Kapitel 21 – Der unergründliche Raum

Ein paar Wochen später kamen Harry, Ron und ich nach dem Abendessen in den Gemeinschaftsraum und fanden eine aufgeregte Traube an Sechstklässlern vor dem Schwarzen Brett. Dort stand der Termin der Apparierprüfung: der 21. April. Diese Neuigkeit versetzte Ron in leichte Panik, da er es bisher noch nicht geschafft hatte zu apparieren (mir war es mittlerweile ein paar Mal gelungen, aber es war echt kein schönes Gefühl), und Harry war ein wenig enttäuscht, da er bis dahin noch nicht 17 sein würde und daher nicht an der Prüfung teilnehmen durfte.

Wir setzten uns auf ein Sofa und während Ron den Aufsatz für Severus zu Ende schrieb, las ich in einem Buch und Harry hatte natürlich wieder nur Augen für das Buch des Halbblutprinzen. Wie konnte ich ihm noch verdeutlichen, dass er mit dem Ding vorsichtig sein musste, ohne ihm zu verraten, woher ich das so genau wusste?

„Dadrin wirst du nicht fündig werden", sagte ich ihm. Harry versuchte, eine Lösung für sein Slughorn-Problem zu finden, aber er ging die Sache ganz falsch an. Wenn man nur einen Trank bräuchte, hätte Dumbledore das auch alleine hinbekommen.

„Fang nicht schon wieder damit an", meckerte Harry. „Wenn der Prinz nicht gewesen wäre, würde Ron jetzt nicht hier sitzen." Welche Ironie.

Er würde hier sitzen, wenn du in unserem ersten Schuljahr bei Snape aufgepasst hättest." Wie konnte Harry den Halbblutprinzen nur so verehren und Severus so hassen?

Wie schreibt man ‚archaisch'?", meldete sich Ron dazwischen.

Ich überblickte seinen Essay und fand lauter Rechtschreibfehler. Schnell stellte sich heraus, dass seine Rechtschreibcheckerfeder von Fred und George seine Wirkung nachgelassen hatte.

Sag bloß nicht, dass ich das Ganze noch mal abschreiben muss!" Ron blickte so verzweifelt, dass ich nachgab. Es war ja nicht seine Schuld und der Aufsatz selbst war gar nicht so schlecht. Für Rons Verhältnisse.

Schon gut, das kriegen wir hin", lächelte ich und nutzte meinen Zauberstab, um die Wörter wieder richtigzuschreiben.

Ich liebe dich, Hermine", sagte Ron erleichtert und ich lief rot an. So etwas hatte noch nie jemand zu mir gesagt, nicht mal im Scherz.

Lass das bloß nicht Lavender hören", sagte ich und Ron überlegte mit Harry, wie er am besten mit Lavender Schluss machen konnte.

Eine halbe Stunde später schrieb Ron seinen Aufsatz zu Ende und Harry klappte enttäuscht das Buch des Halbblutprinzen zu. Na endlich.

Plötzlich ertönte ein lauter Knall und ich schrie auf. Kreacher und Dobby standen vor uns und wollten Harry Bericht erstatten.

Was geht da vor, Harry?", wollte ich wissen und er erzählte, dass er die beiden beauftragt hatte, Draco Malfoy zu beschatten.

Dobby hat eine Woche lang nicht geschlafen", verkündete der Hauself stolz.

„Aber, aber", stotterte ich. Vielleicht war es an der Zeit, .R. wiederauferstehen zu lassen…

Harry machte schnell klar, dass die Hauselfen natürlich schlafen durften, und forderte dann ihren Bericht. Zwischen Kreachers fast schon liebevollen Worten über die vornehme, reinblütige Art Malfoys und Dobbys Versuchen, sich selbst zu verletzen, weil er es immer noch schwierig fand, schlecht über seinen alten Herrn zu sprechen, fanden wir heraus, dass Malfoy Zeit im Raum der Wünsche verbrachte. Harry überlegte, wie wir dort hineinkommen konnten, um zu sehen, was Malfoy trieb, aber ich musste ihm widersprechen.

„Ich glaube, das gehört zur Magie dieses Raumes. Wenn du willst, dass er unaufspürbar ist, dann ist er es auch."

Nachdem wir Dobby und Kreacher für ihre Arbeit gedankt hatten (auch wenn Kreacher mich wieder ein Schlammblut nannte) und die beiden verschwunden waren, grübelten wir darüber, was Malfoy wohl vorhatte. Und dann hatte Harry die geniale Idee, dass Malfoy Vielsafttrank verwendete, um Crabbe und Goyle zu verwandeln, damit es so aussah, dass immer andere Schüler oder Schülerinnen vor dem Raum Wache standen.

„Wundert mich, dass sie das über sich ergehen lassen", sagte Ron, „und sich sogar in Mädchen verwandeln. Ich frag mich, warum sie ihm nicht sagen, dass er sie mal kreuzweise kann."

„Also, die werden sich hüten, wenn er ihnen sein Dunkles Mal gezeigt hat, oder?", meinte Harry.

Ich verdrehte die Augen – nicht diese Theorie schon wieder. „Du meinst das Dunkle Mal, von dem wir nicht wissen, ob es existiert?" Ob Severus das wohl wusste? Da er selbst in Voldemorts Kreis der Todesser war, müsste er doch eigentlich wissen, ob Draco jetzt auch dazugehörte, oder? Aber das war sicher wieder ein Geheimnis, dass er mir nicht verraten durfte…

Beim Gute-Nacht-Sagen erinnerte ich Harry daran, dass er sich lieber auf Slughorn konzentrieren sollte. Als ich im Bett lag, dachte ich an Severus. Ich vermisste ihn, wenn ich ihn den Tag nicht gesehen oder gesprochen hatte. Aber ich wollte ihn auch nicht mit meiner ständigen Anwesenheit nerven.

Ich erinnerte mich plötzlich an den Tagtraum, den Fred und George mir im Sommer geschenkt hatten, und holte ihn aus meiner Nachttischschublade. Eine halbe Stunde etwas Schönes denken? Ich zog die Vorhänge um mein Bett, nahm den Trank und träumte, wie Severus und ich bei schönstem Wetter draußen am See unter einem Baum lagen und lasen, während er mir sanft durchs Haar strich. Lächelnd schlief ich ein.


Am nächsten Morgen beim Frühstück war Harry immer noch besessen von Malfoy anstatt sich um Slughorn zu kümmern und im Tagespropheten stand, dass Mundungus nach versuchtem Einbruch (indem er sich als Inferius ausgegeben hatte) nach Askaban gebracht worden war. Ich hoffte nur, dass er nichts vom Orden ausplauderte…

In Verteidigung gegen die Dunklen Künste fiel es mir schwer, Severus nicht die ganze Zeit anzulächeln nach meinem Tagraum gestern Abend, und ich zwang mich stattdessen, mich erneut in das Kapitel für diese Stunde einzulesen.

Harry kam herein, als die meisten anderen gerade ihre Sachen auspackten.

Wieder mal zu spät, Potter", scharrte Severus. „Zehn Punkte Abzug für Gryffindor."

Ich gab ihm einen bösen Blick, aber er sah mich nicht an. Warum nur hatte er es immer so auf Harry abgesehen?

Doch es kam noch schlimmer. Als Seamus danach fragte, wie man einen Inferius von einem Gespenst unterschied, fragte Severus Harry danach (da dieser kurz mit mir und Ron getuschelt hatte).

Ähm – also – Gespenster sind durchsichtig", begann Harry, was auf jeden Fall richtig war, wenn auch ein wenig unartikuliert.

Oh, sehr gut", meinte Severus. „Ja, man kann ohne weiteres feststellen, dass annähernd sechs Jahre magischer Ausbildung bei Ihnen nicht verschwendet waren, Potter. Gespenster sind durchsichtig."

Ich blickte ihn wieder böse an.

Harry versuchte, sich nicht beirren zu lassen. „Ja, Gespenster sind durchsichtig, aber Inferi sind tote Körper, oder nicht? Also müssen sie fest sein." Das war vollkommen richtig.

So viel hätte uns auch ein Fünfjähriger sagen können", grinste Severus und Harry ballte die Hände zu Fäusten.

Also jetzt reichte es langsam!

Der Inferius ist eine Leiche", erklärte Severus in typischer Lehrermanier, „die durch den Zauber eines schwarzen Magiers reanimiert wurde. Er lebt nicht, sondern wird nur wie eine Marionette eingesetzt, um die Befehle des Zauberers auszuführen. Ein Gespenst, und ich hoffe, das ist Ihnen inzwischen allen klar, ist die Spur, die eine verstorbene Seele auf der Erde hinterlässt… und natürlich, wie Potter uns so weise mitteilt, durchsichtig."

Ich knirschte mit den Zähnen. So oder ähnlich hätte ich es auch erklärt. Was nicht bedeutete, dass Harry falsch war.

Also, was Harry gesagt hat, ist absolut brauchbar, wenn wir die voneinander unterscheiden wollen!", verteidigte Ron seinen Kumpel. „Wenn wir in einer dunklen Gasse einem über den Weg laufen, müssen wir doch nur mal kurz nachschauen, ob er fest ist, und müssen nicht fragen: ‚Verzeihung, sind Sie die Spur einer verstorbenen Seele?'"

Das brachte die Klasse zum Kichern, wovon sich Severus nicht beeindrucken ließ.

Noch einmal zehn Punkte Abzug für Gryffindor. Ich hätte nichts Feinsinnigeres von Ihnen erwartet, Ronald Weasley, von dem Jungen, der so fest ist, dass er keine paar Zentimeter durch den Raum apparieren kann."

„Also, das geht jetzt aber wirklich zu weit!", sagte ich laut und die Klasse zog kollektiv die Luft ein. Die Worte hatten unerlaubt meinen Mund verlassen, aber ich nahm sie nicht zurück, sondern sah Severus starr in die Augen.

Er stellte sich bedrohlich vor mich, doch mein schneller Herzschlag hatte andere Gründe. „Und das können Sie so viel besser beurteilen, Miss Granger?", sagte er in seiner leisen Stimme, die nichts Gutes verhieß.

Ich stand auf, sodass unsere Köpfe nur wenige Zentimeter auseinander waren. „Sie haben kein Recht, jemanden so niederzumachen im Unterricht. Wir Schüler dürfen Fehler machen, damit wir lernen können."

Ich wartete nervös auf seine Antwort. Das würde viel Punktabzug geben und eine deftige Strafe, doch es kam nichts. Er sagte nichts, sondern starrte mich nur an, sein Mund leicht geöffnet, seine Augen zuckten über mein Gesicht und an seiner Halsschlagader konnte ich sehen, dass sein Herzschlag sich ebenfalls erhöht hatte.

Plötzlich riss er sich von mir und drehte sich um. Als er vorne stand, sagte er mit tiefer Stimme: „Miss Granger, Sie bleiben nach dem Unterricht länger, damit wir Ihre Strafe bestimmen können." Er lächelte diabolisch, aber ich sah, dass es nicht echt war.

Ich setzte mich wieder und wurde rot; für einen Moment hatte ich geglaubt, er würde mich küssen, aber das konnte ja nicht sein. Ich hoffte, dass die Klasse glaubte, meine roten Wangen stammten davon, dass ich mich gerade mit Snape angelegt hatte.

Schlagen Sie nun Ihre Bücher auf Seite 210 auf und lesen Sie die ersten beiden Abschnitte über den Cruciatus-Fluch…"

Währenddessen bekam ich immer wieder Seitenblicke von Harry.

Nach dem Lesen mussten wir ein paar Sprüche wiederholen und in dem allgemeinen Gemurmel konnte Harry endlich mit mir reden.

„Was war das denn?", flüsterte er.

Ich zuckte mit den Schultern. „Es war an der Zeit, ihm mal die Meinung zu sagen."

„Ja, aber... aber du?"

„Ja, auch ich kann das", fauchte ich, wobei ich in meinem Kopf aber hinzufügte, dass ich mich das vermutlich nicht getraut hätte, wenn Severus und ich nicht befreundet wären. Ich wusste, dass er nichts Schlimmes machen würde.

„Aber Snape", fuhr Harry fort, anscheinend noch immer verdattert. „Du hast ihn völlig aus dem Konzept gebracht."

„Ach was", winkte ich ab, doch vermied es, Harry anzusehen.

„Doch. Kein Nachsitzen, nicht einmal Punktabzug."

„Das kommt doch bestimmt gleich noch." Ich sah zur Uhr. Nur noch zehn Minuten Unterrichtszeit. „Und dann aber richtig. Er will sicher nur, dass ich brodele." Ich überlegte wirklich schon die ganze Zeit, ob er mir jetzt wirklich eine Strafe geben würde...

Nach der Stunde verschwand die Klasse wie immer schnell und ich blieb zurück.

Severus stand vorne gegen sein Pult gelehnt und sah mich wütend mit verschränkten Armen an. „Was sollte das denn eben?"

„Das könnte ich dich auch fragen", erwiderte ich in demselben Ton. Ich hatte keine Lust nachzugeben, wenn ich Recht hatte. „Ich verstehe diesen Hass auf Harry einfach nicht. Seit dem ersten Schuljahr machst du ihn nieder. Und alle Gryffindors gleich dazu. Ron und mich besonders und ich verstehe es einfach nicht, wie man als Lehrer so parteiisch sein kann!"

Seine Haltung erschlaffte und nun sah er eher enttäuscht als wütend aus. „Du hast es wirklich nicht begriffen, oder?"

Ich sagte nichts, sondern fühlte mich dumm.

Er stieß sich vom Pult weg und ging zu mir. „Hermine, ich muss so handeln", erklärte er in beschwichtigendem Ton. „Als Todesser kann ich nicht nett sein zu Harry Potter oder seinen Freunden oder den Gryffindors."

„Oh", machte ich nur. Innerlich klatschte ich mir gegen die Stirn.

„Ich kann Potter trotzdem nicht leiden", gab er zu, „denn er sieht aus wie sein Vater, der mir mein Schulleben zur Hölle gemacht hat, aber unter normalen Umständen könnte ich das unterdrücken. In der aktuellen Lage, besonders mit Slytherins im Klassenraum, kann ich keine Schwäche zeigen. Ich muss euch niedermachen und Punkte abziehen und Slytherin bevorzugen, sonst..." Er ließ es offen, aber nachdem ich ihn verprügelt gefunden hatte, wusste ich es.

Meine Wangen färbten sich rot vor Scham. „Es tut mir leid", murmelte ich. „Das hab ich nicht... bedacht."

„Das ist verständlich, weil du ja emotional selbst betroffen bist, da kann die Logik auch mal streiken. Aber bitte sieh in Zukunft davon ab, dich für die anderen einzusetzen, ja? Ich möchte dir nämlich nicht wehtun."

Ich nickte, immer noch geschockt von dieser Erkenntnis.

„Als Strafe schlage ich vor, dass du mir beim Aufräumen meiner Vorratskammer hilfst. Das ist nämlich sowieso nötig."

Ich lächelte ihn an. Dabei hätte ich ihm sowieso geholfen.

„Aber bitte male es deinen Freunden viel schlimmer aus – ich habe schließlich einen Ruf zu verlieren."

Ich hatte das Gefühl, etwas wieder gutmachen zu müssen, daher stellte ich mich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange. „Danke", flüsterte ich und ging dann schnell, doch sein halb geschlossener Blick blieb mir im Kopf.


Am nächsten Sonntag gingen Ron und ich zu einem Extraapparierkurs, der uns auf die Prüfung in zwei Wochen vorbereiten sollte. Ich hatte Harry gesagt, er solle die Zeit nutzen, weiter mit Slughorn zu reden, aber ich stieß auf taube Ohren.

Es war angenehm, mal wieder in Hogsmeade zu sein und auch mal draußen apparieren zu dürfen, und während ich es langsam mühelos schaffte, konnte auch Ron es endlich hinkriegen, auch wenn er sein Ziel ein wenig verfehlte. Aber es war ein Anfang.

Die Hauslehrer waren heute leider nicht dabei, weil wir nur eine kleine Gruppe waren, daher sah ich Severus nicht.

Wir gingen kurz vor dem Mittagessen zurück und aßen schon in der Großen Halle, als Harry dazustieß und wir ihm von unserem Vormittag erzählten.

Harry hatte mal wieder seine Zeit vor dem Raum der Wünsch verbracht – anstatt mir einfach mal zu glauben… – und Tonks getroffen, die immer noch traurig war wegen Sirius' Tod.

Harry überlegte, ob Tonks wohl in Sirius verliebt gewesen war. Ich stimmte zwar zu, dass es möglich war, aber irgendwie passte ihr Verhalten nicht ganz dazu…