Der Meister der Zaubertränke

Severus war müde. Es war eben erst Donnerstag. Noch nicht besonders spät am Abend. Er saß in seinem Wohnzimmer, welches er seit Charitys Besuch mit anderen Augen sah. Vielleicht sollte er zumindest ein Bild aufhängen, oder sich wenigstens einen Sessel vor den Kamin stellen. Irgendwas.
Er saß am Tisch, in seiner Robe und hatte zusätzlich eine Wolldecke über den Schultern liegen. Es war sehr warm im Raum, der Kamin brannte lodernd. Severus fröstelte. Er hatte einen Stapel Bücher vor sich liegen. Er musste sich etwas für den Stein ausdenken und er hatte nicht den Hauch einer Idee. Er konnte sich auch nicht konzentrieren. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab. Er schlief schlecht und das Unterricht erteilen strengte ihn an. Man musste seine Augen wirklich überall haben.
Trotzdem waren in der heutigen Doppelstunde für die Zweitklässler vier Kessel geschmolzen. Das war wirklich Rekord.

Gequält ließ er den Kopf auf die Arme sinken.
Beinahe wäre er eingeschlafen, doch ein Klopfen an der Tür ließ ihn hochfahren. Bestimmt irgendwelche Schüler, irgendein Streit, Heimweh, ach er hatte es ja so satt. Und es fing eben erst an. Er rappelte sich hoch, wobei er ein leichtes Schwindelgefühl ignorierte.

In seinem Büro war es eiskalt. Severus setzte sich hinter seinen Schreibtisch, nahm zuerst eine Schreibfeder zur Hand und sprach dann eine kurze Beschwörung und ein gedehntes "Herein".
Die Tür schwang auf und eine fröhlich lachende Charity Burbage mit einem Korb unter dem Arm rauschte einfach an ihm vorbei, in sein Wohnzimmer.
Sie räumte die Bücher zur Seite. Severus folgte ihr schweigend und ungläubig, nachdem er die Tür zum Gang wieder versiegelt hatte. Mit vor der Brust verschränkten Armen beobachtete er, wie sie Wein und Gläser und Brot, Käse und Trauben auspackte. Die Gläser mit dem Wein füllte und sich dann auf einen der Stühle fallen ließ.
"Tritt doch ein", sagte Severus leicht ungehalten.
Charity prostete ihm zu.
"Wir müssen uns noch was für den Stein ausdenken", sagte sie fröhlich, "Setz dich doch."
Severus schnaubte unwillig.
"Was bitte heißt in dem Zusammenhang WIR?"
"Na, wir beide", antwortete Charity etwas undeutlich mit ein paar Trauben im Mund und holte eine bunte Zeitung hervor.

Zauberhafte Logikrätsel

Es war eine Muggelzeitung. Severus stöhnte. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein.
Leider stellte sich recht schnell heraus, dass es tatsächlich ihr Ernst war und zwar ihr voller Ernst.
"Die meisten Zauberer haben nicht für eine Unze Logik im Kopf", erklärte sie aufgeräumt und Severus konnte ihr nicht widersprechen.
"Außerdem ist hier eine Hitze drin, dass man kaputtgeht", und im nächsten Moment saß sie nur noch mit Bluse und Rock bekleidet, kippelte mit dem Stuhl und schüttete mehr Wein in sich hinein.
"Setz dich doch", ölte Snape mit wachsendem Unmut.
Charity schien völlig immun gegen derartig subtile Hinweise zu sein.
"Ich sitz doch schon, du stehst da so ungemütlich rum."

Severus seufzte gottergeben und setzte sich an den Tisch. Wie unter einem Imperius stehend griff er nach dem Weinglas und prostete ihr zu.
"Iss was", sagte sie hilfsbereit, "du warst nicht beim Abendessen. Ich hab die ganze Zeit gewartet ..."
"Ich hatte zu tun", schnappte Severus.
"Ist schon klar", erwiderte Charity mit einem vieldeutigen Lächeln.
Sie schob die Muggelzeitung in seine Richtung.
"Da sind ein paar gute Ideen drin", sagte sie aufmunternd.
Vorsichtig blätterte er durch das bunte Magazin, das offensichtlich für Kinder oder Jugendliche gedacht war. Eine Seite war mit einigen Notizen versehen.

Es ging um irgendwelche Häuser, in denen Dinge verkauft wurden. Severus zog die Augenbrauen hoch. Er las dreimal den Rätseltext und dann noch einmal. Dann gab er auf.
"Was, bei Merlins schmutzigen Unterhosen hat das mit dem Stein der Weisen zu tun?"
Charity lachte.
"Das ist sozusagen meine Gasfalle, kombiniert mit deinem Talent für Zaubertränke."
Snape musste sich anstrengen um nicht allzu unwissend aus der Wäsche zu gucken.
Charity seufzte theatralisch.
"Muss man denn wirklich jedes Wort erklären?"
"Ich fürchte schon", entgegnete Snape und bemerkte, dass sein Glas bereits fast leer war.

"Also", begann Charity, "die Kaufhäuser ersetzen wir durch Zaubertränke. Zweimal Wein, dreimal Gift. Da nehmen wir Zyankali, da musst du dich gar nicht anstrengen, das gibt's ja in jeder Apotheke ..."
"Was kennst du denn für Apotheken?", schnappte Snape, aber Charity ignorierte seinen Einwurf.
"Dann brauchen wir zwei Tränke, die ein klein wenig komplizierter sind. Das ist dein Job. Hin zum Stein durch ein schwarzes Feuer und zurück durch Dämonenfeuer. Soweit alles klar?"
Severus schwirrte der Kopf. Er versuchte, sich zu konzentrieren.

Man kam also auf dem Weg zum Stein durch einen Raum mit einem Zaubertrankrätsel. Sobald man den Raum betrat, wurden die Türen durch Feuer verschlossen. Man kam hin zum Stein mit einem Trank durch ein schwarzes Feuer und zurück mitsamt dem Stein musste man einen weiteren Trank einnehmen um durch das Dämonenfeuer zu gelangen.
Gar keine üble Idee.

Die Zeit flog nur so dahin. Bücher stapelten sich auf Tisch und Boden. Eine Flasche Wein wurde leer und eine weitere. Pergament wurde vollgekritzelt, zusammengeknüllt, achtlos zu Boden geworfen. Von Brot und Käse blieben kaum ein paar Krumen und endlich war es vollbracht.

Das Rätsel in eine ansprechende Form gepresst. Die Tränke würde Severus am Wochenende ansetzen. Ein rundum gelungener Abend. Noch einmal las Severus den Text.

Die Gefahr liegt vor euch, die Rettung zurück,
Zwei von uns helfen, bei denen habt ihr Glück,
Eine von uns sieben, die bringt euch von dannen,
Eine andere führt den Trinker zurück durch die Flammen,
Zwei von uns enthalten nur guten Nesselwein,
Drei von uns sind Mörder, warten auf eure Pein.
Wählt eine, wenn ihr weiterwollt und nicht zerstäuben hier.
Euch helfen sollen Hinweis' — und davon ganze vier:
Erstens: so schlau das Gift versteckt mag sein,
's ist immer welches zur Linken vom guten Nesselwein;
Zweitens: die beiden an den Enden sind ganz verschied'ne Leut,
doch wenn ihr eine weitergeht, so ist keine davon euer Freund;
Drittens: wie ihr deutlich seht, sind alle verschieden groß.
Doch weder der Zwerg noch der Riese enthalten euren Tod.
Viertens: die zweite von links und die zweite von rechts werden Zwillinge sein,
so verschieden sie schauen auf den ersten Blick auch drein.

Severus war zufrieden. Charity grinste breit.
"Hast du mal auf die Uhr geschaut?", fragte sie ganz nebenbei.
Severus schüttelte den Kopf. Seine einzige Uhr stand auf dem Stuhl, der neben seinem Bett stand und als Nachttisch diente.
"Halb sieben", sagte Charity und Severus entgleisten sämtliche Gesichtszüge.
"Zeit fürs Frühstück!", setzte sie sehr gut gelaunt hinzu.
Severus stöhnte. Das durfte doch wirklich nicht wahr sein. Eben noch Zeit zum Duschen, ein Tee vielleicht, er hatte den Unterricht noch nicht vorbereitet ...
Und als hätte Charity seine Gedanken gelesen: "Nix da, du wirst was Ordentliches frühstücken ... als müsstest du für die erste Klasse was vorbereiten. Du erzählst denen, was du immer erzählst, so Ruhm in Flaschen und so und gut ist! Komm jetzt!"
Sie war schon halb zur Tür raus und Severus musste gegen seinen Willen lachen.

Der Zaubertrankunterricht bei den Erstklässlern war eine einzige Katastrophe. Severus konnte nicht sagen, woran es lag.
Er begann die Stunde mit der Verlesung der Namensliste. Als er bei diesem besonderen Namen angekommen war, hielt er inne.
"Ah, ja", sagte er leise. "Harry Potter. Unsere neue — Berühmtheit."
Er konnte hinterher nicht sagen, warum, aber es bereitete ihm eine innere Befriedigung, dass ein Teil der Klasse, Potter nicht zu mögen schien. Der kleine Malfoy und seine Freunde kicherten hinter vorgehaltenen Händen.

Severus fuhr fort.
"Ihr seid hier, um die schwierige Wissenschaft und exakte Kunst der Zaubertrankbrauerei zu lernen. Da es bei mir nur wenig albernes Zauberstabgefuchtel gibt, werden viele von euch kaum glauben, dass es sich um Zauberei handelt. Ich erwarte nicht, dass ihr wirklich die Schönheit des leise brodelnden Kessels mit seinen schimmernden Dämpfen zu sehen lernt, die zarte Macht der Flüssigkeiten, die durch die menschlichen Venen kriechen, den Kopf verhexen und die Sinne betören ..."
Er dachte an Charity und ihre Worte, derselbe Blödsinn wie immer.
"Ich kann euch lehren, wie man Ruhm in Flaschen füllt, Ansehen zusammenbraut, sogar den Tod verkorkt — sofern ihr kein großer Haufen Dummköpfe seid, wie ich sie sonst immer in der Klasse habe."

Immerhin wagte niemand, etwas zu sagen. Nur Potter, wer auch sonst, tauschte ein dummes Feixen mit dem neuen Wiesel. Ein Mädchen namens Hermine Granger, mit buschigen Haaren und vorstehenden Zähnen, welches daneben saß, machte Anstalten, ein wenig altklug zu tun.

"Potter!", sagte Snape plötzlich. "Was bekomme ich, wenn ich einem Wermutaufguss geriebene Affodillwurzel hinzufüge?"

Diesem Potter würde das freche Grinsen schon noch vergehen.

"Ich weiß es nicht, Sir", sagte Harry.

Natürlich nicht, woher auch?

"Tjaja — Ruhm ist eben nicht alles."
"Versuchen wir's noch mal, Potter. Wo würdest du suchen, wenn du mir einen Bezoar beschaffen müsstest?"

Diese Granger schien tatsächlich etwas zu wissen. Der kleine Malfoy und seine Freunde schüttelten sich vor Lachen.
"Ich weiß nicht, Sir."
"Dachtest sicher, es wäre nicht nötig, ein Buch aufzuschlagen, bevor du herkommst, nicht wahr, Potter?"

Ziemlich impertinent glotzte Potter ihn an und auch ohne die Anwendung von Legilimentik glaubte Snape, Verachtung und Dreistigkeit in diesem Blick zu erkennen. Das konnte Severus sich nicht bieten lassen.
"Was ist der Unterschied zwischen Eisenhut und Wolfswurz, Potter?"
Bei dieser Frage stand Hermine auf, ihre Fingerspitzen berührten jetzt fast die Kerkerdecke.
"Ich weiß nicht", sagte Harry leise. "Aber ich glaube, Hermine weiß es, also warum nehmen Sie nicht mal Hermine dran?"
Ein paar lachten. Snape allerdings war nicht erfreut.
"Setz dich", blaffte er Hermine an. "Zu deiner Information, Potter, Affodill und Wermut ergeben einen Schlaftrank, der so stark ist, dass er als Trank der Lebenden Toten bekannt ist. Ein Bezoar ist ein Stein aus dem Magen einer Ziege, der einen vor den meisten Giften rettet. Was Eisenhut und Wolfswurz angeht, so bezeichnen sie dieselbe Pflanze, auch bekannt unter dem Namen Aconitum. Noch Fragen? Und warum schreibt ihr euch das nicht auf?"
Dem folgte ein lautes Geraschel von Pergament und Federkielen. Durch den Lärm drang Snapes Stimme: "Und Gryffindor wird ein Punkt abgezogen, wegen dir, Potter."

Auch später wurde es nicht viel besser. Snape stellte die Schüler zu Paaren zusammen und ließ sie einen einfachen Trank zur Heilung von Furunkeln anrühren. Er huschte in seinem langen schwarzen Umhang zwischen den Tischen umher, sah zu, wie sie getrocknete Nesseln abwogen und Giftzähne von Schlangen zermahlten. Bei fast allen gab es etwas auszusetzen, außer bei Malfoy, der einen echten Lichtblick darstellte.

Ganz im Gegensatz zu Neville Longbottom, dem es tatsächlich gelang, die Stachelschweinpastillen zuzufügen, bevor er den Kessel vom Feuer genommen hatte. Eine satte Kesselexplosion war die Folge. Mit lautem Zischen erfüllten giftgrüne Rauchwolken den Kerker. Der Kessel war zu einem unförmigen Klumpen zerschmolzen und das Gebräu sickerte in den Boden und brannte Löcher in die Schuhe. Im Nu stand die ganze Klasse auf den Stühlen, während Neville, der sich mit dem Gebräu voll gespritzt hatte, als der Kessel zersprang, vor Schmerz stöhnte, denn überall auf seinen Armen und Beinen brachen zornrote Furunkel auf.

Severus war außer sich. Potter hatte genau neben Neville gestanden und offensichtlich einfach zugeguckt, wie Neville seinen Trank verhunzte. In Kauf nehmend, dass ein Mitschüler sich ernsthaft verletzte. Das war doch wirklich unfassbar.
Nachdem Snape dafür gesorgt hatte, dass Neville in den Krankenflügel gebracht wurde, zog er Gryffindor wegen Potter gleich noch einen Hauspunkt ab.
Ein solches Verhalten würde er nicht dulden.
Dass Harry sich nicht einmal verteidigte, sondern ihn nur doof anstierte bestärkte seinen Verdacht, dass er mit Absicht Neville nicht auf seinen Fehler hingewiesen hatte, nur um selber besser dazustehen.

Harry war wirklich genau wie sein Vater. Nicht nur vom Äußeren her. Auch das Benehmen!
Snape fühlte sich auf unangenehme Weise um Jahre zurückversetzt. Er würde sich in Acht nehmen müssen, dass er Harry nicht als James ansprach.
Worauf er alles achten musste.
Im Lehrerzimmer weder quieken noch stottern ...
In den Klassen auf die Namen achten — er würde einfach Potter sagen. Ganz einfach.

Innerlich machte Severus drei Kreuze, als die Doppelstunde endlich vorbei war. Die Müdigkeit machte ihn träge, aber er war dennoch so aufgewühlt, dass er lieber einen Spaziergang machte, bevor er den Schlaf der letzten Nacht nachholen würde.
Mit wehenden Roben, gerade so als hätte er ein Ziel verließ er das Schloss durch das Hauptportal.
Hagrid saß auf der Bank vor seiner Hütte und bewunderte einen riesigen Kürbis, der sich knallorange aus dem grünen Gewirr, das einen Garten darstellen sollte, abhob.

"Hey, Severus, was machst'n für'n Gesicht?", rief ihm der Halbriese gleich entgegen.
"Tee?", setzte er nach einem kurzen Augenblick hinzu.
Beinahe dankbar nickte Snape und folgte in das schummrige, überheizte Dunkel der Hütte.
"Ich musste Fluffy anketten. Gefällt mir gar nicht. Er kommt jetzt nicht mehr bis zur Tür. Dafür hat er jetzt richtig schlechte Laune."
"War der etwa vorher nicht angebunden?"
Snape gefror noch nachträglich das Blut in den Adern, wenn er daran dachte, wie unbedarft er in den Korridor gelaufen war. Nicht auszudenken, wenn ein Schüler ...

"Is doch auch nur'n Mensch, so'n Zerberus. Muss sich doch mal bewegen."
"Muss er?"
"Klar", erklärte Hagrid, "da gibt's Vorschriften für und Verordnungen ..."

Im nächsten Moment flog die Tür auf und Minerva stand im Rahmen, den Mund zu einem schmalen Strich zusammengepresst.
"Hier muss mal frische Luft rein, da erstickt man ja!"
Fang, der Saurüde, der in seinem Körbchen geschlafen hatte, blinzelte träge und gähnte. Severus erschauerte. Gleich würde das Tier wieder den Kopf in seinen Schoß legen und ihn vollsabbern.
"Ich hab mir die Stundengläser mal angesehen", ohne zu fragen goss Minerva sich eine Riesentasse Tee ein und setzte sich mit an den Tisch.

"Un? Wer liegt vorn?", fragte Hagrid mit echtem Interesse.
"Darum geht's mir weniger", giftete Minerva.
Logisch. Slytherin führte mit komfortablem Abstand den Wettstreit um den Hauspokal an.
"Aber ich könnte wetten, dass Gryffindor seit der heutigen Stunde für Zaubertränke zwei Punkte fehlen. Mich würde brennend interessieren, wie es dazu kommen konnte."

Severus feixte.
"Das Übliche", ölte er, "Respektlosigkeit, Frechheit, Anmaßung, Faulheit ..."
"Och, erzähl mir doch nix, das sind zehnjährige Kinder. Außerdem hatte ich die Klasse auch schon. Ich finde sie alles in allem recht angenehm."
Herausfordernd starrte sie Severus an.
"Elf, sie sind schon elf", erwiderte dieser.
Hagrid schaute verdutzt von Einem zum Anderen. Fang gähnte erneut und streckte sich in seinem Körbchen, räkelte sich, bis er auf dem Rücken lag und jetzt laut vor sich hin schnarchte.

"Der kleine Longbottom ist im Krankenflügel. Wie genau kam es dazu?"
"Das Übliche. Ignoranz. Dummheit. Überheblichkeit. Potter stand daneben und hat nicht eingegriffen. Mit Absicht!", schnappte Severus.
"Neville hat mit Seamus Finnigan zusammen gebraut, was hatte Potter damit zu tun? Bist du nicht dafür zuständig, die Klasse zu beaufsichtigen?"
Severus kochte. Er konnte seine Augen wirklich nicht überall haben. Immerhin wollte er der Klasse gerade zeigen, wie perfekt Draco Malfoy seine Wellhornschnecke geschmort hatte, da war das Inferno losgebrochen. Im Nachhinein betrachtet, hatte Potter den optimalen Zeitpunkt erwischt um das größtmögliche Chaos zu stiften.
Dreist, arrogant. Genau wie sein Vater.
Die Miniaturausgabe von James Potter.
Die Miniaturausgabe von dem James Potter, der ihn kopfunter vom Baum hatte baumeln lassen.

Minervas Gesichtsausdruck veränderte sich. Snape hätte nicht sagen können, was er nun lesen konnte, in ihren Augen. Ein Verstehen vielleicht. Aber kein Verständnis.
Ein Schmerz, aber kein Mitleid.
Snape fühlte sich ertappt.
Aber auch im Recht.

"Ich soll dir übrigens von Albus ausrichten, dass er dich sprechen möchte. Er erwartet dich in seinem Büro", sagte Minerva leise.
Das auch noch. Wie schön!
Snape erhob sich wortlos und verließ die Hütte. Beinahe hätte er sich dazu hinreißen lassen, den faulen, schlafenden Hund noch den Bauch zu kraulen. Statt dessen ballte er die Hände zu Fäusten und machte sich auf den Weg zu Albus.

Übelkeit überkam Severus auf dem Weg zum Büro. Wann würde das aufhören, dass er sich fühlte wie ein Schuljunge, der zum Rapport bestellt wurde?
Das hatte er nicht nötig. Und nicht verdient.

Ohne dass Snape etwas sagen musste, schwangen die Gargoyles zur Seite und gaben den Weg zur Treppe frei. Er atmete tief durch bevor er das Büro betrat.
Albus las in der neuesten Ausgabe von Verwandlung Heute und beachtete Snape zunächst nicht. Der wurde immer wütender und begann ruhelos vor dem ausladenden Schreibtisch des Direktors auf und abzuschreiten, die Arme vor der Brust verschränkt.

"Nun, was halten Sie von Ihrem Schutzbefohlenen?", fragte Albus ohne von seiner Lektüre aufzublicken.
Severus schnaubte unwillig.
Schutz? Der Bengel brauchte keinen Schutz.

"Ihre professionelle, unvoreingenommene Meinung möchte ich hören", setzte der Direktor hinzu.
Snape versuchte, sich zu konzentrieren, dabei schritt er weiter vor Dumbledore auf und ab.
"— mittelmäßig, arrogant wie sein Vater, einer, der entschlossen Regeln verletzt, der es genießt, unversehens berühmt zu sein, der Aufmerksamkeit heischt und unverschämt ist —"
"Man sieht nur, was man sehen will, Severus", sagte Dumbledore, ohne von seiner Ausgabe von
Verwandlung Heute aufzublicken. "Andere Lehrer berichten, dass der Junge bescheiden, liebenswürdig und einigermaßen talentiert ist. Ich persönlich halte ihn für ein einnehmendes Kind."
Dumbledore blätterte eine Seite um und sagte, ohne den Blick zu heben: "Behalten Sie Quirrell im Auge, ja?"

Severus musste sich immens beherrschen, um nicht eins der storchenbeinigen Tischchen durch den Raum zu treten.
Albus machte ihn gerade rasend mit seiner ignoranten Art. Severus hatte nicht übel Lust, ihm die Zeitschrift aus der Hand zu reißen und sie ihm auf den Kopf zu hauen.
Plötzlich spürte er mehr als dass er es sah, dass der Direktor ihn nun ansah, mit seinen stechend blauen Augen, als wolle er ihn röntgen. Er selbst hörte nun auf, herumzurennen wie ein Raubtier im Käfig.

"Setzen Sie sich bitte", wies er Snape an und deutete auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch.
Einen Moment zögerte der jüngere Mann, dann aber kam er der Aufforderung nach. Trotzig. Aufgebracht.
Albus seufzte leise und lächelte, was Snape nicht unbedingt beruhigte. Dem rauschte das Blut in den Ohren. Er sah, dass seine Hände zitterten.
"Sie müssen Ihre Gefühle unter Kontrolle bringen. Das ist unabdingbar. Haben Sie mich verstanden?"
Severus nickte steif, ohne die rechte Überzeugung aufbringen zu können.

Jetzt war es der Direktor, der sich erhob und ans Fenster trat. Albus schaute hinaus auf den verbotenen Wald und strich sich bedächtig über den Bart. Severus konnte Albus Gesicht im Spiegelbild der Glasscheibe erahnen. Er beruhigte sich langsam.
"Gut", sagte Albus, "sehr gut. Sie haben doch schon ein wenig Erfahrung mit Okklumentik."
Das war keine Frage und Severus nickte.
"Ein weitgehend unbekannter, aber durchaus nützlicher Zweig der Magie. Ich möchte, dass Sie sich wieder damit befassen. Es wird notwendig sein, dass Sie Ihre Fähigkeiten in dieser Hinsicht verbessern. Man kann in Ihnen lesen wie in einem offenen Buch. Sie selbst wollten nicht, dass irgendjemand den wahren Grund für Ihre Anwesenheit erfährt. Daran hat sich doch nichts geändert, oder?"

"Nein ... nein", sagte Snape, ohne wirklich zu wissen, ob das der Wahrheit entsprach.
"Nein, ich werde ..."
Albus wandte sich ihm wieder zu. Seine Miene war unergründlich.
"Jeden Abend vor dem Einschlafen lösen Sie Ihren Geist von allen Gefühlen; machen Sie ihn leer, machen Sie ihn frei von allem und finden Sie Ruhe!"
Snape nickte.
"Sie wissen, dass ich es merken werde, wenn Sie nicht geübt haben?", fragte Albus mit einem Lächeln.
Snape nickte abermals und war entlassen.

Erst im Kerker angekommen merkte Severus wie verdammt müde er war. Schon unter der Dusche fielen ihm die Augen zu und noch mit feuchten Haaren fiel er wie tot ins Bett. Es war erst früher Nachmittag, aber er war es einfach nicht gewöhnt, die Nächte durchzumachen.
Natürlich wollte er Albus' Ansinnen nachkommen, seinen Geist von allen Emotionen zu lösen, das wurde aber deutlich dadurch erschwert, dass er schon eingeschlafen war als sein Kopf so gerade eben das Kissen berührt hatte.

Die Folge davon war, dass er von James Potter träumte, von einem Werwolf, von Lily. Er durchlebte noch einmal die Aufnahmezeremonie in den Kreis der Todesser, noch einmal die Nacht um Halloween 1981 und er erwachte schweißgebadet. Außer Atem und zittrig.
Es war ihm zu warm unter der Decke und trotzdem fröstelte er. Ein Blick auf den Wecker neben seinem Bett sagte ihm, dass er eben noch etwas zu Abend essen könnte, wenn er auf eine heiße Dusche verzichtete. Er überlegte, setzte sich auf. Das T-Shirt klebte ihm am Rücken, die Haare hingen ihm wirr ins Gesicht.

Er warf sich seine Robe über und seinen Umhang und machte sich auf den Weg in die Große Halle. Einige Erstklässler seines Hauses kamen ihm auf der Treppe entgegen. Sie waren wohl auf dem Weg in ihren Schlafsaal. Verschüchtert drückten sie sich an der Wand entlang an ihm vorbei. Wagten eben kurz und unterwürfig zu grüßen und weg waren sie. Severus musste sich ein Grinsen verkneifen.

In der Großen Halle angekommen, gefror Snape das Beinahegrinsen auf dem Gesicht. Die Haustische der Schüler hatten sich so gut wie geleert, am Lehrertisch jedoch saßen ausgerechnet noch Sibyll Trelawney und Quirinius Quirrell und schienen sich glänzend zu unterhalten. Severus setzte sich demonstrativ soweit entfernt wie möglich hin, musste aber nach einiger Zeit feststellen, dass sich überhaupt niemand für ihn interessierte.
Völlig unbehelligt aß er eine kleine Portion Mash and Pie und trank etwas Kräutertee, der nur noch lauwarm war.
Bald verließen die restlichen Schüler und auch Sibyll und Quirinius die Große Halle, ohne ein Wort und Severus war allein mit der Frage, ob Vanillepudding zum Nachtisch oder Kuchen.
Severus entschied sich für weder noch und besah sich die verzauberte Decke der Halle, die schwebenden Kerzen und die merkwürdige Stille.

Was war nur los mit ihm? Er sollte es genießen! Das Wochenende lag auch noch vor ihm. Was war nur los?

Träge und in Gedanken machte er sich auf den Weg auf den Astronomieturm. Es war eine sternklare Nacht.
Niemand begegnete ihm in den Gängen. Noch nicht einmal Peeves oder Mrs Norris. Es war schon beinahe gespenstisch.
Auf dem Turm war es kühl und windig. Severus legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Das Rauschen des Windes. Weit entfernt und leise aus dem Verbotenen Wald der Schrei eines Tieres.
Severus atmete tief durch. Die Luft schmeckte nach Herbst und Regen. Der Sommer ging zu Ende. Etwas lag in der Luft. Etwas war nicht in Ordnung. Ganz und gar nicht.

Als er nach einer ganzen Weile die Augen öffnete, war es Charity, die auf der breiten Brustwehr des Turmes saß und ihn anlächelte. Beinahe hätte er sich erschrocken. Er hatte sie nicht kommen hören.
"Ich sitze die ganze Zeit schon hier. Du hast mich nicht bemerkt", erklärte sie.
War er wirklich so sehr in Gedanken gewesen? Wortlos trat er neben sie, legte die Arme auf dem kühlen Stein des alten Gemäuers und starrte auf das Dunkel des Waldes.
Wieder schrie ein Tier. Thestrale kreisten.
Dann landete direkt neben Severus eine sehr elegante Schleiereule und streckte ihm ein Bein mit einer kleinen Pergamentrolle hin.
Severus war erstaunt, ließ sich aber nichts anmerken und entfernte den Brief vom Bein der Eule. Dann kramte er in den Taschen seiner Robe und suchte nach Eulenkeksen, obwohl er eigentlich wusste, dass er nichts dabei hatte. Die Eule wartete nicht. Sie hüpfte an den Rand der Mauer, stieß sich ab und entfernte sich schnell mit langen Flügelschlägen.
Ohne auf Charity zu achten entrollte Severus das Pergament und begann zu lesen.

Severus Snape
Hogwarts
Astronomieturm

Lieber Severus,
Mir kam zu Ohren, dass die erste Stunde Zaubertränke für meinen Draco das reine Vergnügen war. Es wäre mir nun ein Vergnügen, seinen Lehrer am Donnerstag, den 12. September, um 19 Uhr auf Malfoy Manor zum Dinner begrüßen zu dürfen, um aus erster Hand zu erfahren, ob die Begeisterung auf Gegenseitigkeit beruht.

Mit freundlichen Grüßen

Lucius Malfoy

Severus ließ gottergeben das Pergament sinken. Er würde sich wohl kaum drücken können.
"Was Unangenehmes?", fragte Charity.
"Nein, eigentlich nicht. Der Vater eines Schülers hat mich zum Essen eingeladen."
"Oh, verspricht er sich was davon?"
Snape lachte. Ohne zu wissen, um wen es ging hatte Charity gleich den richtigen Riecher.
"Ja, ich denke schon. Kannst du dich noch an Lucius Malfoy erinnern? Der war mal Schulsprecher."
Charity schüttelte den Kopf, dann hellte sich plötzlich ihre Miene auf.
"Doch warte, so ein blonder, aalglatter. War der nicht später im Gefolge von Du-weißt-schon-wem?"
"Ja, genau", bestätigte Severus, "stand unter einem Imperius ..."
Charity machte ein abfälliges Geräusch. Severus musste lächeln.
"Ich habe ihn in der Winkelgasse getroffen als ich Quirinius Quirrell abgeholt habe. Wir hatten und fast zehn Jahre nicht gesehen. Jetzt geht sein Sohn hier zur Schule."

Beide schwiegen eine ganze Zeit.
"Komisch", sagte Charity dann.
"Was?"
"Na, alles. Dieses ganze Timing. Der Stein der Weisen hier, der Junge, der überlebt hat auch hier. Ehemalige Todesser kriechen aus allen Löchern ..."
"Ich bin aus keinem Loch gekrochen", erwiderte Snape aufgebracht.
Charity lachte.
"Dich habe ich auch gar nicht gemeint", sagte sie.
"Nein?"
"Nein."

Wirklich nicht? Severus hatte ein merkwürdiges Gefühl im Bauch als er sich endlich in seine Kerker verabschiedete.
Verzweifelt versuchte er, vor dem Einschlafen, dieses Gefühl loszuwerden. Aber das ist gar nicht so einfach, wenn man dieses Gefühl noch nicht mal benennen kann.
Er schlief unruhig.
Wie er immer schlief.

A/N

Wie immer dreist abgeschrieben: Längere Originalzitate kursiv, aus dem Stein der Weisen und den Heiligtümern des Todes.