberei und Verteidigung gegen die dunklen Künste belegte sie zusätzlich noch Alte Runen, Arithmantik und Astronomie. Ginny würde ihr in Arithmantik Gesellschaft leisten. Während die Jungs nur Pflege magischer Geschöpfe gewählt hatten. In den Hauptfächern würden sie alle vier Unterricht haben. Nur Ginny hatte keine Geschichte der Zauberei belegt.

Ihr war bewusst, dass sie dadurch neben dem Unterricht nicht viel freie Zeit zum Lernen und Wiederholen haben würde, aber mit einem strukturierten und gut ausgearbeiteten Lernplan würde sie es schon schaffen.

Eine Woche vor Schulbeginn machten sie sich auf in die Winkelgasse, um alle benötigten Bücher und fehlenden Utensilien für ihr letztes Schuljahr einzukaufen. Hermine vertrieb sich noch ein bisschen Zeit bei Flourish & Blotts, während Harry, Ron und Ginny bei Qualität für Quidditch waren. Sie wollten sich später bei George im Laden treffen.

Nachdem sie alles erledigt hatten und sich noch einige Zeit bei Weasleys Zauberhafte Zauberscherze umgesehen hatten – Ron hatte ihnen viele der Scherzartikel zeigen wollen – machten sie sich auf den Weg zurück in den Fuchsbau. Als sie dort wieder eintrafen, wartete bereits Professor McGonagall in der Küche auf sie. Sie bat Hermine um ein Gespräch unter vier Augen und alle anderen verließen daraufhin die Küche, aber nicht, ohne einen neugierigen Blick auf ihre Professorin zu werfen.

Die Schulleiterin erzählte Hermine, dass sich die diesjährige Stundenverteilung schwieriger gestaltete als die anderen Jahre und es somit unvermeidlich gewesen wäre, dass sich einige von Hermines Stunden überschneiden würden. Alte Runen würde zeitgleich mit Kräuterkunde stattfinden und Arithmantik läge im selben Stundenblock wie Geschichte der Zauberei. Diese Konstellation würde es Hermine unmöglich machen, alle gewählten Fächer zu besuchen. Geschuldet war dieser Umstand dem, dass in diesem Jahr der erste Jahrgang deutlich größer sein würde, da alle Schüler, die unter Voldemort nicht hatten eingeschult werden können, dieses Jahr eingeschult werden würden. Die Klassen würden zu groß werden, wenn weiterhin zwei Häuser zusammen Unterricht hätten. Der erste Jahrgang würde somit getrennten Unterricht nach Häusern erhalten, was die benötigte Stundenanzahl erhöhen würde. Dies führe zu Komplikationen bei der Stundenverteilung der oberen Jahrgänge. Bei dieser Stundenverteilung würde es insgesamt fünf Schüler in den letzten beiden Jahrgängen geben, bei denen sich Stunden überschnitten. Hermine wäre eine davon. Mit den andern hätte sie schon gesprochen und diese hätten zähneknirschend entschieden, welches Fach, der sich überschneidenden, sie abwählen würden, damit ihr Stundenplan funktionieren würde.

Hermine war geknickt. Sie konnte zwar verstehen, warum sich Stunden bei ihr überschnitten, aber sie wollte trotzdem keines der Fächer abwählen.

Während sie überlegte, was sie tun sollte, holte Professor McGonagall eine kleine Schachtel aus ihrer Umhangtasche. »Ich habe mir schon gedacht, dass Sie keines der Fächer aufgeben wollen. Und deswegen möchte ich Ihnen ein anderes Angebot machen.« Hermine merkte auf, als die Professorin weiter sprach. »Sie kennen das Prozedere. Ich war so frei, erneut einen Zeitumkehrer für Sie zu beantragen und er wurde bewilligt. Wenn Sie also wirklich keines der Fächer abwählen wollen, würden sie so an jedem Unterricht teilnehmen können. Ich weiß, dass Sie in ihrem dritten Jahr sehr verantwortungsvoll damit umgegangen sind und vertraue auch jetzt wieder darauf.«

Hermines Augen wurden groß und sie begann zu lächeln. »Ich würde wirklich ungern eines der Fächer abwählen.«

»Dann soll es so sein. Der Zeitumkehrer ist aber wirklich nur für die Schulstunden gedacht. Keine zusätzliche Zeit zum Lernen. Und ich muss Sie nochmals ausdrücklich auf die geltenden Regeln für Zeitreisen hinweisen.« Professor McGonagall händigte ihr die kleine Sanduhr aus und ermahnte sie, dass sie nicht gesehen werden durfte und schon gar nicht sich selbst über den Weg laufen dürfe. Eine Stunde, eine Umdrehung. Nachdem sie alles mit Hermine besprochen und sie zum Schluss ein weiteres Mal auf die Regeln hingewiesen hatte, verabschiedete Professor McGonagall sich.


Die restliche Woche ging schnell vorbei und bald saßen sie im Zug auf dem Weg nach Hogwarts. In Hermine hatte sich freudige Erregung, aber auch Wehmut und Trauer bereit gemacht. Sie würde endlich das Schloss wieder sehen. Den Ort, an dem sie zwar gegen Voldemort gesiegt hatten, aber auch so viele Menschen ihr Leben lassen mussten. Konnte sie tatsächlich einfach so wieder zur Schule gehen? Wie würde es sein, würde man den Gefallenen im Schloss gedenken, oder würde es wie gewöhnlich weiter laufen und sie im Alltagstrott der letzten sechs Jahre versinken? Würde alles wieder über sie hereinbrechen? Sie hatte nie darüber gesprochen, was sie am zweiten Mai alles erlebt, was sie im Jahr davor durchgemacht hatte. Sie hatte es weggeschoben. Würde es ihr jetzt zum Verhängnis werden? Sie fürchtete sich davor. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, zur Schule zurückzukehren. Vielleicht hätte sie auch einfach das Jobangebot des Ministeriums annehmen sollen.

Wie würde die Willkommensfeier am Abend werden? Könnte sie es ertragen? Vielleicht war es ein Fehler gewesen, erst zum Schulbeginn ins Schloss zurückzukehren. Sie dachte darüber nach, dass es möglicherweise gut gewesen wäre, schon vorher einmal nach Hogwarts zu kommen, um sich die Zeit zu nehmen, zu trauern und zu verarbeiten. Das Schloss zu sehen. Zu erkennen, dass es endlich vorbei war. Zu begreifen, dass Voldemort nie wieder kommen würde. Zu verstehen, was dort passiert war. Konnte sie das einfach übergehen und sich als einfache Schülerin an ihren Haustisch setzen, dem Lied des Sprechenden Hutes lauschen und dann das Festmahl genießen, als wäre nichts gewesen?

Nein, das würde sie nicht können. Sie brauchte Zeit. Um zu gedenken, um sich bewusst zu werden. Sie beschloss, dass sie ihren Zeitumkehrer ein einziges Mal quasi unerlaubt nutzen würde. Sie brauchte Zeit allein im Schloss. Sie entschied, dass sie sich direkt nachdem sie in der Schule angekommen waren, von den anderen davonschleichen wollte, um den Zeitumkehrer zu nutzen. Neun Uhr am Vorabend wäre eine gute Zeit. Sie könnte durch die Flure des leeren Schlosses laufen, ohne gesehen zu werden. Das wären rund einundzwanzig Stunden um 'anzukommen'. Dann würde es Nacht sein und die Chance, dass sie jemandem begegnete, so gering wie möglich. Aber wo sollte sie danach hingehen? War der Raum der Wünsche vielleicht noch intakt? Wie groß war die Zerstörung des Dämonsfeuers? Sie wusste, dass es einige ungenutzte Klassenzimmer auf dem Gang im siebten Stock gab. Sie würde sich dorthin zurückziehen und nachdem sie die einundzwanzig Stunden Zeit hatte, würde sie schauen, ob der Raum der Wünsche noch existierte. Wenn nicht, würde sie schon einen anderen Platz finden, an dem sie niemand sah.


Und dann war alles schief gegangen. Sie war plötzlich einundzwanzig Jahre in der Vergangenheit gelandet und saß nun hier im Raum der Wünsche und wusste weder ein noch aus. Was sollte sie bloß tun? Es lagen zwanzig Jahre vor ihr. Genauer, einundzwanzig einsame Lebensjahre. Was würde Ron denken, wenn sie plötzlich zwanzig Jahre älter vor ihm stehen würde?

Sie wurde immer verzweifelter. Sie musste mit jemandem reden. Sie brauchte ganz klar Hilfe, sie wollte hier keine zwanzig Jahre festsitzen. Vermutlich wäre es das Beste, wenn sie versuchte, mit Professor Dumbledore zu sprechen. Vielleicht konnte er ihr helfen. Und wenn nicht, konnte er ihr bestimmt sagen, was sie tun sollte. Diese ganze Situation überforderte sie. Sie hatte außerdem keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, seit sie hier angekommen war. War es ungefährlich, wenn sie jetzt durchs Schloss ging? Oder sollte sie noch warten? Wenn sie doch bloß eine Uhr hätte… möglicherweise klappte es ja? Sie kniff die Augen fest zusammen und wünschte sich eine Uhr an der Wand.

Nachdem sie die Lider wieder öffnete, seufzte sie erleichtert auf. Über dem Kamin war eine Uhr erschienen. Viertel nach sechs. Sollte sie es wagen und jetzt versuchen, zu Dumbledores Büro zu kommen? War es morgens oder abends? Heute war Freitag. Das bedeutete, es wäre Unterricht und die Schüler würde zeitig zum Frühstück gehen, aber noch nicht zu dieser frühen Stunde. Sie war sich schließlich nicht einmal sicher, ob das Frühstück um diese Zeit schon bereit wäre. Sie wollte ungern bis zum Abend warten. Je eher sie mit Dumbledore sprach, desto früher würde sie Hilfe erhalten. Sie würde nur verrückt werden, wenn sie länger wartete. Wenn es jedoch Abend wäre, dann wäre das Risiko gesehen zu werden viel größer. Dann sollte sie bis nach der Sperrstunde warten, um zu Dumbledore zu gelangen. Sie musste ein Fenster finden.

Sie stahl sich auf den Gang hinaus und sah sich nach allen Richtungen um. Der Flur war verlassen. Sie schlich zum Klassenzimmer, in dem sie gestern gelandet war. Das Fenster ging nach Westen, wenn es also hell war, sie die Sonne aber nicht sah, war es morgens. Und genau das stellte sie kurze Zeit später fest.

Jetzt musste sie es nur noch schaffen, unentdeckt zum Büro des Schulleiters zu kommen. Gang für Gang und Treppe für Treppe schlich sie durch das Schloss. Sie kam sich dabei vor, als wäre sie verbotener Weise nach der Sperrstunde unterwegs. Die Gänge waren ihr so vertraut. Sie glaubte fast, dass ihr jeden Moment Harry und Ron entgegenkämen und sie lachend in den Arm nehmen würden. Wieder liefen ihr die Tränen die Wangen hinab. Was, wenn es keine Lösung gab? Wenn sie die nächsten zwanzig Jahre wirklich einsam und alleine verbringen müsste? Das würde sie nicht aushalten können.

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Nächstes Kapitel:

Ich bin eine Gryffindor